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Äthiopien: Eine Kathedrale des Friedens in Tigray

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Von: Johannes Dieterich

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Romanische Gewölbebögen, Fresken, Porträts biblischer Persönlichkeiten: ein faszinierender Ort.
Romanische Gewölbebögen, Fresken, Porträts biblischer Persönlichkeiten: ein faszinierender Ort. © Johannes Dieterich

Wer in der umkämpften äthiopischen Provinz den Allmächtigen anbeten will, klettert wagemutig auf 2600 Meter Höhe zu einer spektakulären Kirche mitten im Fels. Unser Korrespondent hat den Aufstieg gewagt – und in weltliche Abgründe geschaut

Der Allmächtige macht es seinen Gästen nicht gerade leicht. Nach einem einstündigen Aufstieg an einer der schroffen Sandsteinformationen, die im Zentrum der äthiopischen Tigray-Provinz wie gigantische Zähne in den Himmel ragen, erreichen wir eine Felswand, an der es außer Klettern kein Vorbeikommen gibt. Kiday Yohannes hat in weiser Voraussicht ein Seil mitgebracht, mit dem er seinen ausländischen Gast absichern kann – er selbst klettert ungesichert voraus. Der orthodoxe Geistliche kennt jede Kuhle, in der seine Hände oder Füße Halt finden können, schließlich hat er den Weg schon tausende Male zurückgelegt – in der Hochsaison des Tourismus‘ bis zu drei Mal am Tag. Tourist:innen hat der orthodoxe Priester allerdings seit mehr als zwei Jahren nicht mehr gesehen. Dafür einen Krieg, zahllose Soldaten und viele Male den Tod.

Wer sich hier hinaufwagt, darf nicht höhenkrank sein

Zum Klettern müssen wir die Schuhe ausziehen, weil der Boden, den wir betreten, heilig ist. Auch nach der Felswand geht es über Gesteinsbrocken und Sturzrinnen hinweg weiter bergauf. Erst auf rund 2600 Metern Höhe erreichen wir einen Kamm zwischen zwei Felszähnen, auf dem ein kleines gemauertes Gebäude steht: der Tauf- und Empfangsraum der „Abuna Yemata“-Kirche, erklärt Priester Kiday. Auf beiden Seiten des Kamms geht es Hunderte von Metern in die Tiefe: Kein Ort für Kleinmütige oder Höhenkranke – aber ein Ort, an dem die orthodoxen Gläubigen der Region schon seit 1600 Jahren ihren Gott aufsuchen. In der „gefährlichsten Kirche der Welt“, heißt es auf einer Reise-Webseite.

Ein Loch mitten im Fels ist der Eingang zur heiligen Stätte. Die Felsenkirche existiert seit 1600 Jahren.
Ein Loch mitten im Fels ist der Eingang zur heiligen Stätte. Die Felsenkirche existiert seit 1600 Jahren. © Johannes Dieterich

Die letzten 20 Meter zu einem Loch in der Felswand sind die furchterregendsten. Rechts ragt das Sandsteinmassiv senkrecht in die Höhe, links gähnt – mehr als 300 Meter tief – der Abgrund. Ein Felsvorsprung, der als Pfad dient, ist an seiner engsten Stelle kaum 50 Zentimeter breit. Priester Kiday nimmt sein verzagtes ausländisches Schäfchen an der Hand. In der gesamten Geschichte des Gotteshauses sei hier noch kein Mensch abgestürzt, beruhigt er: „Gott passt auf seine Gläubigen auf.“ Der Legende nach wurden Pilger, die tatsächlich in die Tiefe stürzten, durch einen wunderbaren Wind wieder nach oben auf den Weg geblasen.

Näher kann man Gott kaum kommen

Wer das Loch in der Felswand schließlich erreicht hat, meint auf alles gefasst zu sein – und trotzdem verschlägt einem der Anblick die Sprache. Im Halbdunkeln kommt eine akkurat aus dem Felsen gehauene kleine Kathedrale zum Vorschein – mit romanischen Gewölbebögen, Säulen und zwei angedeuteten Domen. Wände und Decken des rund 30 Quadratmeter großen Raums sind mit leuchtenden Fresken, vor allem Porträts biblischer und kirchlicher Persönlichkeiten bemalt, der Boden ist mit Teppichen belegt. Eine gekrümmte Astgabel dient dem Priester als Pult, unter ihr liegt ein Stapel uralter Bücher aus Schafshaut. Es riecht nach Weihrauch – und als Kiday Yohannes leise eine Hymne anstimmt, scheint sich der Himmel zu öffnen. Näher kann ein Sterblicher dem Allmächtigen nicht kommen.

Der (fast) unerschrockene Autor.
Der (fast) unerschrockene Autor. © Johannes Dieterich

Wie über 120 weitere Kirchen in Tigray wurde Abuna Yemata aus dem Felsen gehauen. Die Unesco will die monolithischen Gotteshäuser zum Weltkulturerbe erklären. Sie verteilen sich auf drei „Heilige Landschaften“, von denen die Gar’alta-Region die spektakulärste ist; hier befinden sich auch die ältesten der Felsenkirchen. Was in Europa kaum bekannt ist: In diesem Teil Afrikas war das Christentum bereits verbreitet, als die Germanen noch Bäume und Hügel verehrten. König Esana, der in der knapp 200 Kilometer nordwestlich von Abuna Yemata gelegenen heiligen Stadt Axum herrschte, hatte den christlichen Glauben bereits im 4. Jahrhundert zur Staatsreligion erklärt.

In Tigray wurden auch Christen verfolgt

Trotzdem konnten sich die jungen Christen in Tigray nicht wirklich sicher fühlen. Für den Bau ihrer Kirchen in schwindelerregenden Höhen war neben der Nähe zu Gott auch der Sicherheitsaspekt verantwortlich – ein Vorteil, von dem Priester Kiday noch heute ein Lied singen kann. Als vor gut zwei Jahren eritreische und äthiopische Soldaten in Tigray einfielen, suchten die Menschen des am Fuß der Felszähne gelegenen Dorfs Guh Zuflucht in den Bergen. Priester Kiday zog sich mit zwei Dutzend Gläubigen ins Gotteshaus Abune Yemeta zurück. Seine 26-jährige Frau Berhan verkroch sich mit den beiden Kindern in einer nahegelegenen Höhle – für den Fall, dass die Invasoren auch vor einem Angriff auf das Gotteshaus nicht zurückschrecken würden.

Der Geistliche Kiday Yohannes liest in alten Büchern aus Schafshaut.
Der Geistliche Kiday Yohannes liest in alten Büchern aus Schafshaut. © Johannes Dieterich

Tatsächlich nahmen Soldaten die Felsenkirche mehrmals unter Beschuss, erzählt Kiday: Getroffen haben sie allerdings nie. Und vor einem Angriff zu Fuß schreckten die eritreischen Eindringlinge angesichts des widrigen Terrains dann doch zurück.

Die Region Tigray im Norden Äthiopiens
Die Region Tigray im Norden Äthiopiens © FR-Grafik

Andere Gotteshäuser hatten weniger Glück. Debre Dammo, das älteste christliche Kloster südlich der Sahara, wurden von eritreischen Militärjets bombardiert. Amharische Milizionäre steckten die Kirche Feredashum St. Kirkos in Brand – zahlreiche Artefakte wurden beschädigt. Aus dem Kloster Abune Tadewos klauten äthiopische Soldaten uralte Manuskripte, und bei der Einnahme der heiligen Stadt Axum im November 2020 richteten ihre Kameraden aus Eritrea ein Massaker mit weit über 400 Toten an, darunter auch mehrere Priester.

Auch Gotteshäuser wurden im Bürgerkrieg geplündert

Bis zu 400 Kirchen und Klöster seien mindestens teilweise beschädigt worden, heißt es in einem Schadensbericht des Philologen Hagos Abrha Abay, der an der Universität von Hamburg forscht. Auf Auktionsplattformen wie Ebay seien plötzlich alte Manuskripte und Kultgegenstände aus Tigray zu lächerlichen Preisen zum Verkauf angeboten worden, berichtet der Äthiopier: Handgeschriebene und illustrierte Texte von unschätzbarem Wert wechselten für ein paar hundert Euro den Besitzer.

Während internationale Organisationen den zahllosen im Bürgerkrieg begangenen Menschenrechtsverbrechen nachgehen, kümmere sich so gut wie niemand um die Zerstörung und Plünderung der Gotteshäuser, klagt Tadesse Simie Metekia vom Institut für Sicherheitsstudien in Addis Abeba: „Dabei handelt es sich auch dabei um Kriegsverbrechen.“

Den Krieg beenden

Im November 2020 begann der militärisch ausgetragene Konflikt in der äthiopischen Region Tigray, der sich später auf weitere Teile des Landes ausbreitete. Die hauptsächlichen Bürgerkriegsparteien sind auf der einen Seite die Milizen der von der Zentralregierung Äthiopiens abgesetzten Regionalregierung von Tigray – an der Spitze die Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF). Auf der anderen Seite die äthiopischen Streitkräfte sowie Milizen aus der Nachbarregion Amhara und die Streitkräfte Eritreas.

Bei den Kämpfen sind nach UN-Angaben bislang mehrere Hunderttausend Menschen ums Leben gekommen. Die International Crisis Group bezeichnet den Konflikt in dem bevölkerungsreichen Land am Horn Afrikas mit 120 Millionen Einwohner:innen als „einen der tödlichsten weltweit“.

Einen Waffenstillstand haben die äthiopische Regierung und die TPLF im November 2022 geschlossen. Seither sind die Friedensverhandlungen aber kaum fortgeschritten. Zunächst hatten beide Parteien einen Vertrag zur Abrüstung der nördlichen Tigray-Region ausgearbeitet.

Rund 90 Prozent der gut sieben Millionen Einwohner:innen in Tigray haben nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO keinen ausreichenden Zugang zu Nahrungsmitteln. Fast jedes dritte Kind leidet an Unterernährung. dpa/osk

Am 7. Mai 2021 drangen eritreische Soldaten in das Dorf Guh am Fuß der Felszähne ein und schossen auf alles, was sich bewegte. Dem Massaker seien 19 Menschen zum Opfer gefallen, berichtet der Farmer Kasa Girmai, darunter neun Frauen und sieben Kinder, das jüngste nicht mal eine Woche alt. Dem 50-Jährigen gelang mit seiner Familie die Flucht in die Berge. Allerdings mussten sie seine 78-jährige Mutter zurücklassen: Die Soldaten würden der alten Frau schon nichts antun, sagte sich Kasa. Doch die eritreischen Kämpfer zerrten die Frau aus ihrem Haus, schleiften sie zu einem nahegelegenen Bach und erschossen sie dort.

Noch heute stoße man mitten in der Landschaft auf Menschenknochen, sagt Priester Kiday: „Die Hyänen haben die Gebeine über das ganze Land verteilt.“ Die Opfer des Massakers in Guh bestattete der Geistliche im Tal rund 300 Meter direkt unterhalb des Eingangs zur Felskirche – als ob sie die Ersten gewesen seien, die der wunderbare Wind nicht wieder nach oben wehte. Eines der Gräber ist kaum einen halben Meter lang: Dort liegt das sieben Tage alte Kind begraben. Wie konnte der Allmächtige zulassen, dass das unschuldige kleine Wesen gleich wieder aus der Welt gerissen wurde?

Blick aus dem Eingang ins Tal.
Blick aus dem Eingang ins Tal. © Johannes Dieterich

Priester Kiday denkt ein Weile nach und meint dann, dass Gott nicht nur Individuen, sondern auch die Gemeinschaft bestrafe – vor allem, wenn sich das Kollektiv versündigt habe. Das sei in Tigray sicherlich der Fall gewesen, fügt der Geistliche hinzu: Die Leute hätten gelogen und gestohlen, die Mädchen viel zu kurze Röcke getragen, die jungen Männer zu ausgelassen getanzt. Damit wolle er allerdings nicht das barbarische Vorgehen der eritreischen Soldaten rechtfertigen: Deren Oberbefehlshaber, Staatschef Isaias Afwerki, nennt er „den Vater des Teufels“.

Ausgelassenes Tanzen kann man Priester Kisay nicht vorwerfen. Als er in der Mini-Kathedralen von Abuna Yemata zwischen Himmel und Erde eine traurige Melodie anstimmt, stampft er mit seinen Füßen leise im Takt und begleitet seinen Gesang mit einer Rassel. So hat er es auch die gesamte vergangene Nacht über getan, als er mit gut 50 Gläubigen sechs Stunden lang die erste Christmette nach dem Krieg wieder in der Felsenkirche feierte.

Der äthiopische Vielvölkerstaat droht vollends gespalten zu werden

Von der Decke schaute Abuna Yemata auf die Gemeinde herab: Einer der neun Heiligen der Äthiopisch-Orthodoxen Kirche, die im fünften Jahrhundert aus dem Nahen Osten nach Tigray geflohen waren. Sie hatten sich in der Frage der Natur Christi – nur Gott oder Gott und Mensch in einer Person? – mit dem Rest der Kirche zerstritten. Vater Yemata habe das Gotteshaus eigenhändig aus dem Gestein gehauen und sein Neffe Binyam die Bilder gemalt, sagt Kisay. Diese hätten in ihrer 1400-jährigen Geschichte niemals restauriert werden müssen.

Die abtrünnigen Christen konnten sich selbst in der bizarren Bergwelt Gar’altas nie ganz sicher sein: Erst wurden sie von ihren „rechtgläubigen“ Mitchristen verfolgt, später sahen sie sich mit einer neuen Sekte, den Anhängern des Propheten Mohammed, konfrontiert. Auch wenn Äthiopien nie wirklich kolonialisiert wurde, kam das amharische Königreich auch in der jüngeren Zeitgeschichte nicht zur Ruhe. Und heute droht der äthiopische Vielvölkerstaat von ethnischen und politischen Spannungen vollends zerrieben zu werden.

Hunderttausende kamen während des Bürgerkriegs ums Leben

Dem zweijährigen Bürgerkrieg zwischen den Tigray und der Regierungsarmee sollen mehrere Hunderttausend Menschen zum Opfer gefallen sein, die Provinz wurde um mehrere Jahrzehnte zurückgeworfen. Und schon eskaliert der nächste schwelende Konflikt – zwischen dem Mehrheitsvolk der Oromo und der Regierung unter „Friedensnobelpreisträger“ Abiy Ahmed.

Äthiopiens Kirche scheint den Turbulenzen machtlos ausgesetzt zu sein. Als sich Eritrea 1993 von Äthiopien abspaltete und sechs Jahre später ein Krieg zwischen den beiden Nachbarn um den Grenzverlauf in einem nutzlosen Stück Halbwüste ausbrach, spaltete sich auch die Gemeinschaft der Christen – in eine Eritreische und eine Äthiopische Orthodoxe Kirche. Während des jüngsten Bürgerkriegs hätten die orthodoxen Gläubigen außerhalb Tigrays keinen Finger gerührt, um das Blutvergießen einzudämmen oder zumindest zu verdammen, klagt Philologe Hagos in Hamburg: Viele Kirchengemeinden in der Tigray besonders feindselig gesinnten Amhara-Provinz hätten für den Krieg sogar noch Geld gespendet.

Ein heiliger Ort für die Hoffnung auf Frieden

Kisay Yohannes schließt die Augen und murmelt ein Gebet in Ge’ez: Die heilige Sprache seiner Kirche hört sich wie Althebräisch an und wird nur von Geistlichen verstanden. Er habe für Tigrays Unabhängigkeit gebetet, sagt der Priester anschließend: Und dass aus der Äthiopischen Orthodoxen Kirche bald auch eine Orthodoxe Kirche für Tigray hervorgeht. Für den Priester ist die Provinz mit der Heiligen Stadt Axum, der dort vermeintlich aufbewahrten Bundeslade der Israeliten, den uralten Felsenkirchen mit ihren Manuskripten das Zentrum des orthodoxen Glaubens: „Wenn die Wahrheit hier nicht überlebt, dann nirgendwo.“ Als wir uns schließlich auf den Rückweg machen, kreist zwischen dem Allmächtigen und uns ein Adler.

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