Ist es nicht seltsam, dass der Ukraine-Krieg Zemmour geschadet hat, nicht aber der Rechtspopulistin Marine Le Pen?
Ja, das wirkt paradoxal – schließlich ist es Le Pen, die mit Wladimir Putin besonders eng befreundet ist und von einer ihm nahestehenden Bank sogar einen Millionenkredit erhielt. Die Erklärung für Le Pens Stärke liegt wohl darin, dass der Hardliner Zemmour die ihm politisch verwandte Kandidatin als geradezu gemäßigt erscheinen lässt.
Sie wirft ihm sogar vor, er dulde Nazis in seiner Partei ...
(lacht) Sie kennt diese Nazis umso besser, als die früher in ihrer eigenen Partei, dem Front National, gewesen waren.
Warum gibt sich Le Pen heute so samtweich?
Das ist pure Kommunikation. Sie weiß, dass sie mit ihrer Aggressivität im TV-Streitgespräch 2017 mit Macron schlecht ankam. Jetzt sucht sie enttäuschte Wähler der Konservativen wie auch der Linken anzusprechen.
Hat sie damit Erfolg?
Das wird sich zeigen. Tatsache ist: Le Pen gewinnt vor allem Wähler aus den sozial benachteiligten Schichten, während die Bessergestellten eher Zemmour zuneigen. Klar ist aber jetzt schon, dass die drei Rechtskandidaten, wenn man Nicolas Dupont-Aignan dazuzählt, auf 30 bis 33 Prozent Stimmen kommen. So zerstritten sie sind, verleihen sie ihrem Lager zusammengenommen eine starke Dynamik. Wer auch immer in den zweiten Wahlgang gegen Macron verstößt, profitiert von den Stimmen der anderen. Das ist sehr beunruhigend. Die extreme Rechte war in Frankreich noch nie so stark wie heute. Bisher kam sie zwei Mal in die Stichwahl: 2002 erhielt Jean-Marie Le Pen 18 Prozent der Stimmen, 2017 seine Tochter Marine Le Pen knapp 34 Prozent. Jetzt werden den Rechtsextremen im zweiten Wahlgang 40 bis zu 45 Prozent gutgeschrieben. Das ist enorm.
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Die Bürgerliche Valérie Pécresse kommt dagegen nicht vom Fleck.
Sie leidet an ihrer alten Partei „Les Républicains“ und deren internen Querelen. Vermutlich schafft sie es gegenüber den diversen Populisten nicht in den zweiten Wahlgang. Dabei könnte sie dort mit ihrem klaren Rechtskurs sogar Macron ausstechen. Ein weiteres Paradoxon.
Bei der Linken liegt Jean-Luc Mélenchon gut im Rennen.
Mélenchon ist ein talentierter Volkstribun, aber für Republikaner wie mich nicht tragbar mit seinen „rassialistischen“ Thesen und dem Umstand, dass er das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ nicht stärker gegen die Islamisten verteidigte. Deshalb kann er nicht die ganze Linke vertreten und eigentlich nicht gewinnen. Selbst wenn er in die Stichwahl käme.
In vielen Ländern Europas sind sozialdemokratische Parteien an der Macht. Warum sind sie in Frankreich weit entfernt davon?
Die Sozialdemokraten gewinnen die Wahlen überall dort, wo sie bereit sind, die neuen Realitäten zu akzeptieren und Regierungsverantwortung zu übernehmen. Nehmen Sie die dänischen: Die sind sehr sozial, sehr ökologisch und hart in Migrationsfragen. Damit gewinnen sie die Wahlen. In Spanien hat sich die Sozialistische Partei gegen Podemos durchgesetzt, in Deutschland die SPD gegen die Partei von Oskar Lafontaine. In Frankreich ist es umgekehrt: Dort verdrängen Mélenchons „Unbeugsame“ die Parti Socialiste, die mit Anne Hidalgo gerade mal bei drei Prozent liegt. Die französische Linke ist inhaltlich zu zerstritten, um vereint anzutreten und zu gewinnen.
Wenn Hidalgo das Wort „sozialdemokratisch“ benützt, hat das in Frankreich den negativen Beigeschmack des „Reformismus“.
Das ist das Drama der französischen Linken. Die Kompromissfähigkeit der SPD, wie sie in ihrem Koalitionsvertrag zum Ausdruck kommt, gilt hier als schändlich. In Frankreich verliert die Linke lieber die Wahlen. Und dann behauptet sie, das sei nur wegen der feigen Kompromisse passiert. Also radikalisiert sie sich noch stärker – und verliert die nächsten Wahlen noch höher. Das habe ich als Premierminister selber erlebt.
In einer viel beachteten Kolumne haben Sie Mélenchon und den „Woke-Flügel“ von Christiane Taubira für das Wahlfiasko der Linken verantwortlich gemacht.
Ja, denn diese Linke hat keine Antwort auf zentrale Fragen wie den Wandel des Kapitalismus, die nationale Identität oder die Folgen der 9/11-Anschläge.
Noch einmal zur Ukraine: Teilen Sie Macrons Meinung, dass man mit Putin weiter sprechen sollte?
Ja, denn Macron hat es dadurch geschafft, Europa in die Debatte einzubringen. Die Auseinandersetzung findet auf europäischem Boden statt, mit Folgen für Europa. Man kann das nicht den USA überlassen, zumal sich unsere strategischen Interessen nicht überschneiden. Unser Interesse besteht darin, Russland zu integrieren und nicht in die Arme Chinas zu treiben.
Kann man Russland verstehen, auch wenn man nie ein Putin-Versteher war?
Deutschland und Frankreich können die russische Haltung alle beide verstehen – allerdings nicht aus den gleichen Gründen. Deutschland rückte durch den Fall der Mauer sowohl geopolitisch wie industriell näher an den Osten. Frankreich hat historisch enge Bande nach Moskau, von Katharina der Großen über Voltaire und die napoleonischen Kriege bis zu de Gaulles Beziehung zu Stalin – das zählt. Natürlich müssen wir Russland verstehen, auch den Verlust seines Supermachtstatus, seine schmerzvolle Dekadenz. Aber seien wir nie naiv mit Moskau. Und vergessen wir nie die Polen und Balten, vergessen wir nie, dass die Ukraine zum Teil auch sehr „europäisch“ denkt. Ihre Finnlandisierung könnten wir nicht zulassen.