Was geschah in den Tagen unmittelbar vor dem 11. September 2001? Von Peter Rutkowski
9/11
Um 8.46 Uhr (Ortszeit) steuert Mohammed Atta den American-Airlines-Flug 11 in die oberen Stockwerke des Nordturms des World Trade Center (WTC). Mit 748 Kilometern pro Stunde. Zusammen mit Atta und seinen vier Helfern sterben beim Aufprall 97 Menschen, Crew und Reisende. Die ersten Toten dieses Tages.
Unzählige Menschen in New York sehen die Kollision. Sie glauben, das sei ein Unfall.
9.03 Uhr. Marwan al-Schehhi rast mit United Airlines 175 in den Südturm des WTC. 800 Kilometer pro Stunde schnell. 34 000 Liter Kerosin explodieren. 60 Menschen sterben zusammen mit Al-Schehhi und seinen vier Glaubensbrüdern.
Nun weiß alle Welt: Das ist Terror.
9.37 Uhr. American Airlines 77, Hani Hanjour an den Kontrollen, schlägt in das Pentagon ein. An Bord sterben
64 Menschen, im US-Verteidigungs-ministerium zählt man 125 Tote.
10.03 Uhr: United Airlines 93 bohrt sich in ein Feld in Pennsylvania – 44 Tote. Was Ziad Jarrahs Ziel war, ist bis heute unklar. Vielleicht das Kapitol in Washington? Crew und Reisende wussten dank ihrer Handys von den anderen drei Attacken, stürmten das Cockpit und überwältigten die Entführer. Aber um ein paar Minuten zu spät.
Um 2.30 Uhr hat sich John O’Neill von einem Freund mit „Wir sehen uns morgen“ verabschiedet. Er hat in der Nacht auf den 11. September nochmal Hof gehalten im „Elaine’s“, einem noblen Szene-Restaurant in Manhattan, wo er die Nähe zur Glitzerwelt genießt. Und wo er seit Jahren auch Geheimdienstkontakte pflegte. In dieser Nacht auf Dienstag wenden sich die Gespräche einmal mehr O’Neill’s Arbeitsfokus der letzten Jahre beim FBI zu: Osama bin Laden. O’Neill ist sich angesichts der Taliban-/Al-Kaida-Offensiven in Afghanistan sicher: „Wir sind bald dran.“ Wann? „Ich weiß nicht. Bald.“
O’Neills sterbliche Überreste werden später unter den Bruchstücken eines Treppenhauses im Südturm gefunden. Der Sicherheitschef des World Trade Center hatte bis zuletzt bei der Evakuierung des Gebäudes geholfen. Einer
von 2996 Toten von 9/11.
9/10
Washington ist fassungslos: Die Taliban marschieren gegen die Nordallianz – und die Clique im Weißen Haus interessiert sich nicht dafür! Präsident Bush verkauft auf einer Tour durch Grundschulen seine Lese-Initiative. Sicherheitschefin Rice, Vize Cheney, Defense Secretary Rumsfeld winken nur ab. Dabei gibt es doch schon fertige Pläne für einen bestimmt erfolgreichen US-Militäreinsatz dort!
John O’Neill lernt an diesem, seinem zehnten Arbeitstag wieder ein bisschen mehr über das Wer, Wie, Wann, Warum, Woher und Wohin, das er für seinen neuen Job braucht. O’Neill ist ein methodischer Typ, den es nicht kümmert, wenn er anderen auf den Schlips tritt. Diese Tour hat ihn nach 25 Jahren seine Karriere beim FBI gekostet. Die Bundespolizei war seine große Liebe. O’Neill macht weiter wie zuvor, nur jetzt nicht mehr beim FBI.
Das verwundert umso mehr, als er derjenige ist, der 1995 nach seiner Beförderung ins Hauptquartier des FBI auf Hinweis von Richard A. Clarke, dem Antiterrorismus-Chef des Weißen Hauses, aus dem Stegreif die Ergreifung des Hauptverantwortlichen für das 1993er Bombenattentat auf New Yorks World Trade Center (WTC) organisiert: Ramzi Yousef. Dieser ließ einen Lkw mit 600 Kilo Sprengstoff unter dem Nordturm hochgehen, der dann kollabieren und den Südturm mit sich reißen sollte. Zehntausende Tote hätte das gekostet. Tatsächlich starben sechs Menschen. Das WTC rührte sich nicht.
Mit anderen Worten: Die damaligen Attentäter, über vielerlei Ecken mit Al-Kaida verbunden, waren Amateure – entschlossen, aber unwissend. Ramzi bedauert sein Versagen, ein Fanatiker selbst in der Haft noch. Und er ist sich sicher: Mit mehr Geld hätte er es geschafft. Ein potenter Terror-Finanzier tut also not für den Dschihad?
Hani Hanjour (29) und Marwan Schehi (23) und ihre jeweiligen Kommandos in Boston, respektive in Laurel, Maryland, haben das nötige Geld gehabt. Jetzt brauchen sie keines mehr. Sie haben ihre Tickets für die morgigen Flüge United 175 und American 77, sie haben ihren Plan. Und sie alle sind sich absolut sicher, dass sie das Richtige tun und Einlass ins Paradies finden werden.
9/9
Der Sicherheitsapparat der USA gerät an diesem 9. September in helle Aufregung. In Afghanistan haben zwei als Journalisten getarnte Selbstmordattentäter Ahmed Schah Massoud getötet - mit einer Splitterbombe in einer Kamera. Massoud war ein Veteran des Krieges gegen die Sowjets und avancierte schließlich zu einer der wichtigsten Figuren des „Nordallianz“-Widerstands gegen die Taliban.
Massouds Tod bedeutet der US-Führung, den Militärs und den Geheimdiensten, dass am Hindukusch etwas in Bewegung gerät. Morgen werden sie wissen, dass das eine groß angelegte Offensive der Taliban gegen die Nordallianz ist, die erst starten konnte, nachdem das militärische Schwergewicht der Allianz beseitigt war.
Was man in den USA jetzt noch nicht weiß: Die beiden Attentäter waren keine Taliban, sondern Parteigänger von Al-Kaida. Bin Laden und seine Führungsriege in Afghanistan hoffen, sich durch die Aktion Kredit bei den Taliban zu verschaffen, die sie bisher nur widerwillig geduldet haben. Al-Kaida ist sich aber sicher, dass man bald schon die Kampfkraft der Taliban für die eigene Sicherheit braucht.
Mohammed Atta ruft an diesem Sonntag wohl ein letztes Mal seinen Vater in Kairo an. Laut seinem Hauptkontakt in Hamburg, Ramzi bin al-Shibh, hat Atta seinen Crews eingeschärft, ihre Familien nicht zu kontaktieren. Aber in diesen Tagen beauftragt er Bin al-Shibh, einige letzte Grüße an Angehörige zu übermitteln.
Ramzi bin al-Shibh wollte eigentlich mit Atta und Ziad Jarrah in die USA gehen. Da er aber jemenitischer Herkunft ist, wurden alle seine Visagesuche abgelehnt – man vermutete in ihm angesichts der Armut im Jemen einen Arbeitsmigranten. So wird der gescheiterte Märtyrer Attas Mittler, Kurier und deutscher Organisator. Atta hat ihm nun auch ein Datum genannt. Bin al-Shibh hat deshalb schon ein Flugticket für seine Flucht nach Pakistan in der Tasche.
26 000 Dollar werden dieser Tage in die Vereinigten Arabischen Emirate überwiesen – an einen Agenten von Al-Kaida. Es ist Geld, das 19 Männer in den USA nicht mehr brauchen.
9/8
Mohammed Atta ist an diesem Samstag kreuz und quer in den USA unterwegs. Er sammelt seine vier Crews ein, holt den einen ab, bringt den anderen hin. Der „Emir“, der Anführer, zu dem er von den Höchsten selbst während seiner Ausbildung in Afghanistan erkoren wurde, ist nun in seinem Element. Bald wird die Welt sehen, was er kann.
Die Ungläubigen, die säkularen Muslime, die Juden, seine wohlständigen Eltern, seine Schwestern, die erfolgreiche Kardiologin und die bekannte Geologin... Der „Emir“ erscheint so, wie Islamfeinde Muslime gerne karikieren: hässlich, weichlich, kalt und aggressiv. Ein Antisemit, der in allem Unglück der Muslime eine Weltverschwörung der Juden und ihrer US-Handlanger sieht.
Ziad Jarrah düst in der Nacht zum 9. September den Interstate Highway I-95 hoch, der von Florida entlang der Ostküste bis hoch zur kanadischen Grenze in Maine reicht. Jarrah, geboren im Libanon, sympathisch, gutaussehend. Seine weltoffene türkischstämmige Freundin aus Hamburg hat er beim Zahnarztstudium in Greifswald kennengelernt. Jetzt ist er auf dem Weg zu seinem letzten Rendezvous.
Seit Tagen warten Ahmed al-Nami, Ahmed al-Haznawi und Saied al-Ghamdi auf Jarrah, ihren Piloten,
in Newark, wo sie sich die Zeit mit Besuchen im Fitnessstudio vertreiben. So schnell, wie sie ihn sehen wollen und wie er sie treffen will, geht es in dieser Nacht aber nicht. Die Polizei in Maryland hält den 26-Jährigen an –
und verpasst ihm einen Strafzettel wegen zu schnellen Fahrens.
Wie kein anderer seiner 18 Bundesgenossen entspricht Jarrah dem Typ des „schicken Terroristen“ wie
Andreas Baader in den 1970er Jahren und Ali Hassan Salameh vom „Schwarzen September“, der 1972
das Attentat in München verübte.
Als frischgebackener Pilot in Florida hat Jarrah seinen Erfolg auch stilvoll gefeiert: Flieger ausgeliehen, auf die Bahamas gejettet. Das ist aber alles nichts gegen das, was er in wenig mehr als zwei Tagen vorhat.
9/7
Drei Männer treffen sich an diesem Freitag in Newark im US-Bundesstaat New Jersey. Jeder von ihnen hat ein Ticket für den üblichen Morgenflug mit United Airlines nach San Francisco. In vier Tagen. Ahmed al-Nami, Ahmed al-Haznawi und Saied al-Ghamdi, 24, 20 und 21 Jahre jung, alle in Saudi-Arabien geboren, sind just im Nordosten der USA eingetroffen. Sie haben mehrere Monate in Florida gelebt, haben dort Bankkonten eröffnet, sich Führerscheine ausstellen lassen, haben des öfteren ein Fitness-Studio frequentiert. Nun sind sie aber dort, wo ihr Anführer sie hinbefohlen hat. Sie warten auf ihren Piloten.
Präsident George W. Bush bekennt an diesem 7. September endlich Farbe, in der ihm eigenen zirkulären, mit Business-Floskeln gespickten Art. Zu viele in den USA verlören derzeit ihren Job wegen der „gebremsten“ Wirtschaftsentwicklung: „Jeder arbeitslose Amerikaner ist ein arbeitsloser Amerikaner zu viel.“ Tatsächlich haben zehn Jahre wirtschaftlichen Wachstums mit Beginn von Bushs Amtszeit ihr vorläufiges Ende gefunden. Der erste Boom durch die Computerisierung ist vorbei. Aber Bush zeigt sich guter Dinge, denn sein Allheilmittel Steuererleichterung (vom 1. Januar 2002 an) soll die Konjunktur ankurbeln und die Investitionen fließen lassen. Derzeit sind acht Millionen Menschen in den USA ohne Arbeit, zwei Millionen mehr als noch im September 2000.
Mohammed Atta braucht keinen Job. Der 33-jährige Ägypter ist diplomierter Architekt, aber ihn interessiert jetzt nur noch ein einziges architektonisches Meisterwerk. Und er hat eine Mission. Eine heilige gar! Heute fliegt er aber nur von Fort Lauderdale (Florida) nach Baltimore. Dort in Maryland will er fünf Glaubensbrüder treffen, die wie er schon bald Großes vollbringen werden. Sehr bald.
Vielleicht will Atta mit den anderen das gemeinsame Vorgehen koordinieren. Vielleicht will er sich nochmal als ihr Anführer feiern lassen. Denn wenn sein Werk vollbracht ist, wird er den Jubel darüber nicht miterleben.
9/6 und 9/5
Richard A. Clarke hat die Faxen dicke. Vier Wochen noch, dann kann er aufatmen. Dann ist er nicht mehr Abteilungschef Antiterror des Nationalen Sicherheitsrates im Weißen Haus. Seit 1973 kümmert er sich für die Regierung um Sicherheitsfragen. Seine Lagebeurteilungen konnte er den jeweiligen Präsidenten direkt unterbreiten. Nicht, dass das immer absolut nötig gewesen wäre ... Aber jetzt ist es eine Frage von Leben und Tod. Doch George W. Bushs Nationale Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice hat ihn kaltgestellt. Bushs Team versucht sich einzureden, das mit dem Islamismus sei alles halb so wild.
Schon seit Anfang 2001 ist sich Clarke sicher, dass muslimische Terroristen etwas in den USA unternehmen werden. Wer? Wann? Wo? Die erste Frage kann er beantworten: Al-Kaida, das Netzwerk von Osama bin Laden. Clarke hat von allen Seiten diesbezüglich Informationen erhalten, Frankreich, Deutschland, Italien - der Mossad, Israels Auslandsgeheimdienst, hat ihm am 23. August eine ganze Liste von Terrorverdächtigen übermittelt. Bekannte Al-Kaida-Leute werden abgehört, ihre E-Mails abgefangen – da ist etwas im Gange. Aber Clarke kommt nicht durch; Rice, Vizepräsident Dick Cheney und Verteidigungsminister Donald Rumsfeld schirmen den leicht beeinflussbaren Bush perfekt ab. Warum auch immer.
Der 25-jährige Nawaf al-Hazmi zahlt unterdessen irgendwo in den Vereinigten Staaten 1900 Dollar an Traveller-Schecks auf sein US-Konto ein. Nachdem er sie just in bar abgehoben hat. Warum? Man wird das nie wissen. Al-Hazmi wollte 1995 in Bosnien kämpfen, er hatte auch mal bei den Taliban angeheuert.
Bin Laden will , dass der junge Saudi in den USA, wo er sich seit dem 15. Januar 2000 aufhält, eine Pilotenausbildung macht. Doch Al-Hazmis Englisch reicht nicht dafür. So jobbt er, wartet auf Order und erzählt, er werde bald berühmt. Niemand nimmt ihn ernst. Nun, Anfang September 2001, hat Al-Hazmi seinen Marschbefehl. Ruhm und das Paradies sind ihm sicher, mag er wohl glauben.
9/4
George W. Bush hat an diesem Dienstag ein mäßig volles Programm. Für einen Präsidenten der USA: mehr als 160 Nominierungen für öffentliche Ämter unterzeichnen und an den Senat zur Prüfung oder zum Abnicken weiterleiten lassen. Neun neue Botschafterinnen oder Botschafter sind darunter. Bush und der republikanische Fraktionschef Trent Lott versuchen dann, die Presse davon zu überzeugen, dass der prekäre Staatshaushalt von den Steuergeschenken an Reiche profitieren wird und dass noch ausstehende Renten und Beihilfen für Alte und Arme „absolut“ sicher sind. Und dass der wirtschaftliche Aufschwung ganz bestimmt bald kommt.
Danach eilt der Präsident zu Kommissionssitzungen, wo der morgen anstehende Besuch seines mexikanischen Kollegen Vicente Fox vorbereitet wird. Bush will mit ihm Probleme im Freihandelsalltag des Nafta-Abkommens zwischen Mexiko, den Vereinigten Staaten und Kanada ausbügeln. Der Presse wird erklärt, wie gut Nafta für den Wohlstand von 406 Millionen Menschen in Nordamerika ist. Denn Bush hat ein Problem: Er ist ein halbes Jahr im Amt, die Wirtschaftsmacht USA schlingert, seine Beliebtheitswerte – schon mäßig zu Beginn seiner Amtszeit – wollen und wollen nicht steigen, sie fallen sogar etwas.
Derweil bereinigt an diesem 4. September das State Department, das US-Außenministerium in Washington, ein Problem. Oder glaubt, es zu bereinigen: Die Einreisegenehmigung für den saudischen Bürger Khalid al-Mihdar wird annulliert.
Al-Mihdar ist seit dem 4. Juli in den USA, aber niemand weiß, wo. Der Jemen hatte längst gemeldet, Al-Mihdar habe den Sprengboot-Angriff auf die USS Cole im Oktober 2000 im Hafen von Aden organisiert. Aber erst seit zwei Wochen steht Al-Mihdars Name auf einer Verdächtigenliste der CIA. Das FBI kann ihn nicht finden. Das State Department erklärt nun den 26-jährigen Vater zweier Töchter zur unerwünschten Person, weil er an „terroristischen Aktivitäten“ teilgenommen habe. Fall erledigt? Al-Mihdar bleibt verschwunden. In einer Woche erst taucht er wieder auf. Und mit ihm 18 weitere junge Männer. am Himmel über den USA.