Nach 9/11: Konfrontationen stärken Arabischstämmige in den USA

Seit 2001 kämpfen arabischstämmige Menschen in den USA mit vielerlei Anfeindungen. Die Konfrontationen stärken aber das kulturelle und politische Selbstbewusstsein der Jüngeren. Ein Besuch in Dearborn, Michigan.
An dem Tag, als knapp tausend Kilometer entfernt zwei Flugzeuge in die beiden Türme des World Trade Center rasten, wurde Abdullah Hammoud von seiner Mutter aus der Schule abgeholt. Der Elfjährige war überrascht. Er wusste nicht, was sich Stunden zuvor ereignet hatte. Die Mutter ging zügig, bis ihnen plötzlich ein Auto den Weg versperrte. Ein Mann streckte seinen Mittelfinger durch das offene Fenster. „Geht zurück in Euer Land!“, brüllte er.
„In der Schule durften wir nicht darüber sprechen“, erinnert sich Zainab Chami. Die damals 17-jährige Tochter aus dem Libanon Eingewanderter versuchte tagelang, aus den furchtbaren Bildern im Fernsehen, die dort immer wieder gezeigt wurden, Sinn zu machen. Sie durfte nicht mehr zum Football-Spiel mit ihren Freundinnen. Das hatten die Eltern aus Angst verboten. Auf der Straße wurde sie beschimpft. Am meisten verletzte die gläubige Muslima aber etwas anderes: „Die Religion, die mir immer Trost und Frieden gebracht hat, war plötzlich der Feind.“
Nicht nur die Religion. Osama Siblani, der den gleichen Vornamen wie der Al-Kaida-Gründer trägt, wurde an jenem Tag persönlich bedroht. Mittags musste der Journalist nach zahllosen Hass-Anrufen seine völlig aufgelöste Sekretärin nach Hause schicken. Als der damals 46-Jährige später selbst das Redaktionsgebäude verließ, um draußen eine Zigarette zu rauchen, näherten sich ihm mehrere Männer mit Messern: „Die wollten mir die Kehle durchschneiden“, sagt Siblani. Zum Glück war die Polizei rechtzeitig zur Stelle.

Das sind drei Erinnerungen an den 11. September 2001. Nur drei Momentaufnahmen aus Dearborn im US-Bundesstaat Michigan. Die Attentate dieses Tages rissen fast 3000 Menschen in den Tod und erschütterten das Selbstbewusstsein der Weltmacht USA bis ins Mark. Doch nachhaltig haben die Anschläge und der sich daran anschließende Krieg gegen den Terror auch das Leben der arabischstämmigen US-Bevölkerung, immerhin zwei Millionen Menschen, geprägt. Kaum irgendwo lässt sich das so beobachten wie in Dearborn, dem „Klein-Beirut“ der Vereinigten Staaten.
Der unscheinbar wirkende Vorort von Detroit ist im „weißen“ Amerika vor allem für das Stammwerk des Autobauers Ford und ein Museum bekannt. Quasi das Wolfsburg der USA. Wer sich jedoch über die Michigan Avenue dem Ortskern nähert, dem fallen die vielen Hinweisschilder für Ärzte und Rechtsanwälte mit „nicht-weißen“ Namen, die palästinensischen Restaurants, die Halal-Metzgereien und die jemenitischen Kaffeehäuser auf.
11. September 2001: Der Schock sitzt tief
Rund 40 Prozent der 94 000 Menschen in Dearborn haben arabische Wurzeln. Die ersten wanderten vor schon 130 Jahren ein, viele kamen in den 1920ern, als die Autofabrik mit ihrem gewaltigen Arbeitskräftebedarf als Magnet wirkte oder dann später ab den 70er Jahren auf der Flucht vor Kriegen und Bürgerkriegen im Libanon, im Irak, in Syrien und im Jemen. Die größte Moschee Amerikas mit zwei stolzen Minaretten an der Ford Road, das einzige „Arabisch-Amerikanische Museum“ und die größte arabisch-amerikanische Zeitung zeugen von der ungewöhnlichen ethnischen Vielfalt des Orts.
Entsprechend groß waren die Schockwellen von 9/11. Viele Menschen in Dearborn hängten damals schnell US-Flaggen heraus, um ihren Patriotismus zu bekunden. Das half aber nur bedingt gegen Misstrauen, Anfeindungen und die Überwachung durch das FBI. „Wir waren wie alle Amerikaner völlig überrascht und besorgt“, sagt Siblani. Doch der Angriff kam für ihn und seine Mitmenschen quasi von zwei Seiten. Plötzlich galten Muslime pauschal als verdächtig. Es sei schwierig gewesen, berichtet Siblani, „unsere Gemeinschaft davon zu überzeugen, dass sie hervortreten und sich zeigen soll“.
20 Jahre danach ist das Terror-Trauma nicht verschwunden. Doch es hat die arabischstämmige und muslimische Minderheit in den USA keinesfalls so sehr zurückgeworfen, wie man zunächst erwartet hätte. Diana Abouali, Direktorin des Arab American National Museum in Dearborn, betont schon, dass 9/11 islamophobe und rassistische Klischees befeuerte: „Wir spüren die Auswirkungen noch heute.“ Um dem aber entgegenzutreten, wurde vier Jahre später das Museum eröffnet. Die kollektive Diffamierung durch die weiße Mehrheitsgesellschaft habe jedoch auch unerwartet positive Effekte der Selbstvergewisserung und Solidarisierung gehabt, glaubt die gebürtige Palästinenserin, die in Kuwait aufwuchs und an der US-Elite-Universität Harvard promovierte. Besonders für jüngere „Arab Americans“ sei der Tag rückblickend ein Wendepunkt gewesen: „Das sind stolze Bürger der USA, die sich zu ihrer Herkunft bekennen.“
Die USA nach 9/11: Muslime sind auch Amerikaner
Tatsächlich bewirbt sich Abdullah Hammoud mit nunmehr 31 Jahren gerade für die Stelle des Bürgermeisters von Dearborn. Seit viereinhalb Jahren sitzt der Epidemiologe schon für die Demokraten im Landesparlament von Michigan. Seine Chancen, im November der erste arabischstämmige Bürgermeister der US-amerikanischen Autostadt zu werden, stehen gut: Bei den Vorwahlen holte er doppelt so viel Stimmen wie sein Konkurrent.
Als Treffpunkt schlägt Hammoud das jemenitische Qahwah House an einer schicken Ecke der Michigan Avenue vor. Der selbstimportierte Kaffee wird hier mit Kardamom, Zimt und Ingwer gewürzt. Doch der Politiker winkt ab: „Ich hatte schon genug Koffein.“ Hammoud trägt einen Zehntagebart und ein buntes Einstecktuch im modischen blauen Sakko. Während des Gesprächs brummt sein Handy unaufhörlich – der Wahlkampf. „Es läuft großartig“, kommentiert er das sehr amerikanisch. Tatsächlich stecken in vielen Vorgärten in Dearborn seine Werbeschilder. „Abdullah HAMMOUD for Mayor“ steht fett darauf. Sonst nichts. Statt durch einen Querstrich werden die beiden Säulen im „H" seines Nachnamens durch die Stars and Stripes der US-Fahne verbunden.
Hammouds Eltern sind vor mehr als vier Jahrzehnten aus dem Libanon geflohen. Der Vater arbeitete als Lkw-Fahrer, die Mutter hat ein kleines Geschäft. Doch Hammoud macht bewusst keinen Wahlkampf speziell für die arabischstämmige Gemeinschaft. In seiner Kampagne geht es um die Bekämpfung von Flutschäden, die Senkung der Grundstückssteuer, besseren Umweltschutz und Maßnahmen gegen Verkehrsrowdies. „Meine Botschaft ist: Abdullah ist ein Amerikaner wie alle anderen“, sagt er. Als er vor sechs Jahren das erste Mal für das Parlament des Bundesstaates kandidierte, hätten ihm Freunde noch geraten, seinen Vornamen auf „Ab“ (wie Abraham) zu verkürzen. Auf die Idee komme heute niemand mehr. Umgekehrt reiche die eigene Herkunft aber auch nicht, um sich die Stimmen Arabischstämmiger in den USA zu sichern: „Man braucht die besseren Konzepte.“
9/11: Terror richtet sich auch gegen Muslime
Auf Fleiß und Leistung hat auch Zainab Chami gesetzt. Ihre Eltern stammen ebenfalls aus dem Libanon. Der Vater hat als Verkäufer gearbeitet, ihre Mutter ist Hausfrau. Zuhause sprechen die beiden bis heute Arabisch miteinander und verfolgen libanesische TV-Nachrichten. Dass ihre drei Kinder die Bildungschancen der neuen Heimat nutzen sollten, war aber keine Frage. Also hat Chami studiert. Doch Tradition, Herkunft und Religion scheinen für sie wichtiger zu sein als für den weltgewandten Hammoud.
Zum Gespräch bei Avocadotoast und Cappuccino erscheint die 37-Jährige modebewusst in grüner Tunika über der Jeans. Ihre Haare aber stecken unter einem pastellfarben gemusterten Kopftuch. Seit 15 Jahren trägt sie den Hijab. „Das war keine politische, sondern eine persönliche Entscheidung“, betont Chami. Allerdings, so berichtet sie, hätten sie die Anfeindungen nach dem Terror von 2001 enger mit ihren kulturellen Wurzeln verbunden: „Viele Menschen sind näher an ihren Glauben herangerückt, weil er angegriffen wurde.“

Für Chami war auch klar, dass sie ihrer Gemeinschaft etwas zurückgeben wollte. Trotz magerer Bezahlung arbeitet sie als Lehrerin und unterrichtet in der Oberstufe nun Jugendliche, die überwiegend aus dem Irak, aus dem Jemen oder Syrien kommen, in Englisch und Literatur. Diskriminierung wegen ihres Hijabs habe sie selten erlebt, berichtet sie. Das liegt wohl auch an ihrem eher engen Lebensradius. Im Ausland war Chami noch nie, und ein Leben im konservativen Süden der USA kann sie sich nicht vorstellen.
„Vielleicht bin ich auf Nummer sicher gegangen, als ich mich entschieden habe, in Dearborn zu bleiben“, räumt sie ein. Doch fühlt sie sich durch ihre Schwester bestätigt. Die zog wegen des Jobs ihres Mannes ins eine Stunde entfernte Howell. Der Ort hat keinen guten Ruf: Noch in den 80er und 90er Jahren traf sich dort auf einer Farm regelmäßig die Gefolgschaft des rechtsextremen Ku-Klux-Klans. Auf Anraten ihrer Schwester trägt Chami bei Besuchen stets ein Hoodie mit Kapuze über dem Kopftuch.
Rassismus und Islamfeindlichkeit sind in der US-amerikanischen Gesellschaft auch heute noch verbreitet. Rund 60 Prozent der Muslime geben in Umfragen an, dass sie – etwa bei einer Sicherheitskontrolle am Flughafen, in Restaurants oder am Arbeitsplatz – diskriminiert worden seien. Eine landesweite Reality-TV-Serie mit Titel „All-American Muslim“, die in Dearborn spielte, wurde 2011 gleich nach ihrer ersten Staffel aus dem Programm des Kabelsenders TLC genommen, weil wichtige Werbekunden auf Druck einer rechten Bürgerinitiative ihre TV-Spots zurückgezogen hatten. Ein Jahr später veranstaltete ein fanatischer Pastor hier eine Koranverbrennung. In rechten Foren wurde der Ort diffamiert als „Dearbornistan“ und „No-Go-Area“, wo angeblich das Scharia-Gesetz gelte.
11. September 2001: Gedenkminute in der Schule
Mit dem „Muslim Ban“, der Einreisesperre für Menschen aus sieben überwiegend muslimischen Staaten, machte Donald Trump 2017 die Diskriminierung sogar zur Regierungspolitik. Trotzdem, glaubt Verleger Siblani, der 1976 mit 185 Dollar in der Tasche aus dem Libanon zum Studium in die USA kam und nun einen S-Klasse-Mercedes vor der Tür stehen hat, habe sich in den letzten Jahrzehnten das Verhältnis zwischen der muslimischen Minderheit und der „weißen“ Mehrheitsgesellschaft deutlich verbessert, meint Siblani.
Trumps Ausfälle hätten eine heftige gesellschaftliche Gegenbewegung ausgelöst und der zahlenmäßig eher kleinen arabischstämmigen Gemeinde zu neuen Bündnispartnern etwa in der Black-Lives-Matter-Bewegung verholfen: „Die Trennlinie verläuft nun nicht mehr zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen, sondern zwischen weißen Rassisten und allen liberalen und progressiven Kräften, die eine offene Gesellschaft wollen.“
9/11: Die Demokratie nahe am Abgrund
Zugleich verblasst die Bedeutung des 11. September 2001 für die Muslime in den USA zunehmend. „Das war einer der tragischsten Tage in der amerikanischen Geschichte“, sagt Bürgermeister-Kandidat Hammoud: „Aber ich werde mich nicht länger dafür entschuldigen, dass andere etwas gemacht haben.“ In der Schule von Lehrerin Chami wird es wohl heute eine Gedenkminute geben. Ausführlich besprechen will sie das Thema im Unterricht aber nicht: „Meine Schüler waren da noch nicht einmal auf der Welt. Das ist verdammt weit weg für die.“
Osama Siblani hält das öffentliche Gedenken gar für „reine Symbolpolitik“ und verweist auf ganz neue Terrorgefahren im eigenen Land. Natürlich sei der Verlust von fast 3000 Menschenleben tragisch, formuliert er provokativ: „Aber ich finde viel beunruhigender, was am 6. Januar am Kapitol passiert ist. Da ist kein Wolkenkratzer zusammengebrochen, aber um Haaresbreite hätte es die amerikanische Demokratie in den Abgrund gerissen.“