Nach 9/11 – Gerd Gigerenzer fordert „mehr Risikokompetenz“

Sozialpsychologe Gerd Gigerenzer über das Missverhältnis zwischen geschürten Ängsten und tatsächlichen Gefahren – und wie es demokratische Grundwerte bedroht.
Herr Gigerenzer, Klimawandel, Corona, Afghanistan, Terrorismus: Wovor haben Sie bei all diesen Krisen am meisten Angst?
Unter den Gefahren, die Sie genannt haben: nicht vor Terrorismus, zumindest nicht in Deutschland. Wenn ich in Afghanistan leben würde, wäre das vielleicht anders. Mit Corona werden wir wohl leben lernen müssen, und ich hoffe, dass sich die Viren in die Erreger einreihen werden, die wir schon haben. Das größte Problem ist für mich der Klimawandel.
Warum haben Sie ausgerechnet vor Terror am wenigsten Angst? Täuscht das Gefühl, dass seit dem 11. September 2001 eine diffuse Terrorfurcht über unserer Gesellschaft schwebt?
Richtig ist: Die Umfragen zeigen – jedenfalls vor Corona –, dass sich eine der größten Ängste der Deutschen auf Terrorismus bezieht. Sogar dann, wenn gefragt wird „Wodurch haben Sie die größte Angst, Ihr Leben zu verlieren?“, lautet die Antwort oft: durch einen Terroranschlag.
Terrorismus in Deutschland: Wie berechtigt ist die Angst der Menschen?
Ist das nicht berechtigt?
Die Fakten sagen etwas ganz anderes: In den zehn Jahren vor Corona gab es in Deutschland im Durchschnitt drei Unglückliche pro Jahr, die durch terroristische Anschläge – islamistisch, rechtsextremistisch oder andere – ums Leben kamen. Durch abgelenkte Fahrerinnen und Fahrer – also durch Leute, die etwa im Handy unbedingt die letzten Katzenbilder anschauen wollten oder nicht warten konnten zu sehen, wer ihnen geschrieben hat – kommen pro Jahr nicht drei, sondern geschätzt mehr als 300 Menschen zu Tode. Das ist das Interessante: Warum fürchten wir uns vor Dingen, die uns wahrscheinlich nicht umbringen?

Das führt zu der Frage, wie Angst funktioniert.
Ohne Angst würden wir nicht überleben. Aber vor was wir uns fürchten, das lernen wir im Lauf unseres Lebens. Die unglückliche Person, deren Angehörige tatsächlich durch einen Anschlag ums Leben kamen, lernt Angst aus Erfahrung. Aber die Psychologie des Menschen ist so angelegt, dass es sinnvoller ist, wenn wir negative Dinge nicht aus eigener Erfahrung lernen und dabei womöglich ums Leben kommen. Wenn wir also nicht jede Herdplatte testen. Wir können etwas über gefährliche Objekte lernen, ohne die Gefahr selbst zu erleben.
In welcher Form tun wir das?
Da gibt es zwei Varianten. Die eine ist das soziale Lernen: Wir fürchten uns vor den Dingen, die die eigenen Eltern oder die Menschen in unserer Umgebung fürchten – oder auch vor dem, was in den Medien steht. Das Zweite ist biologisch vorbereitetes Lernen: Junge Schimpansen zum Beispiel haben keine angeborene Angst vor Schlangen, aber sie lernen diese schnell, wenn sie Artgenossen beobachten, die diese Angst zeigen, weil sie in ihnen bereits angelegt ist.
Nach 9/11: Menschen haben „Angst vor Schockrisiken“
Aber wie ist das mit der Terrorangst?
Hier handelt es sich um Angst vor Schockrisiken. Dafür ist der 11. September ein Musterbeispiel: ein unerwartetes Ereignis, bei dem plötzlich viele Menschen auf einmal sterben. Was das psychologisch bewirkt, sehen Sie daran, dass praktisch alle noch wissen, wo sie an diesem Tag waren. Das ist etwas ganz anderes, als wenn genauso viele oder mehr Menschen verteilt übers Jahr sterben, etwa durch Rauchen oder Passivrauchen. Das macht uns weniger Angst, als wenn viele Personen plötzlich gemeinsam sterben, also sozusagen „sozial“.
Ist die Angst vor Terror nicht auch deshalb nachvollziehbar, weil er die Menschen unterschiedslos bedroht – im Gegensatz zum Terror der RAF vor 40, 50 Jahren, der sich gezielt gegen staatliche und wirtschaftliche „Eliten“ richtete?
Nein, nicht in Deutschland. Natürlich ist der Terror eine Quelle von Leid und Tod. Aber bei uns ist er nicht das, wovor wir am meisten Angst haben sollten. Dennoch hat man es geschafft, wie die Umfragen zeigen, dass sehr viele Deutsche größte Angst vor Terrorismus haben. Erst dadurch kann man unsere Ängste benutzen, um mit Antiterrorgesetzen unsere demokratischen Rechte zu untergraben. Der 11. September ist ein Schlüsselereignis darin, dass man die Ängste über das hinaus geschürt hat, was in Bezug auf Terrorismus nötig und vernünftig ist, um soziale Kontrolle über die Menschen zu bekommen.
Wie funktioniert diese „soziale Kontrolle“?
Um das Jahr 2000 herum haben ja auch soziale Medien ihren großen Aufschwung genommen. Es entstand unter anderem eine Zusammenarbeit zwischen dem US-Geheimdienst NSA und Google. Und das ist nur ein Beispiel für ein Überwachungssystem, bei dem die Grenzen zwischen Staat und Technologieunternehmen verfließen.
Reaktion auf Terror: „soziale Kontrolle“ durch Politik – mit Videoüberwachung?
Was glauben Sie als Nicht-Verschwörungstheoretiker, warum Politik diese soziale Kontrolle ausüben will?
Da gibt es ganz unterschiedliche Antworten, je nachdem, wohin Sie schauen. China ist ein Musterbeispiel sozialer Kontrolle. Dort gibt es das soziale Kreditsystem, das Menschen nach ihrem Verhalten belohnt oder bestraft – und die Mehrheit findet das gerecht und richtig. Ich bin wirklich kein Fan von Überwachung. Aber auch bei der Pandemie hat man gesehen, dass Digitalisierung und autokratische Systeme zusammen durchaus zu mehr Sicherheit vor dem Virus führen können als das, was wir zum Teil in westlichen Ländern hatten.
Aber auch in Demokratien gibt es ja eine Tendenz zu mehr Überwachung.
Das ist richtig. Einer der Gründe ist mangelnde Risikokompetenz. Sie besteht zum einen darin, die Gefahr des Terrorismus zu überschätzen im Vergleich zu anderen Gefahren, wie beschrieben. Zweitens werden auch die Möglichkeiten und Folgen von Überwachungssystemen falsch eingeschätzt.
Wie meinen Sie das?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Nach dem Anschlag am Berliner Breitscheidplatz 2016 wurde am Bahnhof Südkreuz ein Gesichtserkennungs-System ein Jahr lang getestet. Die Idee war, dass man die vielleicht 600 „Gefährder“ in Deutschland an den Bahnhöfen erkennt und aus dem Verkehr ziehen kann. Das Ergebnis des Tests war, dass das System eine 80-prozentige Trefferrate hat und in einem von tausend Fällen einen falschen Alarm auslöst. Das hat der Bundesinnenminister als großen Erfolg bezeichnet und laut darüber nachgedacht, das System in allen Bahnhöfen in Deutschland zu implementieren.
Und? Hat er nicht recht?
Das wäre eine Katastrophe, egal ob Sie für oder gegen Überwachung sind. In Deutschland sind jeden Tag zwölf Millionen Menschen an Bahnhöfen unterwegs. Bei einer Fehlalarm-Rate von eins zu tausend hätten wir jeden Tag rund 12 000 Fehlalarme zu erwarten. Stellen Sie sich mal vor, was da passiert …
…aber Sie müssen es ja gegenrechnen mit der Trefferquote, und der Innenminister würde sagen: Das ist der Preis eines großen Erfolges.
Ja, aber was für ein Preis! 12 000 Menschen täglich festzuhalten, bis man die Identität geklärt hat – das würde unsere Polizei in einem Ausmaß beschäftigen, dass sie die wichtigeren Dinge nicht mehr leisten könnte. Und die Sicherheit würde damit nicht höher, sondern niedriger. Das nenne ich mangelnde Risikokompetenz.
Gerd Gigerenzer: „Die Medien profitieren selbst von dem Phänomen der Angst vor Schockrisiken“
Sie haben vorhin die sozialen Medien erwähnt. Was tragen eigentlich wir, die klassischen Medien, zu den von Ihnen bemängelten falschen Wahrnehmungen bei?
Die Medien profitieren selbst von dem Phänomen der Angst vor Schockrisiken. Sie bekommen Aufmerksamkeit und höhere Quoten oder Auflagen, wenn sie darüber auf der ersten Seite berichten. Das wiederum führt dazu, dass die Menschen die Gefahr überschätzen und unnötige Angst bekommen. Und es führt dazu, dass die Terroristen eine Bühne bekommen, auf der sie auftreten können. Sie wissen, dass sie Prominenz bekommen, selbst wenn sie sterben. Und schließlich führt das dazu, dass man Nachahmer schafft.

Was sollten wir also tun?
Die Medien sind in einer schwierigen Situation. Aber sie sollten hier weniger auf die eigenen Auflagen schauen und mehr Verantwortung übernehmen. Sie sollten berichten, aber vielleicht klein und auf Seite 6. Sie sollten sich, wie zum Teil schon geschehen, zusammenschließen und vereinbaren, über bestimmte Verbrechen nur noch am Rande zu berichten.
Können Sie ein Beispiel nennen für Folgen einer verzerrten Wahrnehmung und Berichterstattung?
Nach dem 11. September 2001 sind viele Menschen in den USA aus Angst nicht mehr ins Flugzeug gestiegen. Und was haben sie gemacht? Viele sind aufs Auto umgestiegen. Ich habe in mehreren Studien die Verkehrsstatistiken analysiert und herausgefunden, dass in dem Jahr nach dem 11. September ungefähr 1600 US-Bürgerinnen und -Bürger mehr als sonst auf der Straße ihr Leben verloren haben – aus Angst vor Risiken des Fliegens.
Also Terroropfer auch sie, in gewisser Weise.
Ich nenne das den Zweitschlag der Terroristen. Einmal schlagen sie mit physischer Gewalt zu, so wie mit den Flugzeugen im World Trade Center oder mit dem Lkw am Breitscheidplatz. Aber dann schlagen sie noch einmal zu, mit Hilfe unserer Angst und auch der Medien. Und dieser Zweitschlag ist das wirkliche Ziel. Das Ziel der meisten Terroristen ist nicht, individuelle Menschen umzubringen, auch wenn es da Ausnahmen gibt. Das Ziel ist, allen anderen Angst einzuflößen und durch den Zweitschlag massive Kosten zu verursachen – von Toten bis hin zu immer mehr Einschränkung der Freiheit.
Nach 9/11: Antiterrorismus-Gesetze in den USA und Deutschland
Gehört es auch zu den Zielen der Terroristen, dass Demokratien Bürgerrechte abbauen und sich damit selbst beschädigen?
Zumindest ist genau das passiert. In den USA wurde durch eine Reihe von Gesetzen den einheimischen Technologiefirmen das Sammeln von Daten in einem Ausmaß erlaubt, das vor 2001 nicht möglich war, und diese Daten wurden dann an die Regierung weitergegeben. Auch in Deutschland wurden Antiterrorismus-Gesetze eingeführt, die es erlauben, Bürger zu überwachen und deren Freiheiten einzuschränken. Trotz des Versprechens, diese nur zeitlich begrenzt einzuführen, sind viele davon immer noch in Kraft.
Wir haben von übertriebenen Ängsten gesprochen. Aber trügt der Eindruck, dass es auch einen verbreiteten Wunsch gibt, reale Gefahren zu verdrängen in der Hoffnung, das vertraute Leben ungestört weiterführen zu können? Und wenn ja: Ist das eine sinnvolle Verdrängung, oder führt sie am Ende zu dem, was wir beim Individuum Belastungsstörung nennen?
Es gibt diese verdrängten Gefahren. Über die Gefahr eines nuklearen Krieges sprechen wir etwa kaum noch, und auch über die Gefahr für unsere Demokratie durch die sich ausweitende digitale Überwachung der Menschen, durch Tech-Unternehmen wie auch den Staat, ist im Wahlkampf so gut wie nichts zu hören. Diese Verdrängung kann Werte verändern. In den 80er Jahren gingen etwa die Deutschen auf die Straße, um gegen die Volkszählung zu protestieren und ihre Privatsphäre zu schützen. Wenn heute unser Smart-TV und unser Smart-Home ununterbrochen aufzeichnet und weitermeldet, was wir tun und sagen, zucken wir immer mehr nur die Achseln.
Gerd Gigerenzer: „Wir müssen eine Gesellschaft bauen, in der Menschen risikokompetent sind“
Was ist dagegen zu tun?
Wir müssen eine Gesellschaft bauen, in der Menschen risikokompetent sind, digital und analog. Menschen, die gelernt haben zu fragen: Wie groß sind die Risiken wirklich und wodurch kommen sie zustande? Terrorismus fällt ja nicht vom Himmel, sondern er findet zum Teil in einer Interaktion mit der westlichen Politik statt. Was wir brauchen, sind also mehr Menschen, die unabhängig mitdenken. Und Politiker, die Werte wie Freiheit vertreten und sich nicht durch die Angst vor Terrorismus in einen Überwachungsstaat einbinden lassen. Wie gesagt: In China läuft es anders, und die Leute dort mögen das meist. Aber eine Welt, in der ich mich von anderen kontrollieren lasse, nur damit sie mich vor Terrorismus schützen – das ist nicht die Welt, in der ich leben möchte. (Stephan Hebel)