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80 Jahre Schlacht um Stalingrad: Eine Stadt zwischen Triumph und Trauma

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Von: Stefan Scholl

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„Mutter Heimat“ erinnert an die Schlacht um Stalingrad. Neuen Militarismus stoppt sie nicht.
„Mutter Heimat“ erinnert an die Schlacht um Stalingrad. Neuen Militarismus stoppt sie nicht. Foto: Kirill KUDRYAVTSEV / AFP. © AFP

In Wolgograd feiern sie geschlossen den Sieg in der Schlacht um ihre Stadt vor 80 Jahren, als diese noch Stalingrad hieß. Zur „Spezialoperation“ in der Ukraine gehen die Meinungen auseinander.

Die „Mutter Heimat“, 7900 Tonnen, 85 Meter, ist zu groß, um schön zu sein. Sie wuchtet ein riesiges Schwert in die Luft, Augen und Mund sind vor Zorn aufgerissen. Vor diesem Zorn wirken die Menschen am Mamajew-Hügel wie winzige, schwarze Striche im Schnee.

Aber Andrej, ein junger Wolgograder, der in einer Moskauer Bank arbeitet, kommt meist hierher, wenn er in der Stadt ist. Auch heute, bei 15 Grad Frost. „Ich nähere mich dem Denkmal und bekomme Gänsehaut.“

Stalingrad: Das ganze Land feiert an diesem 2. Februar

Für die Menschen in Russland ist es das Denkmal der Denkmäler, es erinnert an die Schlacht von Stalingrad. Das ganze Land feiert an diesem 2. Februar den 80. Jahrestag der Kapitulation der 6. Armee Hitlers. Aber jetzt mischen sich neue, ungute Gefühle in die Festtagsstimmung: Wladimir Putins „Spezialoperation“ in der Ukraine.

„Ich bin nicht sehr einverstanden“, sagt Andrej dazu. „Niemand bedroht unser Staatsgebiet, man hätte auch ohne Kampfhandlungen auskommen können.“

Stalingrad: Sechs Stockwerke hohe Heldenportraits erinnern

Im August 1942 drangen erste Stoßtrupps der 6. Armee der Wehrmacht in die Industriestadt ein. Stalingrad wurde Entscheidungsschlachtfeld, Wolgograd ist heute das Freilichtmuseum. Am Marschall-Schukow-Prospekt hängen sechs Stockwerke hohe Heldenportraits, auch Josef Stalin in weißer Uniform. Aus den ziegelroten Ruinen der Grudinin-Mühle flackert nachts elektrisches MG-Feuer. Panzertürme auf Marmorsockeln an der Tschujkow-Straße markieren die letzte Abwehrlinie der 62. Sowjetarmee – keine 100 Meter von der Wolga entfernt.

Die Verteidiger lieferten den Deutschen erbitterte Straßenkämpfe, aber bis Oktober war das Zentrum fast ganz in deutscher Hand. Wie auf dem Schießstand durchlöcherten Wehrmachts-Geschütze sowjetische Schiffe, die Nachschub über die 1,2 Kilometer breite Wolga beförderten.

Stalingrad: Etwa 300 000 Deutsche und Rumänen wurden eingekreist

Seine Großmutter hätte als Kind mehrere Wochen in einem zugeschütteten Stalingrader Keller verbracht, sagt Igor Schein, Wolgograder Unternehmer, er trinkt ein alkoholfreies Bier. Im „Bamberg“, einem Brauhaus an der Komsomolskaja Uliza, das wie das benachbarte „Gretel“ und andere teure Restaurants sehr nahe an die Frontlinie von 1942 gerückt ist – zumindest gastronomisch herrscht jetzt Völkerfreundschaft.

Hitlers ans Siegen gewohnte Truppen gerieten selbst in die Mahlzähne einer fulminanten Zermürbungsschlacht. Und Mitte November überrollten überlegene sowjetische Panzertrupps die dünnen, von Rumänen gehaltenen Flanken der 6. Armee. Etwa 300 000 Deutsche und Rumänen wurden eingekreist, nach zweieinhalbmonatiger Kesselschlacht kapitulierten 91 000 halbtote Überlebende am 2. Februar. Nur 6000 sollten heimkehren.

Stalingrad: „Meine Großmutter sagte, das waren Deutsche“

„Meine Großmutter hieß Alexandra Filimonowa, Jahrgang 1908. Im Keller ernährten sie sich von Ratten und getautem Eis“, erzählt Schein. „Als unsere Soldaten sie herausholten, sah sie auf der Straße Feuerstellen, über denen Kleinkinder wie Spanferkel aufgespießt waren.“

Das hätten Rumänen getan, erklärt Schein. Aber später korrigiert er sich, er habe mich nicht kränken wollen: „Meine Großmutter sagte, das waren Deutsche.“ Der Geschäftsmann redet sachlich, aber schnell, als wären seine Worte eine Last, die er loswerden will.

Stalingrad: Sechs Kämpfer sollen noch in der Stadt leben

Niemand weiß genau, wie viele Soldaten bei Stalingrad umkamen, Historiker:innen reden von 300 000 bis 500 000 Deutschen und von 500 000 bis zu einer Million Russen – und niemand weiß, wie viele Zivilpersonen. Anfang Februar 1943 hatte die einstige Halbmillionenstadt keine 8000 Einwohner:innen mehr.

Sechs Stalingrad-Kämpfer lebten noch in der Stadt, seufzt Alexander Strukow, sie seien bettlägerig, zum Teil blind. Er ist Vorsitzender des Wolgograder Veteranenrates.

Stalingrad: Der Vergleich zu Kiew

Alle hier sind sich einig: Bei Stalingrad hat die richtige Seite gesiegt. „Für uns ist das ein Kampf um unsere Häuser gewesen, um Frauen und Kinder“, sagt Chefveteran Strukow, diesmal klingt er nicht einmal pathetisch.

Aber solche Worte hört man seit einem knappen Jahr auch von Menschen in der Ukraine. Am 24. Februar 2022 schlugen russische Raketen in Kiew ein, beim deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 hatte Hitlers Luftwaffe Kiew ebenfalls bombardiert. Strukow will den Vergleich beider Angriffe nicht gelten lassen. Er sagt, in der Ukraine bekämpften Russlands Soldaten jetzt neue Nazis, die von Deutschland unterstützt würden.

Russland: „Und Nazideutschland, sind das jetzt nicht wir?“

In einer Waffelbäckerei an der Leninstraße grinsen junge Gesichter verschiedenster Ethnien von einem Wandgemälde, zwei tragen Baseballmützen mit Putins Z und V. Aber hier seien keineswegs alle für die „Spezialoperation“, sagt die junge, hünenhafte Kellnerin, die trägt ihr Haar halblang wie die Mutter Heimat. Aber sie lächelt entschuldigend. Das Wandgemälde habe der Inhaber, ein früherer Militär, anbringen lassen. „Viele Gäste, die Z und V sehen, gehen sofort wieder.“

Viele Wolgograder:innen haben ein ausgeprägtes Gefühl für den Unterschied zwischen Eroberern und Verteidigern. „Wer hat angefangen in der Ukraine? Wir!“, klagt eine Junglehrerin nach einem halben Liter Bier. „Und Nazideutschland, sind das jetzt nicht wir?“

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