Fahrkarten-Trick: Wie Arbeitnehmer sich Studenten-Tickets erschleichen – und alle wegschauen

Alles wird teurer, auch Mobilität. Das versuchen einige zu umgehen – und fahren durch eine rechtliche Grauzone zu studentischen Konditionen Bus und Bahn. Komisch, dass das niemanden interessiert.
Köln – „Schein-Studierende“. Sind das nicht diejenigen, die sich im 27. Jura-Semester einreden, dass sie jetzt aber wirklich mal zum Ende kommen wollen? Nein: Der Begriff meint etwas anderes. Es sind Menschen, die in Lohn und Brot stehen – und trotzdem an einer Universität eingeschrieben sind. Aber sie studieren nicht wirklich. Sie wollen nur das vergünstigte Semesterticket für den öffentlichen Nahverkehr. Unserer Redaktion sind solche Fälle bekannt. Öffentlich sprechen möchte darüber niemand.
Michael Fuhlrott sagt: „Schein-Studierende“ tun nichts Verbotenes, zumindest nicht im juristischen Sinne. Fuhlrott ist Fachanwalt für Arbeitsrecht. „Das Verhalten mag unsozial sein, da Vorteile genutzt werden, die eigentlich einer Gruppe zukommen sollen, die aufgrund des Studiums kein Erwerbseinkommen erzielen kann. Strafrechtlich relevant wird es aber regelmäßig nicht sein.“ Denn: Wer sich an einer Universität einschreibt, treffe keine Aussage darüber, ob man auch ernsthaft einen Abschluss anstrebt. „Die Einschreibung ist also keine Erklärung dahingehend, Vorlesungen besuchen und Prüfungen ablegen zu wollen. Das Studium ist ja auch gerade auf Freiheit angelegt“, so Fuhlrott.
Wie viele „Schein-Studierende“ es gibt, ist schwer herauszufinden. Insgesamt sind an deutschen Hochschulen laut Zahlen des Statistischen Bundesamtes 2.915.700 Studentinnen und Studenten eingeschrieben. Wie viele studieren davon ernsthaft – und wie viele wollen nur an die Fahrkarte kommen?
„Schein-Studierende“ können nur schwer enttarnt werden
Der Münchner Merkur von IPPEN.MEDIA hat bei verschiedenen Universitäten nachgefragt. Die Antworten lassen sich so zusammenfassen: Man kenne das Problem mit den „Schein-Studierenden“, unternehme in dieser Sache aber nichts, weil es unmöglich sei, die wahren Beweggründe herauszufinden. „Im Studienjahr 2022 haben sich circa 9.000 Studierende an der Universität Hamburg neu immatrikuliert. Eine Überprüfung dieser Gruppe auf ihre Motive ist aus nachvollziehbaren Gründen nicht möglich“, teilt die Universität Hamburg mit. Auch die derzeit 40.000 Studierenden könne man aus Ressourcengründen nicht überprüfen.
Tatsächlich gibt es für die Universitäten wenig Anknüpfungspunkte. Eine Möglichkeit bieten verschiedene Prüfungsordnungen. Sie regeln die Modalitäten auf dem Weg zum Abschluss. In manchen Studiengängen ist beispielsweise vorgeschrieben, dass man innerhalb der ersten drei Semester bestimmte Prüfungen erfolgreich absolvieren muss. Wer das nicht tut, wird exmatrikuliert. Ein Hindernis, das leicht zu umgehen ist. Mit ein paar Klicks lässt sich herausfinden, in welchen Studiengänge man mehrere Semester eingeschrieben sein kann – ohne die Universität auch nur einmal von innen zu sehen. Und falls tatsächlich die Exmatrikulation droht, wird einfach ein neues Studium aufgenommen.
Experte: Universitäten haben ein natürliches Interesse an „Schein-Studierenden“
Selbst wenn man „Schein-Studierenden“ nachweisen könnte, dass sie sich nur für die Fahrkarte eingeschrieben haben, bleibt die Frage: Wo entsteht ein Schaden? „Dieser Aspekt ist neben der Täuschung elementar, um das Verhalten als Betrug im juristischen Sinne zu klassifizieren“, erklärt Arbeitsrechtler Fuhlrott. Viel entscheidender ist allerdings eine andere Frage. Wollen die Universitäten überhaupt?
Es gibt nämlich einen logischen Grund, warum Hochschulen „Schein-Studierende“ eher stiefmütterlich behandeln. Fuhlrott: „Nicht immer haben die Hochschulen ein wirkliches Interesse, ‚Schein-Studierende‘ zu verbannen, denn diese kosten ja keine zusätzlichen Kapazitäten. Eine große Anzahl von Studierenden ist für Hochschulen zudem oftmals auch wichtig, da sich hieran unter anderem die Zuweisung öffentlicher Gelder und Mittel bemisst.“ Die öffentliche Hand finanziert deutsche Hochschule zu 90 Prozent. 75 Prozent tragen die Länder, 15 Prozent der Bund. Die restlichen zehn Prozent kommen aus privaten Quellen, zum Beispiel von Auftragsforschungen.
33,50 Euro statt 276,20 Euro im Monat – und sogar ein größeres Tarifgebiet
„Schein-Studierende“ fahren vergünstigt Bus und Bahn, ihre Universitäten bekommt alle sechs Monate pünktlich den Semesterbeitrag. Eine Win-win-Situation? Nicht für die ansässigen Verkehrsverbünde. Dass ihnen eine beträchtliche Summe entgeht, zeigt ein fiktives Beispiel: Julius studiert an der Universität Köln. Er zahlte im laufenden Wintersemester 309,15 Euro Semesterbeitrag. Im Monat sind das 51,50 Euro. Mit seinem Ticket dürfte Julius durch ganz Nordrhein-Westfalen fahren. Zum Vergleich: Würde er eine Monatskarte des lokalen Verkehrsverbundes in der höchsten Preisstufe kaufen, müsste er 276,20 Euro im Monat bezahlen – und könnte nur einen Bruchteil von NRW bereisen.
Nachfrage beim Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV). Der Branchenverband vertritt die Interessen des ÖPNV. So wirklich scheint man sich nicht um das Geld zu scheren, das Monat für Monat fehlt. Man habe mit den Studierenden keine Einzelverträge und solle sich an die Hochschulen wenden, schreibt ein VDV-Sprecher.
Verwechslungsgefahr: Werkstudierende und „Schein-Studierende“
Dass Studierende neben ihrem Studium arbeiten, ist absolut üblich. Es gibt verschiedene Formen, das beliebteste Modell ist eine Anstellung als „Werkstudierender“. Der Vorteil für Arbeitnehmer und Arbeitgeber: Es müssen keine Sozialabgaben für die Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung entrichtet werden. „Dieses sogenannte Werkstudentenprivileg setzt aber voraus, dass nicht mehr als 20 Stunden/Woche der Beschäftigung nachgegangen wird und das Studium im Vordergrund steht“, erklärt Arbeitsrechtler Michael Fuhlrott. Arbeitet der Werkstudent außerhalb der Semesterferien mehr als 20 Stunden pro Woche, fallen die vollen Sozialabgaben an.
49-Euro-Ticket hat massive Auswirkungen auf Studierende
Der größte Teil von Julius‘ Semesterbeitrag landet beim VRS. 201,40 Euro zahlen Studierende für das ÖPNV-Ticket. Hochgerechnet wären es 2.911,60 Euro, die dem Verkehrsverbund Rhein-Sieg (VRS) pro Jahr entgehen, weil Julius sich als Student einschreibt und keine „normale“ Fahrkarte kauft. Doch es gilt die alte Weisheit: Wo kein Kläger, da kein Richter. Mittelbar ist der Staat Eigentümer des VRS und finanziert die Universitäten, erklärt Fuhlrott. Sein Fazit: „Es fehlt der politische Druck.“
Allerdings könnten die Karten durch die Einführung des 49-Euro-Tickets neu gemischt werden. Der Status „Schein-Studierende“ wird dann unattraktiver. Denn das Einsparpotenzial – auf den Monat gerechnet – ist in Julius‘ Beispiel zwischen 49-Euro-Ticket und Semesterticket (51,50 Euro im Monat) marginal. Die Frage ist nur: Wann kommt das 49-Euro-Ticket?
Die politische Diskussion läuft. Aktuell wird noch über den Starttermin gestritten. Im Raum stehen der 1. April und der 1. Mai. Die Bundesländer werfen Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) vor, die Einführung zu verzögern. Entwicklungen, die „Schein-Studierende“ wahrscheinlich sehr genau beobachten. Werden sie sich nochmal zum Sommersemester rückmelden, das ab 1. April startet? Man darf gespannt sein, wie viele Studentinnen und Studenten es in Deutschland gibt, wenn das 49-Euro-Ticket eingeführt ist und die neusten Zahlen des Statistischen Bundesamts vorliegen.