Was kafkaesk anmutet, nennt eine Initiative, die sich in Kassel zur Unterstützung von Leyla und Meryem Lacin gegründet hatte und bereits im Frühjahr mehr als 4300 Unterschriften für eine Bleiberechtspetition sammelte, ein „Ränkespiel der organisierten Verantwortungslosigkeit“. Für die beiden Kurdinnen aber war es vor allem eines: zermürbend.
Bayern, wo die Lacins einst vergeblich Asyl beantragt hatten, zeigte auf Hessen. Hessen, wo Mutter und Tochter seit zehn Jahren leben und sich in Kassel eine Existenz aufgebaut haben, zeigte auf Bayern. Erst befand das Verwaltungsgericht in Bayreuth, dass die Zentrale Ausländerbehörde (ZAB) Oberfranken nicht zuständig sei. Dann entschied das Verwaltungsgericht in Kassel, dass es die Kasseler Behörden auch nicht seien. Denn nach wie vor – Stichwort: Wohnsitzauflage – seien Leyla und Meryem Lacin eigentlich verpflichtet, in Bayreuth zu leben.
Rund 20 Jahre hatte die Familie dort in einer Obdachlosensiedlung wohnen müssen, einem „Ghetto am Rande der Stadt“, wie Leyla Lacin erzählt. „Verschimmelt, ohne jede Möglichkeit der Selbstentfaltung.“ Irgendwann hätten ihre Mutter und sie das nicht mehr ausgehalten und sich, dem Umzugsverbot zum Trotz, nach Kassel ins Frauenhaus gerettet. „Aber“, betont Leyla Lacin, „niemals ist jemand von uns untergetaucht.“ Im Gegenteil: In Nordhessen wurde die junge Kurdin zur bekannten politischen Aktivistin, meldete Demonstrationen an, organisierte Veranstaltungen, alles ganz offen.
„Ich bin oft auffällig geworden“, sagt sie. „Als Kurdin ist man, sobald man auf die türkische Kriegsführung gegen unsere Leute hinweist, auf der Zielscheibe.“ Sie glaubt, dass man ihr eine Nähe zur verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK unterstellt. Dass man sie deswegen loswerden wolle. Belegbar ist das nicht. Klar ist nur: Das politische Engagement war für die Behörden jedenfalls kein Grund, von einer Abschiebung abzusehen.
Und während vordergründig noch das unaufgelöste Zuständigkeitswirrwarr zu herrschen schien, arbeiteten Bayern und Hessen bei der Anbahnung dieser Abschiebung bereits Hand in Hand. Wie die Regierung Oberfranken auf FR-Anfrage mitteilt, hatte man sich in Bayreuth dann doch für zuständig erklärt (freilich ohne das den Lacins oder ihrem Anwalt zu verraten) und die Kolleg:innen in Kassel um Amtshilfe gebeten. Die sollten beim türkischen Generalkonsulat sogenannte Passersatzpapiere für die beiden Frauen besorgen – worum sie sich, wie der FR vorliegende E-Mails zeigen, dann mit Eifer bemühten. Allein am Fehlen der Flugdaten fehlte es noch.
Warum die Türkei so unbedingt wissen wollte, wann der Abschiebeflug eintreffen würde, und was das für die beiden Kurdinnen bedeutete, das fragte man sich in der hessischen ZAB in Kassel augenscheinlich nicht. Dabei braucht es nicht allzu viel Fantasie, um sich auszumalen, was eine exponierte Exilkurdin im Reiche Erdogans erwartet. Leyla Lacin formuliert es ganz nüchtern: „Als Kurdin, als Oppositionelle habe ich den geradlinigen Weg ins türkische Gefängnis.“
Dass die Regierung Oberfranken nun doch noch Erbarmen zeigt und eine Duldung aussprechen will, liegt allein an psychologischen Gutachten, die die gesundheitlichen Folgen einer Abschiebung bei beiden Frauen als lebensbedrohlich einstufen. Der Kampf gegen die Windmühlen der deutschen Ausländerbürokratie aber ist damit nicht beendet. Mehr als fünf Jahre lang hatte Leyla Lacin in Kassel als Assistentin für behinderte Menschen gearbeitet. Sozialversichert, mit Lohnsteuerkarte, ganz offiziell. Aber: ohne Arbeitserlaubnis. Im Frühjahr wurde sie deshalb auf Druck der Behörden entlassen. Ihr Arbeitgeber, ein gemeinnütziger Verein, der sie ohne Wissen um die fehlenden Papiere beschäftigt hatte, bekam ein Bußgeld in vierstelliger Höhe aufgebrummt. Und Leyla und Meryem Lacin verloren ihre Existenzgrundlage.
Mit der Duldung kann Leyla Lacin nun auch auf eine Arbeitserlaubnis hoffen. Vorher aber musste sie erst einmal nachweisen, was längst nachgewiesen ist: dass der Job, von dem sie und ihre Mutter jahrelang gelebt haben, auch wirklich zum Leben reicht. Die nächste zynische Pointe.
Der Kasseler Verein zur Förderung der Autonomie Behinderter will Leyla Lacin auf jeden Fall sofort wieder einstellen. „Sie war eine anerkannte Kollegin und wertvolle Mitarbeiterin“, sagt Georg Riester, der den Assistenzdienst des Vereins leitet. „Auch für uns wird es zunehmend schwieriger, Personal zu finden – wir sind dringendst auf solche Arbeitskräfte angewiesen.“
Das Vorgehen der Behörden gegen seine langjährige Mitarbeiterin Leyla Lacin begreift Riester schon lange nicht mehr. „Aus humanitärer Sicht ist das nicht nachzuvollziehen“, sagt er. Und ausländerrechtlich? „Wir haben aufgegeben, das entwirren zu wollen.“ (Joachim F. Tornau)
Verzweiflungstaten häufen sich: Beraterinnen und Berater von Geflüchteten berichten von der psychischen Ausnahmesituation geflüchteter Menschen und deren Folgen in Hessen. Aus Angst vor Abschiebung war ein 35-jähriger Pakistani in Darmstadt aus dem ersten Stock gesprungen.