Von Jelca Kollatsch (Text) und Frank Schultze (Fotos)
An einem Vormittag Ende August parkt Brahim Ramdhane, 55, seinen Geländewagen vor einer Düne in der Wüste Mauretaniens. Lederne Flipflops trennen seine Füße vom glühenden Sand, ein leichter Wind bläht sein traditionelles westafrikanisches Gewand zu einem Ballon. Er starrt auf eine rostige Metallplatte auf einem weiß getünchten Brunnen, an dem schon lange niemand mehr Wasser hinaufzieht. 160 Kilometer ist Brahim Ramdhane mit dem Auto aus der Hauptstadt Nouakschott hergekommen auf der Suche nach Spuren seiner Vergangenheit. Alles, was er bei seiner Ankunft findet, sind die Überreste dieses Brunnens. Keine Zelte mehr, kein Dorf, kein Mensch weit und breit.
Hier erinnert sich Ramdhane an seine Kindheit. Er sieht sich als Fünfjährigen Kautschuksäcke in den 60 Meter tiefen Schacht hinablassen, hört die quietschende Seilwinde, erinnert sich an die furchtbare Hitze, in der er schuften musste. „Brahim, hol Wasser“, „Brahim, mach Tee“, „Brahim, such die Esel“, befahlen seine Master aus der Familie der Daddah. Wenn er hinaus zu diesem Brunnen rannte, bekleidet nur mit einem Lendenschurz oder alten Lumpen, brannte der Sand unter seinen nackten Füßen. Damals war er ein Sklave.
Brahim Ramdhane gehört zu den Haratin, ehemaligen Sklaven und deren Nachkommen, die sich heute als Volksgruppe verstehen. Als „dunkelhäutige Mauren“ machen sie ungefähr die Hälfte der vier Millionen Menschen in Mauretanien aus, neben den „weißen Mauren“ und „Schwarzafrikaner:innen“. Dass die Einteilung in „Schwarze“ und „Weiße“ als Sklav:innen und Sklavenhalter kein Naturgesetz ist und wohl auch nicht der Wille Allahs, lernte Ramdhane erst im Laufe seines Lebens. Denn nur ein Zufall führte dazu, dass er die Schule besuchte. Heute setzt er sich mit seiner Stiftung dafür ein, dass mehr Haratin-Kinder zur Schule gehen. Auch dank seines Engagements wurde in Mauretanien als letztem Land der Welt die Sklaverei im Jahr 2007 unter Strafe gestellt. Doch bis sie auch aus den Köpfen der Menschen endgültig verschwunden ist, wird noch viel Zeit vergehen.
Vor 50 Jahre lebten in Ain Salama mit seinem Brunnen fünf Sklavenhalterfamilien der Daddah-Sippe und 25 Sklavenfamilien. Allein seiner Masterfamilie dienten neben seiner Mutter und Brahim selbst zwei Dutzend weitere Leibeigene. Das Zentrum des Dorfes bildeten die großen Zelte der Master, darum herum standen die kleineren Zelte ihrer Sklav:innen. Dazwischen die Gehege für Ziegen und Kühe und etwas außerhalb Zelte für den Koranunterricht und die Schule.
Schon mit vier Jahren molk Brahim morgens die Ziegen und trieb sie anschließend in die Wüstensteppe auf der Suche nach etwas Gras und ein paar Büschen. Zurück im Dorf musste er sich mit den Frühstücksresten der Sklavenhalter begnügen. Danach lief er kilometerweit, um Feuerholz zu suchen. Mit einer Kordel verschnürt trug er es auf dem Kopf nach Hause und stapelte es um die Feuerstelle. Ruhe fand er nie.
„Meine Mutter wollte, dass ich ein guter und geschätzter Diener bin“, erzählt Ramdhane. Die achtfache Mutter, tiefreligiös und Analphabetin, glaubte, dass Aufmüpfige ins Höllenfeuer müssten. Deshalb schlug sie ihren Sohn, wenn er nicht arbeiten wollte. Ramdhane sagt: „Sie tat das, weil sie mich liebte.“ Ihr Ansehen als gute Dienerin sollte sich für ihren Sohn noch auszahlen.
Nur die weißen Kinder aus den großen Zelten besuchten ab ihrem vierten Geburtstag die Koranschule, lernten Lesen und Schreiben. Sie trugen Schuhe, die sie gegen den heißen Sand schützten, und schöne Boubous, traditionelle Gewänder. Sie schliefen bei ihren Eltern auf Tapis, Betten aus Hölzern und Fell. Manchmal riefen die Master Brahim am Abend zu sich, dann musste er an ihrem Fußende im Sand schlafen, getrennt von seiner Familie.
Im Oktober 1971 war Brahim fast sechs Jahre alt, als 13 freie Kinder in Ain Salama nach der Koranschule auf ihre Einschulung warteten. Die Regierung bezahlte nur dann einen Lehrer, wenn er vor mindestens 15 Schüler:innen unterrichtete. Deshalb griffen die Sklavenhalter jedes Jahr zu einem Trick: Sie setzten Sklavenkinder auf die freien Plätze, wenn der Schulinspektor aus der Hauptstadt kam. Erteilte er die Genehmigung, mussten die Sklavenkinder wieder verschwinden. Die Haratin sollten schuften, statt Arabisch, Französisch, Mathematik und den Koran zu lernen.
An Brahims erstem Schultag geschah das Unvorstellbare: Seine Mutter, sonst gottesfürchtig und untertänig, rebellierte gegen diese Willkür. „Muss Brahim die Schule verlassen, dann verlasse ich euch“, drohte sie. Weil sie als unverzichtbar für die Master galt, durfte Brahim bleiben.
Vor der Schule molk er nun die Ziegen für das Frühstück der Master, in der Mittagszeit holte er Wasser auf dem Rücken der Esel, bevor er am Nachmittag zur Schule zurückkehrte. Abends saß er im Schein einer Öllampe über das arabische Alphabet gebeugt und zeichnete Buchstaben für Buchstaben in sein Heft. Nach einem Schuljahr hatte er den Vorsprung seiner Klassenkamerad:innen aus der Koranschule aufgeholt und schaffte die Versetzung in die Mittelschule in der nächsten Stadt.
Brahim Ramdhane steigt in seinen geparkten Toyota und verlässt den Ort seiner ersten Lebensjahre. Er fährt die staubige Straße Richtung Boutilimit, wo er zur Mittelschule ging, vorbei an Ziegen, die ihre Hälse nach den langen Blättern eines Niembaumes strecken, vorbei an Kamelen, die gemächlich durch das Buschland stolzieren.
In nur wenigen Minuten ist er in der Transitstadt Boutilimit angekommen. Rund um eine Kreuzung staut sich der Verkehr aus Pick-ups, Kleinbussen und Autos mit Teppichen auf dem Dach, Sitzkissen und Säcken auf den Ladeflächen und überfüllten Sitzplätzen. Ziegen reisen angebunden auf dem Dach ebenso mit wie Kamele auf Ladeflächen. Hier versorgen sich die Fahrer mit Brot, Wasser und Diesel für lange Touren in die Wüste.
Die Serie
Die Magazin-Reportage aus Mauretanien ist der Teil einer Serie zum Thema „Wie Bildung Leben verändert“ – Ausgehend von dieser Frage wird die FR in Kooperation mit „Zeitenspiegel Reportagen“ ein Jahr in zwölf Ländern der Welt vor Ort recherchieren und Geschichten von Menschen erzählen, denen Bildung ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht hat. Die Reporter:innen und Fotograf:innen wollen mit ihren Geschichten auch zeigen, wie wichtig Bildung für die Entwicklung ganzer Gesellschaften sein kann.
Die Serie ist Teil eines internationalen Projektes, für das acht Medien in Deutschland, Frankreich und England ausgewählt wurden. Das European Journalism Center und die Bill & Melinda Gates Stiftung fördern die acht Projekte zur Berichterstattung über die Herausforderung globaler Entwicklung mit insgesamt 900 000 Euro.
Auf dem Gelände von Ramdhanes ehemaliger Mittelschule kauen zwei Esel im Schatten eines Baumes an Blättern. Zwischen Büschen und Gräsern steht ein rostender Pick-up mit platten Reifen und ausgeschlachtetem Cockpit. „Mein Gefühl von Freiheit begann hier“, sagt Ramdhane und steuert das zentrale Gebäude an, ein grauer gemauerter Riegel mit zwei Klassenzimmern. Ziegenköttel liegen auf der Schwelle. Es ist angenehm kühl. Durch schmale Fensterschlitze fallen Lichtstreifen auf 18 staubige Schulbänke. Ramdhane setzt sich mit überkreuzten Armen in die zweite Bank der mittleren Reihe und denkt an jene Zeit, in der er das letzte Mal auf diesem Platz saß.
43 Jahre ist das her. Rund 30 Jungen und Mädchen saßen damals vor ihren Heften und lernten französische Grammatik. Helle Gesichter, wie sie die Kinder der Sklavenhalter hatten. Aber auch dunkle. Brahim staunte. Hatte Allah die Sklaven nicht dunkel erschaffen? Wie konnte es sein, dass er hier mit Kindern lernte, die aussahen wie er, aber keine Leibeigenen waren? Offenbar war es kein unumstößliches Gesetz, dass die Hautfarbe den Lebensweg bestimmte. Mauretaniens Kinder erhielten ihren Status durch die Mutter: War ihre Mutter Sklavin, gehörten auch die Kinder ihren Mastern.
Nach der ersten Schulwoche lief Brahim durch den Sand nach Hause, in sein Dorf Ain Salama, wo er sich wieder vom Schüler in einen Sklaven verwandeln musste. Aber er wollte nicht mehr. Er fasste einen Entschluss: Im Zelt der Master setzte er sich demonstrativ zu ihnen. Sie erkannten seine Wandlung. Da sie den Schulbesuch akzeptierten, sahen sie ihn nun auf Augenhöhe. Er durfte sogar mit ihnen vom selben Teller essen. Er war überrascht und verstand: „Sie behandeln mich so, wie ich mich gebe.“ Brahim befand sich in einem Graubereich der Rollen zwischen Schüler und Sklave, also testete er sie aus. Als sein Master eine Sklavin arbeiten schickte, giftete er: „Mach die Arbeit doch selbst.“ Störrisch reckte er sein Kinn in die Luft und fragte: „Warum brauchst du Sklaven dafür?“
Auch seiner Mutter machte er Vorwürfe. „Warum gehst du nicht fort? Warum ziehst du nicht in die Stadt?“ Seine Mutter antwortete: „Die Master sind meine Familie, so wie du es bist.“ Erst wenn Brahim sein eigenes Geld verdienen würde, versprach sie, würde sie zu ihm ziehen und ein freies Leben führen.
Nach drei Jahren bestand er die Mittelschulprüfung, erhielt ein Stipendium und zog nach Rosso, wo er ans Gymnasium wechselte. Dort würde er künftig leben, in einem Schülerwohnheim. 1980 war das – und der Beginn großer Veränderungen.
In diesem Jahr sitzt der 17-jährige Brahim zwei Wochen lang jeden Tag in einem Gerichtssaal in Rosso. Er möchte seinen Onkel Mohamed Messoud unterstützen, der zusammen mit elf anderen Männern angeklagt ist. Am ersten Tag verliest ein Staatsanwalt die Vorwürfe: „Leitung einer nichtregistrierten Organisation, Widerstand gegen die Polizei und Anstiftung zur Spaltung des Landes.“ Messoud und die anderen gehören zur Anti-Sklaven-Bewegung „El Hor“ („Der Freie“). Als Anfang desselben Jahres eine junge Frau auf einem Markt in Atar öffentlich als Sklavin verkauft wird, organisiert „El Hor“ Demonstrationen in allen größeren Städten des Landes. Polizisten verhaften die Anführer; die Regierung will an ihnen ein Exempel statuieren.
Der Staatsanwalt sagt: „Ich fordere die Todesstrafe.“ Brahim ist empört, springt auf und ruft: „Das sind doch keine Mörder!“ Es kommt zu Tumulten im Saal, Anwälte schreien, Angehörige weinen. Dann haben die Angeklagten das Wort. „Wir wollen nicht die Spaltung Mauretaniens, sondern Gleichheit“, erklären sie. „Sklaverei ist gegen das Menschenrecht.“ Es ist das erste Mal, dass Brahim hört, wie Menschen öffentlich die Sklaverei anprangern.
Brahims Onkel und die anderen berichten von ihren friedlichen Protesten, die Mitangeklagten, die einst Sklaven waren, von Demütigungen und Schikanen. Einige – darunter auch Brahims Onkel – müssen für mehrere Jahre ins Gefängnis, andere kommen mit Bewährungsstrafen davon. Brahim hört ihre Berichte und denkt: „Sie erzählen aus meinem Leben und dem meiner Mutter.“ Und da weiß er: „Ich will Anführer werden, wie sie.“
Die Jahre vergehen mit geheimen Informationskampagnen gegen Sklaverei, Abiturprüfung und Studium der Soziologie. Die Sklaverei wird 1981 abgeschafft, bleibt jedoch straffrei. Brahim Ramdhane wird Lehrer für Philosophie, heiratet seine Freundin aus der Mittelschule. Alle paar Jahre schickt ihn die Schulbehörde in eine andere Stadt in dem Wüstenstaat, der doppelt so groß ist wie Spanien. Seine Familie zieht mit. Ab 2001 arbeitet er als Philosophielehrer an einem Gymnasium in der Hauptstadt Nouakchott, bekommt sein viertes und fünftes Kind.
Auch das Land entwickelt sich weiter: Internationale Proteste und Forderungen von Bürgerbewegungen führen dazu, dass 2007 das mauretanische Parlament Sklaverei unter Strafe stellt. Ein historischer Erfolg, an den nun Aktivisten wie Brahim Ramdhane anknüpfen können: Er gründet 2010 mit Freunden die Organisation IRA-Mauretanien. Ihre rund 200 Mitglieder befreien Sklaven, indem sie Polizisten zu den Häusern von Sklavenhaltern führen und sie so zum Handeln zwingen. Einige Sklavenhalter werden befragt, doch niemand verurteilt. Stattdessen müssen viele Aktivisten ins Gefängnis.
„Wir haben vielen Sklaven geholfen, sich zu befreien“, sagt Ramdhane. Als Vizepräsident reist er zu internationalen Kongressen und berichtet über die Abhängigkeit der Sklaven. Denn es sind keine Eisenketten, die die Leibeigenen an ihre Master binden, sondern Unbildung und psychische Unterdrückung. Nach ein paar Jahren spaltet sich die Bewegung wegen der Frage, wie es weitergehen soll: Es gibt immer weniger Sklaven, aber die früheren Leibeigenen leiden weiter unter Diskriminierung, Armut und fehlender Bildung. Statt für andere zu schuften, sind viele Haratin nun arbeitslos. Ein Teil der IRA-Führung will in die Regierung, das Land von oben verändern. Brahim Ramdhane traut der Politik nicht. Er bleibt Aktivist.
Mit einer Autokolonne fährt Ramdhane Ende 2014 durch die Dörfer im Süden Mauretaniens. Er trifft sich mit Landarbeitern. Ehemalige Sklaven werden hier von dem Land ihrer Vorfahren vertrieben, damit weiße Mauren es besitzen. „Das Land gehört euch, ihr bestellt es seit Generationen, nicht den ehemaligen Sklavenhaltern, die sich an der Arbeit von Sklaven bereichert haben“, sagt er ihnen. Wenige Kilometer vor Rosso, wo er am Ende der mehrtägigen Fahrt seine Abschlussrede geben will, stoppt die Polizei den Autokorso und verhaftet Ramdhane und weitere Aktivisten.
Nach 19 Monaten Haft geht Brahim Ramdhane seinen eigenen Weg und greift in seinem Kampf gegen die Diskriminierung ehemaliger Sklaven auf das Mittel zurück, was ihn über die Jahre stark gemacht hat: Bildung. Durch sie erkannte er, dass er gleichwertig ist und seine Geschicke durch Wissen lenken kann.
Ende August 2021 brennt die Sonne auf die Millionenstadt Nouakchott. Kein Lüftchen weht an diesem Tag im Haratin-Stadtteil Darnaim. Auf der Hauptstraße hupen klapprige Autos, kleine Lebensmittelläden, Wäschereien und Werkstätten reihen sich aneinander. In einer sandigen Seitenstraße fressen Ziegen den angewehten Müll, Kinder spielen zwischen Mauern aus Betonstein.
Hier eilt Aminetou, 20 Jahre, groß gebaut, in ein schwarzes Gewand und lachsfarbenes Kopftuch gehüllt, mit gebeugtem Kopf über die Straße. Sie ist auf dem Weg zu ihrer Tante. Dort backt sie jeden Morgen in den Schulferien Muffins und liefert sie an Lebensmittelläden. Dass Aminetou noch zur Schule geht, ist ein kleines Wunder. Von dem Ferienjob bezahlt sie Schulbücher und das Internetkontingent für ihr Handy, um damit lernen zu können.
Die junge Frau verkörpert alles, wofür Brahim Ramdhane die vergangenen Jahre gekämpft hat. Sie zeigt, dass sich die Nachkommen von Sklaven aus ihrem Elend befreien können, wenn sie Zugang zu Bildung erhalten. Zweimal scheiterte Aminetou am Examen der Mittelschule. Ihre Eltern konnten nicht helfen. Der Vater schuftet auf dem Bau, und ihre Mutter sitzt Tag für Tag über Getreideschüsseln gebeugt, siebt Weizengrieß, um Couscous für den Markt herzustellen. Beide lernten als Kinder den Koran, sonst nichts. Ihre sieben Kinder sollen es besser haben als sie. Doch das ist gar nicht so einfach.
In Amintetous Klasse lernten 90 Kinder, die Lehrer für naturwissenschaftliche Fächer erschienen nur selten zum Unterricht, so schlecht wurden sie bezahlt, und wenn sie kamen, unterrichteten sie nur halbherzig. „Es war eine furchtbare Zeitverschwendung“, sagt Aminetou. Doch sie ließ sich nicht entmutigen und suchte Hilfe. Die fand sie mit Hilfe ihres Onkels vor drei Jahren in einem roten zweigeschossigen Eckhaus im Zentrum Nouakchotts.
Hier prangt ein Schild: „Hauptsitz der Sahel-Stiftung. Für die Verteidigung der Menschenrechte, die Unterstützung von Bildung und sozialem Frieden“. Hinter einem klobigen Schreibtisch aus dunklem Holz sitzt Brahim Ramdhane. Er klärt mit den Mitarbeitenden Fragen zur Vorbereitung der Schülerzeremonie, er unterschreibt Empfehlungsschreiben für Ehrenamtliche, zwischendurch klingeln seine beiden Mobiltelefone. Die Papiere vor ihm flattern im Wind der Ventilatoren. Durch das geöffnete Fenster dringen Schreie der Esel und das Hupen des Verkehrs herein. Eine dünne Schicht aus Sandstaub liegt auf dem Couchtisch, den Sesseln und Fotos an den Wänden. Auf einem Bild verleiht John Kerry, damals US-Außenminister, Brahim Ramdhane eine gerahmte Urkunde: eine Auszeichnung für sein Engagement gegen Sklaverei.
Von hier aus leitet Ramdhane heute seine Sahel-Stiftung. Mit kostenlosem Koranunterricht, der Beantragung von Ausweispapieren, ohne die Kinder nicht zur Schule gehen können, mit Druck auf die Behörden und Schulplätzen in Privatschulen geht er gegen die Ausgrenzung der Haratin vor. „Generell sind Privatschulen für weiße Mauretanier“, sagt er, „aber nach all den Diskussionen über Rassismus in der Gesellschaft verstehen mehr Menschen die ungleichen Zugangsvoraussetzungen zu guten Schulen.“ Die Schwarzen Mauren bilden mit knapp 50 Prozent die größte Bevölkerungsgruppe im Land, sind in öffentlichen Ämtern oder in kulturellen und wirtschaftlichen Positionen jedoch kaum anzutreffen.
Damit sich das ändert, müssten Haratin die gleiche Bildung erhalten. „Schüler, die lernen wollen, gute Leistungen haben und eine Idee, wo sie in der Gesellschaft arbeiten wollen, fördern wir durch Privatschulen“, sagt Ramdhane. Dort lernen Kinder in kleineren Klassen, die Lehrer werden besser bezahlt. Seit 2017 schickt Ramdhane jährlich mehr als 1000 Kinder in ganz Mauretanien in Privatschulen. Dafür verhandelt er mit den Schuldirektoren über kostenlose Plätze oder bezahlt das Schulgeld mit Spendengeld, das er vor allem von privaten Förderern und Nichtregierungsorganisationen aus dem Ausland erhält. Einen dieser Plätze bekam vor drei Jahren die Schülerin Aminetou.
Am Ende des Tages, als die Muffins gebacken und ausgeliefert sind, sitzt sie über ihr Heft gebeugt. Sie lernt in einem freiwilligen Ferienkurs für ihren naturwissenschaftlichen Schwerpunkt. Nach dem Schulwechsel bestand sie das Examen der Mittelschule ohne Schwierigkeiten. Im ersten Jahr der Oberstufe erarbeitete sie sich den Titel als zweitbeste Schülerin ihrer Klasse. Ein Jahr später ist sie aktuell Klassenbeste. „Es fühlt sich toll an, die Beste zu sein“, sagt Aminetou mit strahlenden Augen, „einerseits, weil ich es mir selber erarbeitet habe, andererseits, weil meine Eltern stolz sind und Ramdhane in der Sahel-Stiftung sieht, dass er in mir die Richtige fördert, eine die wirklich lernen will.“
Aminetou will Ärztin werden. Darum lernt sie an sechs Abenden in der Woche, statt bei ihrer großen Familie zu sein. Im vergangenen Jahrgang haben nur acht Prozent aller Schüler:innen das Abitur bestanden, damit hat Mauretanien die niedrigste Abiturquote der Welt.
Brahim Ramdhane lehnt sich in seinem wackeligen Schreibtischstuhl zurück und schaut auf seinem Smartphone das Video der Zeremonie an, die seine Stiftung heute mit 80 Kindern, ihren Eltern und Sponsoren im Hof der Stiftung gefeiert hat. Ein Meer aus bunten Gewändern im ersten Nachmittagsschatten des hohen Hauses. Blechern klingt die Nationalhymne aus den Lautsprechern, die Kinder singen lautstark mit. In einem goldenen Dashiki, einem westafrikanischen Anzug, sitzt Ramdhane hinter einer Reihe von Mikrofonen. Er erinnert mit erhobener Stimme an den weiten Weg, den die meisten Familien hinter sich haben, an die Sklaverei und die Armut. Und er ruft er den Kindern zu: „Du bist frei. Dein Wissen gibt dir die Kraft, deine Welt zu verändern. Wer nicht lernt, wird niemals frei sein!“