"Wir leben hier doch im Paradies"

Das bayerische Jachenau ist seit Samstag von der Außenwelt abgeschnitten - die Menschen vor Ort gehen mit der Situation ziemlich gelassen um.
Seit Samstagabend ist das bayerische Dorf Jachenau im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen von der Außenwelt abgeschnitten. Die Zufahrtsstraße über Lenggries ist von Bäumen versperrt, die Straße über Walchensee nur ausnahmsweise befahrbar. Doch egal wie groß das Schneechaos ist – so richtig aus der Ruhe zu bringen scheint das vor Ort niemanden – nicht die Feuerwehrleute, die Sonderschichten fahren müssen, nicht den Bürgermeister und auch nicht die Touristen, deren Aufenthalt sich nun unerwartet verlängert.
In der Jachenau liegen derzeit zwischen 50 und 60 Zentimeter Schnee, an manchen Stellen ein Meter. Das ist für Jachenauer Verhältnisse keine erwähnenswerte Menge. Was die Lage jedoch tückisch macht, ist der nasse Schnee, der am Samstag fiel. Er gefror an den Ästen und fiel an den folgenden Tagen nicht auf den Boden. Die Konsequenz: Die Bäume knicken reihenweise um oder drohen umzustürzen. „Eine gefährliche Situation“, sagt Bürgermeister Georg Riesch.
Der Feuerwehr beschert dies am Mittwoch einen höchst ungewöhnlichen Einsatz: Sie muss lange vor dem Morgengrauen ausrücken, um den Dorfladen mit Lebensmitteln zu versorgen. Um sechs Uhr geht es in Richtung Krün. Im dortigen Supermarkt holen die Brandbekämpfer Lebensmittel sowie Haushaltswaren ab und beladen damit einen Transporter. Eine Aufgabe, die ihnen sichtlich Spaß bereitet.
Sie bilden eine Menschenkette, reichen all das von Hand zu Hand, was man zum Leben eben so braucht: Milch, Joghurt, eine Palette mit Äpfeln und Kartoffeln. „So eine Ladung ist mir lieber als Sandsäcke“, kommentiert der Jachenauer Feuerwehrmann Andreas Schandl, als er eine Palette Chips schwungvoll und mühelos an seinen Nebenmann weitergibt. Es folgen viele Packungen Toilettenpapier. Wieder kommentiert Schandl: „Passt doch. Die Lage ist beschissen.“
Heilfroh ist Peter Krauß, Ladenbesitzer und Dritter Bürgermeister. Ganz ohne Ironie merkt er an, dass Toilettenpapier das ist, was er im Dorfladen am dringendsten benötigt. Auch Brot war am Vortag ausgegangen. Nichts, was die Touristin Ruth Veron aus der Ruhe bringt. „Wir haben uns einfach eine Backmischung gekauft und unser eigenes Brot gemacht“, sagt die Nürnbergerin. Sie hat nichts dagegen einzuwenden, dass sich ihr Aufenthalt in einen Abenteuerurlaub verwandelt.
Ihre vierjährige Tochter und ihren eineinhalbjährigen Sohn packt sie einfach auf den Schlitten und fährt den Berg hinab zum Dorfladen. „Spannender als in Nürnberg“, sagt Veron. „Da liegt überhaupt kein Schnee.“ Da auch Oma und Opa vor Ort seien, empfindet sie den Urlaub als „wunderbar“. Eigentlich wollte sie am Donnerstag abreisen, doch dieser Plan dürfte sich zerschlagen, vorerst soll es winterlich bleiben. „Vielleicht klappt es ja am Freitag.“
Der frühere Arzt Matthias Tsotsalas aus Düsseldorf gibt sich ebenso tiefenentspannt. Sicher würde er gerne mal einen Ausflug nach Lenggries oder Bad Tölz machen. Dass er darauf momentan verzichten muss, entlockt ihm aber nur ein Schulterzucken. „Wir leben hier doch im Paradies.“ Der organisierte Massentourismus sei in der Jachenau noch nicht angekommen. Schon an normalen Tagen sei der Ort eine Oase der Ruhe – und erst recht, wenn er von der Außenwelt abgeschnitten ist.
Tsotsalas ist ein halber Jachenauer. Seine Schwiegereltern wählten vor 70 Jahren die Jachenau als Ort für ihre Hochzeitsreise. Er selbst verbringt seit 50 Jahren seine Urlaube dort. Auch seine Kinder und Enkelkinder verbringen mittlerweile die Zeit um Weihnachten in der Jachenau. „Als Arzt im Ruhestand hab’ ich kein Problem damit, wenn ich länger hierbleiben muss.“ Die Dorfbewohner kümmern sich geradezu „rührend“ darum, dass es den Gästen an nichts mangelt: „Ich bin zufrieden wie immer.“
Um die medizinische Versorgung muss sich mittlerweile auch niemand mehr Gedanken machen. Das Rote Kreuz schickte einen Rettungswagen. Er parkt nun im Dorfzentrum, zwei Sanitäter sind stets vor Ort. Im Notfall können sie Patienten schnell ins nächste Krankenhaus bringen, eine endlose Anreise durch den Tiefschnee ist nicht mehr notwendig.
Naturgemäß sind jedoch nicht alle glücklich mit der Situation. Gastronom Markus Schwaab hätte gerne etwas mehr Leben in seinem Gasthaus Jachenau. Er informierte die Mitarbeiter der Buchungsplattformen sowie zukünftige Gäste, dass die Anreise momentan erschwert ist. Ein Musikantentreffen sei bereits ausgefallen, zu einer Geburtstagsfeier seien nur neun statt wie geplant 50 Personen erschienen. Höchstens der Dorfpfarrer, ein paar Handwerker und Feuerwehrleute verirren sich in den Gasthof. „Verhungern lassen wir keinen“, sagt Schwaab. Und eines weiß er sicher: „Wenn die Sonne rauskommt, haben wir hier durch die Langläufer wieder Halligalli.“