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Corona-Krise: Was Solidarität auch meinen könnte

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Kaum wechselt man die Perspektive, scheinen neue Möglichkeiten auf. 	istock
Kaum wechselt man die Perspektive, scheinen neue Möglichkeiten auf. © istock

Die Pandemie ist eine Chance, Grenzen der Solidarität zu erkennen – und zu überwinden.

Plötzlich ist sie wieder da und in aller Munde: die Solidarität. Mit dem Scheitern des staatssozialistischen Gesellschaftsmodells, dem Siegeszug des Marktliberalismus und der Krise der Arbeiterbewegung waren Begriff und Idee in die Geschichtsbücher gewandert, um regelmäßig am 1. Mai noch einmal für ein paar Vormittagsstunden zu Demonstrationszwecken hervorgekramt zu werden – und dann aber wieder ab in die Mottenkiste damit. Seien wir ehrlich: Wir alle dachten, so würde es auch weitergehen. Von wegen Brüderlichkeit und Zärtlichkeit der Völker, hoch lebe die Eigenverantwortung und die internationale Konkurrenz!

Solidarität in Zeiten von Corona 

Doch das war gestern. Und heute? Findet man – Corona sei Dank – Solidaritätsbanner an jeder Supermarktkasse, Solidaritätsadressen auf unzähligen Facebookaccounts, Solidaritätsaufrufe in täglichen Regierungs- wie Nicht-Regierungs-Erklärungen. Wer etwas auf sich und von den anderen hält, ist solidarisch: mit den Held*innen der Krisenbewältigungsarbeit (Applaus Applaus!), mit den Risikogruppenangehörigen in der Wohnung nebenan (die neue Politik mit dem Einkaufskorb), mit dem darbenden Gastronomie- und sonstigen Kleingewerbe (endlich mal beliefert werden und sich gut dabei fühlen). Plötzlich wird deutlich: Solidarität kann so einfach sein! Es reicht eigentlich schon, daheim zu bleiben, sich mit sich selbst zu beschäftigen und zwischendurch einen Gutschein für die Kultureinrichtung seiner Wahl zu erwerben, einzulösen nach dem offiziell ausgerufenen Krisenende.

Allein – reicht das wirklich? Oder anders: Wie weit reicht die wiedererwachte Solidarität eigentlich in Raum und Zeit? Weiter als die zwei Meter Sicherheitsabstand zu dem Nächsten, den man nun zu schützen sucht wie sich selbst? Und länger als jene Ausgangsbeschränkungen, die uns amtlich auferlegen, was wir doch eigentlich selbst wollen sollten?

Corona-Zeiten auch die Zeiten eines Wettbewerbsföderalismus

Wo man auch hinschaut, die neue Solidarität hat ihre Grenzen und verdeckt nur notdürftig die alten Konkurrenzen. In Deutschland sind Corona-Zeiten auch die Zeiten eines Wettbewerbsföderalismus in Sachen Infektionsschutz, der Wettlauf um die effektivsten Sicherheitsbestimmungen und die schnellsten Mundschutzgroßeinkäufe ist längst entbrannt. In Europa setzt sich das aus vorangegangenen Krisen bekannte Finanzgebaren der austeritätspolitischen Musterschüler gegenüber den südeuropäischen Sorgenkindern ebenso fort wie der erbärmliche Volksgemeinschaftsprotektionismus letztlich aller EU-Nationen gegenüber der existenziellen Not der Geflüchteten. Und selbst wenn etwa die europapolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion europäische „Corona-Bonds“ fordert, dann tut sie dies unter Befeuerung des mittlerweile offenbar unvermeidlichen, rassistisch grundierten Feindbilds von der gelben Gefahr: „Wenn wir nicht helfen, helfen andere“, so Franziska Brantner jüngst in der Tagesschau – und solche Fremdhilfe könne man nicht zulassen, denn es sei nicht im deutschen Interesse, dass „wir als Europäer als Wurmfortsatz der chinesischen Seidenstraße enden“.

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Stephan Lessenich ist Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Bei all dem gesellschaftlichen Schulterschluss gegen einen „unsichtbaren Feind“ sind mithin zugleich vielfache, offenkundige soziale Schließungen an der Tagesordnung der Corona-Krise. Plötzlich werden die „Vulnerablen“ unseres marktgesellschaftlichen Gemeinwesens entdeckt – aber es sind nicht die Hartz-IV-Empfängerhaushalte damit gemeint, die in Prosperitätszeiten systematisch an den Rand des gesellschaftlichen Lebens manövriert wurden, oder gar die migrantischen Arbeitssklaven, die auch im Ausnahmezustand gefälligst die deutsche Spargelernte sicherzustellen haben. Solidarität gilt nun wieder als der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält – und der sie aber eben zugleich auch trutzburgfest machen soll gegen all die Unbilden, die uns von außen drohen: das Virus, der Chinese, die Geflüchteten. „Minderjährige Flüchtlinge können kommen“, titelte die Tagesschau am vergangenen Dienstag – um dem Gebührenzahler mitzuteilen, dass die Bundesrepublik 50 (in Worten: fünfzig) unbegleitete Minderjährige aus griechischen Lagern aufnehmen will.

Nach Corona: Sicherung der existenziellen Bedarfe der Bevölkerung

Doch so enttäuschend diese Solidaritätsbilanz anmutet und einstweilen auch tatsächlich ist: In ihrer erkennbaren Begrenztheit, Unzulänglichkeit und Selbstbezüglichkeit scheint doch zugleich die Möglichkeit einer anderen, weitergehenden Praxis auf: die Ahnung davon, was Solidarität auch meinen könnte – und, wenn man vielleicht einmal für einen Moment die Fesseln des Denkens in Alternativen ablegt, wie eine andere Form der Vergesellschaftung aussehen könnte.

Dann nämlich sieht man ein öffentliches Gesundheitswesen, das auf die zuverlässige und frei zugängliche Sicherung der existenziellen Bedarfe der gesamten Bevölkerung hin ausgerichtet und ausgestattet ist; eine Wirtschaftspolitik, die systematisch nicht einer Ökonomie des Profitablen und Überflüssigen, sondern des Nötigen und Lebensnotwendigen den Vorzug gibt; schließlich eine Gesellschaftspolitik, die den Bürger*innen die sozialen Bedingungen und Bedingtheiten ihrer persönlichen Freiheiten in Erinnerung ruft und die institutionellen Voraussetzungen schafft für eine in diesem Sinne verstandene, in das Wissen um die Bedarfe und Bedürfnisse der Mitbürger*innen eingebettete Autonomie.

Utopisch? Aber sicher doch. Andererseits: Die damit umschriebene Utopie nennt sich schlicht Demokratie. Vielleicht feiert sie ja im Zeichen von Corona ihre Auferstehung, zumindest als Idee. Immerhin ist ja Ostern.

Applaus und Kulturgutscheine – reicht das wirklich?

Stephan Lessenich ist Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Die Serie

Mitten in der Krise über die Welt danach zu reden – ist das eine Zumutung? Haben wir nicht alle genug damit zu tun, die Beschränkungen des alltäglichen Lebens, die Angst vor der Erkrankung und den materiellen Folgen zu bewältigen? Wir haben uns entschieden, den Blick in die Zukunft dennoch zu wagen. Wir sind überzeugt, dass wir jetzt überlegen müssen, was auf Dauer anders werden muss, damit es für alle besser wird.

Sehr unterschiedliche Aspekte soll diese Serie abdecken: von der Erfahrung der fehlenden Verfügbarkeit über das eigene Leben bis zu einer grundlegenden Neugestaltung der Wirtschaftsordnung.

Viele Gastautorinnen und -autoren haben ihre Teilnahme zugesagt, etwa die Philosophinnen Nancy Fraser und Rahel Jaeggi, Soziologe Hartmut Rosa sowie der Erfolgsautor Paul Mason. Der nächste Teil erscheint am Mittwoch, 15. April. Bereits erschienen sind Beiträge von FR-Autor Stephan Hebel, der Soziologin Sabine Hark und der Linken-Politikerin Katja Kipping sowie ein Interview mit dem Zukunftsforscher Horst Opaschowski. FR 

Alle Teile der Serie online unter www.fr.de/welt-nach-corona

Die hier umschriebene Utopie nennt sich schlicht: Demokratie.

Mit einem Phasenmodell macht die indische Ärztin Monika Langeh Mut, die Corona-Krise als Chance für die persönliche Entwicklung zu nutzen. Sie erklärt, worauf es dabei ankommt.

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