Weitwanderweg Via Alpina: Zu Fuß von Monaco nach Slowenien

Wer auf der Via Alpina wandert, überschreitet Grenzen im wahrsten Sinne: Die Wege führen durch alle acht Alpenstaaten - ein europäisches Vorzeigeprojekt für nachhaltigen Tourismus. Gerhard Fitzthum erzählt von seiner Tour
Die neue Hängebrücke ist ein echter Segen. Ohne sie hätte sich der Abstieg in die Schlucht noch einmal deutlich verlängert. Das „Tal der tausend Stufen“ hat damit allerdings nur einen Teil seines Schreckens verloren. Denn es folgt der unvermeidliche Gegenanstieg durch einen lichten Lärchenwald. Auch hier scheinen die sorgsam aneinandergefügten Steinstufen kein Ende zu nehmen. Zuletzt taucht dann aber doch die ersehnte Einkehrstation am Horizont auf.
Wenig später sitzen wir unter den Sonnenschirmen des Pirchhofs und genießen den Blick auf die Gebirgskette des Ortlers. Die Terrasse ist gut besucht – von verschwitzten Streckenwandernden, die man an ihren großen Rucksäcken erkennt, aber auch von Halbschuhtourist:innen, die aus der fast 1000 Meter tiefer gelegenen Talsohle des Vinschgaus heraufgekommenen sind – mit dem Auto.
Der große Andrang ist kein Wunder – vom Eingang des Lokals prangt der „Rote Hahn“, das Südtiroler Gütesiegel einer nachhaltigen Berggastronomie: Mindestens 80 Prozent der verwendeten Produkte müssen aus dem eigenen Betrieb stammen. Wirtin Andrea Müller erfüllt die strengen Kriterien mit großer Überzeugung: „Coca Cola, Pommes und andere industriell gefertigten Produkte gibt es bei uns nicht!“
Der Fortbestand des Viergenerationenhofs steht auch deshalb nicht in Frage, weil der Meraner Höhenweg jedes Jahr Tausende von durstigen und hungrigen Wandernden anlockt. „Ohne die könnten wir hier oben nur schwer überleben“, sagt die Wirtin. Und das, obwohl man mit 30 Milchkühen und 100 Ziegen zu den größten Betrieben am Naturnser Sonnenberg gehöre. Die lukrative Wandersaison gestatte es, Rücklagen zu bilden, von denen sich im Winter zehren lasse – vier bis fünf harte Monate, in denen die Einnahmen aus dem Verkauf der landwirtschaftlichen Erzeugnisse kaum die Kosten deckten.
Ob die vorbeiziehenden Wandernden vom Überlebenskampf der Berglandwirtschaft wissen, ist ungewiss. Am Pirchhof drängt sich ja eher der Eindruck auf, es mit einer Goldgrube zu tun zu haben. Auch etwas anderes dürfte den meisten Rucksackträger:innen verborgen geblieben sein: die Tatsache, dass sie seit zwei Tagen nicht nur auf dem Meraner Höhenweg unterwegs sind, sondern zugleich auch auf der Via Alpina – den an der entsprechenden Beschilderung fehlt es.

Gegen die Via Alpina ist der vielbegangene Rundparcours um die Texel-Gruppe geradezu eine Kurzstrecke. Der eher unbekannte Fernwanderweg zieht sich von Triest über den gesamten Alpenhauptkamm bis nach Monaco – in 160 Etappen, die im Schnitt 15 Kilometer lang sind. Dazu gibt es noch vier Varianten, die von der Hauptroute abzweigen. Eine davon, der „Gelbe Weg“, beginnt im Allgäu, führt von dort erstmal direkt nach Süden und ist auf einigen Etappen mit dem Meraner Höhenweg identisch.
Die Via Alpina-Idee stammt vom französischen Verband „La Grande Traversée des Alpes“, dessen perfekt markierte Long Distance-Strecken sich schon seit 50 Jahren großer Beliebtheit erfreuen. Ende der 1990er Jahre fand er mit der Internationalen Alpenkonvention den nötigen Kooperationspartner. 1991 von den Umweltministerien aller acht Alpenanrainerstaaten unterzeichnet, zielt der gleichnamige Rahmenvertrag auf die angepasste und nachhaltige Entwicklung eines sensiblen Natur- und Kulturraums, in dem immerhin rund 14 Millionen Menschen leben. Das Via-Alpina-Netz gehört zu den ehrgeizigsten Umsetzungsprojekten der Alpenkonvention und wird seit 2014 von der Alpenschutzorganisation CIPRA betreut. Sich das Natur- und Kulturerbe des Europäischen Hochgebirges in Form einer Fußreise zu erschließen, gilt dort als Inbegriff eines dezentralen, natur- und sozialverträglichen Tourismus. Und das mit Recht, denn zum einen braucht es keine neuen Eingriffe in die immer schon von Fußwegen erschlossene Berglandschaft, und zum anderen erlebt man en passant nicht nur die Schönheit der Alpen, sondern auch ihre Gefährdung durch Klimawandel und Nutzungsdruck hautnah.
Wer erkannt hat, wie sehr selbst ein Vorzeigebetrieb wie der Pirchhof von der Weitwanderszene abhängig ist, kommt nicht umhin, die Via Alpina für eine brillante Idee zu halten. Schließlich profitieren von ihr auch die Alpengegenden, die sich nicht dem Wintersport und damit dem Massentourismus geöffnet haben. Was mancherorts funktioniert, funktioniert aber nur, weil eingeführte Marken wie der Meraner Höhenweg bereits für einen großen Zulauf sorgen, während in vielen der mehr als 6000 Alpengemeinden das Kapital eines alpenweiten Wegenetzes noch gar nicht erkannt wurde.

In den weniger frequentierten Regionen gibt es zudem kaum jemanden, der sich um die Pflege der Wege kümmert und die nötigen Markierungsarbeiten leistet. Das liegt nicht immer nur an der Ignoranz der lokalen Tourismusbehörden, die vermeintlich lukrativere Gästegruppen im Auge haben, sondern oftmals ganz einfach an der allgemeinen Entvölkerung. Der Kulturgeograph Werner Bätzing hat sich schon vor 40 Jahren die Mühe gemacht, die Bevölkerungsdaten aller Alpengemeinden zusammenzutragen und dabei eine besorgniserregende Zweiteilung festgestellt: Während im deutschsprachigen Alpenraum die Einwohner:innenzahlen stets zugenommen haben, gab es in vielen süd- und westalpinen Tälern einen regelrechten Exodus – was nicht nur auf die Entwertung der traditionellen bergbäuerlichen Landwirtschaft zurückzuführen ist, sondern auch auf das Fehlen der Nebenerwerbsmöglichkeiten im Fremdenverkehr. Für Menschen, die ihren Urlaub in Bayern oder Österreich verbringen, nur schwer vorstellbar, gibt es in zwei von fünf Alpengemeinden nach wie vor keinen nennenswerten Tourismus. Besonders düster ist die Situation in Italien, das den größten Anteil der Alpen besitzt und – von Südtirol abgesehen – keine ernstzunehmende Berggebietspolitik betreibt. Die Folge sind leere und verfallene Dörfer und die Aufgabe der letzten Landwirtschaftsbetriebe, wodurch die Bergweiden verwildern und auch die Wege zuwachsen. Statt Naturfans, die hier die eine oder andere Urlaubswoche verbringen und damit zur regionalen Wertschöpfung beitragen, gibt es nur die italienischen Wochenendler, die sonntag morgens mit ihren Autos die Täler hinaufkurven und am Abend wieder verschwunden sind.
Dass die Ruinen der friulanischen, ligurischen und piemontesischen Geisterdörfer langsam wieder zu Sommerhäusern für Auswärtige umgebaut werden, hilft da wenig. Im Gegenteil: Sind die Dörfer erstmal zu Wochenendresidenzen geworden, wird dort kaum noch jenes soziale Leben zurückkehren, das die Voraussetzung dafür ist, hier dauerhaft wohnen zu wollen. Schließlich bleiben die Rolläden der „Rusticos“ elf Monate im Jahr geschlossen. Und in der Ferne lebende Hauseigentümer:innen beteiligen sich kaum am Erhalt der Infrastruktur – an der Beseitigung von Erosionsschäden, an der Sicherung der Brunnen oder gar am Erhalt der Wege.
Spenden
Um der Via Alpina einen neuen Aufschwung zu verschaffen, hat die Alpenschutzorganisation CIPRA ein Crowdfunding ins Leben gerufen. Mit dem gesammelten Geld soll die Via Alpina-Webseite jetzt zu einer fünfsprachigen Netzwerkplattform ausgebaut werden, damit sich die Weitwanderszene umfassend informieren und austauschen kann. Infos, auch zu Spenden- möglichkeiten, unter www.cipra.org
Kein Wunder also, dass es der Via Alpina vielerorts an der nötigen Unterstützung fehlt. Wo das freizeitmäßige Zufußgehen nicht schon eine große Rolle spielt, weiß man oftmals nicht mal, dass die große Alpentraverse durchs Gemeindegebiet führt. Da käme auch niemand auf die Idee, eine Herberge zu eröffnen, um eine Handvoll Wandergäste zu verpflegen oder ihnen ein Nachtquartier anzubieten. Zumal der Wandertourismus immer nur ein Saisongeschäft ist und damit allenfalls als Nebeneinnahme taugt. Eine mangelhafte Unterstützung durch Staat und Region kann er nunmal nicht wettmachen, sondern allenfalls kleine Impulse setzen.
Gewiss, in manch abgeschiedem Tal haben diese kleinen Impulse bereits erstaunliche Wirkungen gezeitigt. In der von der Via Alpina gestreiften Valle Maira in Piemont etwa, wo man es gewagt hat, voll und ganz auf die „Escursionisti“ aus dem Norden zu setzen. Mittlerweile ist das „schwarze Loch der Alpen“ nicht einmal mehr ein Geheimtipp – kaum ein Wanderveranstalter, der den 100 Kilometer langen Talrundweg „Percorsi Occitani“ nicht im Programm hätte. Solche Erfolgsgeschichten sind aber die große Ausnahme geblieben. Schon ein Tal weiter kann von einem Engagement für das touristische Fußvolk keine Rede mehr sein. Oder es ist zu zaghaft, um die Chancen erkennbar zu machen und die Akteur:innen zum Weitermachen zu motivieren. Zum einen braucht man wirklich einen langen Atem, um das Wandern dort zu etablieren, wo es keinerlei Tradition hat. Und zum anderen leben die meisten Bewohner:innen vergessener Berggebiete im Bewusstsein, dass ihnen nichts und niemand helfen wird. Überzeugen könnte sie allenfalls eine plötzliche Vervielfachung der Rucksackreisenden wie etwa im Mairatal. Dies ist aber nicht zu erwarten, weil sich der Großteil der Langstreckenwandernden nach wie vor auf Routen wie dem Europäischen Fernwanderweg 5 („E5“) bewegt, die in der Saison überlaufen sind. Was im Mairatal geschah, gleicht folglich einem Wunder. Und auf Wunder sollte man bei der Bereitstellung touristischer Infrastrukturen besser nicht hoffen.
Zu denken, dass sich die Per Pedes-Fraktion im Laufe der Zeit immer gleichmäßiger über den ganzen Alpenbogen verteilt, wäre deshalb naiv. Zumindest haben die strukturschwächsten Berggebiete nicht die Zeit, darauf zu warten. Im Moment öffnet sich die Schere jedenfalls immer weiter: In touristischen Erfolgsregionen wie Südtirol werden immer professionellere Routenangebote geschaffen, während anderswo nicht nur das Knowhow fehlt, sondern auch das Geld, um die Wege instandzuhalten. Dass man an den Problemstellen mal schnell eine Hängebrücke installieren könnte, ist dort schier undenkbar.

Das alles wäre kein Thema, wenn man in den hochgelegenen Alpengemeinden andere Perspektiven hätte. Da die Berglandwirtschaft jenseits des Alpenhauptkamms keine Option mehr ist, bleibt den verbliebenen Menschen nur das Geschäft mit dem Tourismus oder eben das Pendlerdasein: jeden Morgen auf unzähligen Kurven hinab in die urbanen Speckgürtel zu fahren und dabei erstmal die Kinder in weit entfernten Schulen abzugeben. Viele verlassen irgendwann ihre Bergheimat – wodurch dort noch mehr Häuser in den Besitz von Menschen aus der Stadt geraten, deren Beitrag am dörflichen Leben sich darin erschöpft, ein paar Tage im Jahr Liegestühle im Vorgarten aufzustellen.
An dieser fatalen Dynamik hat die Existenz der Via Alpina bislang nichts ändern können. In den 20 Jahren ihres Bestehens ist es nicht wirklich gelungen, ihr Wanderwegnetz international bekannt zu machen. Nur Einzelne, Paare und kleine Gruppen tauchen in den Gebieten auf – passionierte und robuste Weitwandernde, die sich von fehlenden Infrastrukturen genau so wenig abschrecken lassen wie von großer Einsamkeit.
Dass der Wandertourismus auch dort etwas auszurichten vermag, wo er sich nur sehr langsam entwickelt, wird auf den Schlussetappen des „Gelben Wegs“ deutlich: Sie führen durch das italienisch-slowenische Grenzgebiet und damit durch eine der entvölkertsten Alpengegenden. An landschaftlichen Attraktionen fehlt es hier, zwischen Julischen und Karnischen Alpen, aber überhaupt nicht. Im Gegenteil: Auf dem Höhenzug des Kolovrat ist das Bergpanorama sogar eindrücklicher als vielerorts in den Zentralalpen, wo immer andere Berge im Wege stehen. Man schaut hinunter auf das 1000 Meter tiefer mäandernde Band der Soca, das türkisgrün heraufschimmert. Vom schönsten Wildfluss Zentraleuropas steigt der Blick dann zum Krn auf, dem südlichsten Zweitausender der Ostalpen – eine fantastische Felspyramide, in deren Schattenhängen noch Schneereste liegen. Dreht man sich um, so sieht man in der Ferne die Adria glitzern. Ein landschaftliches Gesamtkunstwerk. Trotzdem kein Mensch weit und breit, obwohl auch ein Fahrsträßchen heraufführt, das ohne Mautgebühren zu befahren ist.
Tribil di Sopra, slowenisch geprägt, aber auf italienischem Boden, ist ein Etappenort, den man nicht vergessen wird. Ein paar schön renovierte Steinhäuser sind von halbverfallenen Gebäuden umgeben, in denen sich die Fenster wohl nie mehr öffen werden. Von den einstmals 470 Einwohner:innen sind gerade mal 30 übriggeblieben. Wer nicht bereits pensioniert ist, muss zum Arbeiten auf einem schwindelerregenden Bergsträßchen mehr als eine halbe Stunde nach Cividale hinunterfahren.
Gerade an diesem Ende der Welt gibt es aber einen kleinen Hoffnungsschimmer. Er verdankt sich dem „Albergo Diffuso“-Konzept, das seine Anfangsschwierigkeiten bereits überwunden hat. Wer in diesem Niemandsland übernachten will, meldet sich bei einem zentralen Büro, das die Gäste auf eine Handvoll Privatquartiere verteilt. Gegessen wird in der ehemaligen Schule, wo einheimische Frauen ihre Kochkünste demonstrieren. Selbst in der abgehalftert wirkenden Locanda, die seit Jahren ums Überleben kämpft, spürt man jetzt eine ungewohnte Nachfrage nach Zimmern.
Für den kleinen Aufschwung sorgen nicht die Italiener:innen, die in den Agglomerationen von Udine und Venezia Mestre leben, sondern die Rucksackträger aus dem Norden, die noch vor wenigen Jahren für Relikte aus der touristischen Vorgeschichte gehalten wurden. Sie kommen auf dem vom Großglockner nach Triest führenden Alpe-Adria-Trail. In diesem Teilstück ist er nicht nur mit der Via Alpina, sondern auch mit dem Sentiero Italia identisch, einer Long-Distance-Route des italienischen Alpenvereins, die den südlichen Alpenraum durchquert, nördlich der Alpen aber völlig unbekannt ist. Zum Glück hat der Weg an diesem Ende der Welt viele Namen – auch wenn Via Alpina am schönsten klingt.