Wo deutsche Juden eine neue Heimat fanden

Ab den 1930er-Jahren wurde das New Yorker Viertel Washington Heights für viele zum Startpunkt in ein neues Leben. Deutschland ist für sie nur noch eine dunkle Erinnerung.
Mina Stern lebt seit 66 Jahren in New York, doch das Englische macht ihr bisweilen noch immer Mühe. Manchmal fällt ihr nicht gleich die richtige Vokabel ein, wenn sie eine Geschichte erzählt, Worte wie „Waschküche“, die sie dann einfach auf Deutsch sagt. Das „th“ bekommt sie auch nicht so recht hin, und wenn sie Ortsnamen aus ihrer einstigen Heimat wie „Gedern“ oder „Amöneburg“ sagt, dann klingt noch immer ein dickes Oberhessisch durch.
Sehnsucht nach Hessen hat Mina jedoch nicht. Im Gegenteil. Sie ist nicht ein einziges Mal in Deutschland gewesen, seit sie 1952 hier in New York angekommen ist. „Ich hasse Deutschland“, sagt sie mit Inbrunst. Dabei vertiefen sich die Furchen auf ihrem 96 Jahre alten Gesicht, das ansonsten eine warme Offenheit ausstrahlt.
Mina sitzt in der Kantine des jüdischen Gemeindezentrums an der Nagle Avenue und nippt an ihrem Kaffee. Sie kommt jeden Tag hierher zum Seniorenessen und bleibt dann oft den Nachmittag über. Es gibt Kaffee und Kuchen, manchmal auch Konzerte und immer die Gesellschaft ihrer Altersgenossen. An ihrem Tisch sitzen etwa Walter Kern und Margot Neuburger, beide sind wie Mina älter als 90 Jahre. Auch sie wurden als Juden in Deutschland geboren, in Worms und Berlin, sind den Nazis entkommen und in jener Gegend im Norden von Manhattan gelandet, die Washington Heights heißt. Und wie Mina sind sie hier hängen geblieben.

Es gibt nicht mehr viele von ihnen, den Deutsch-Juden von Washington Heights, ein paar Dutzend vielleicht. Die deutsche Bäckerei Gideons an der Dyckman Street hat Anfang der 90er Jahre geschlossen, ebenso das Kaufhaus Wertheimer und das Lokal „Nasch“. Spuren deutsch-jüdischen Lebens muss man heute suchen in den Heights, wo zwischen 1936 und 1955 etwa 30.000 deutsche Juden Zuflucht gefunden haben. Doch man findet sie noch, die Spuren. In der Eingangshalle des Hebrew Tabernacle etwa, der Reformsynagoge an der Fort Washington Avenue, die sich die namensgebenden Hügel der „Heights“ über dem Hudson bis zum Fort Tryon Park hinaufschlängelt. Dort hängen sepiafarbene Fotos und Zeichnungen der prachtvollen deutschen Synagogen, die 1938 zerstört wurden.
Oder im Fort Tryon Park selbst, der erhabene Ausblicke über den Fluss gibt, wie er, nicht unähnlich dem Rhein, am Fuß der Klippen des oberen Manhattan dem Atlantik und der Freiheitsstatue entgegenrollt. Eingeschraubt in die Parkbänke sind im Schatten großer alter Ahornbäume Messingplättchen mit Widmungen wie jene, die der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger seinem Vater Louis hinterlassen hat. Es ist ein Rilke-Zitat, mit dem der 1923 in Fürth geborene Kissinger, der auch in Washington Heights seine Jugend verbracht hat, seiner Eltern gedenkt: „Sieh: ich fühle, wie ich mich entferne, wie ich Altes, Blatt um Blatt, verlier. Nur dein Lächeln steht wie lauter Sterne über dir und bald auch über mir.“
Juden in New York: Henry Kissinger wuchs nach der Flucht aus Deutschland in Washington Heights auf
Kissinger ließ sich von den Nazis seinen Rilke nicht nehmen. So, wie Mina Stern bis heute das Oberhessische nicht los wird, weil es doch genauso Teil von ihr ist, wie ihr Judentum. Doch es ist ein Teil, der schmerzt. Denn wie soll schon eine Frau zu Deutschland stehen, der im Alter von fünfzehn Jahren die Eltern weggenommen und ermordet wurden und die nach einer mehr als zehnjährigen Odyssee durch Ghettos, Konzentrations- und Flüchtlingslager allein und mittellos im New Yorker Hafen ankam. Es ist die Zerrissenheit, mit der viele deutsche Juden und schon gar die Generation der Überlebenden zu kämpfen haben, jene Unmöglichkeit, sich mit den deutschen Anteilen ihrer Identität wirklich zu versöhnen. Und hier in Washington Heights ist diese innere Spaltung bis heute spürbar.
Manfred Kirchheimer hat über viele Jahre diesen Identitätsbruch zum Thema und Inhalt seines Lebens und Schaffens gemacht. Sein Dokumentarfilm „We were so beloved“, für den er in den 80er Jahren Dutzende der in Deutschland geborenen Juden von Washington Heights interviewt hat, kreist immer wieder um die Frage, was es bedeutet, deutsch zu sein und Jude zu sein. Für Kirchheimer ist die Frage zutiefst persönlich. Er wurde 1931 als Sohn eines Werbezeichners in Saarbrücken geboren. Als sein Vater 1935 seine Arbeit verlor, packte seine Familie die Sachen und flüchtete. 1936 kamen die Kirchheimers in Washington Heights an, wo „Manny“, wie er sich in New York nennt, lebte, bis er zur Kunsthochschule ging.
Heute wohnt der 88-Jährige, der Dutzende hochgelobter Filmessays über New York gedreht hat, an der Upper West Side, fünf Kilometer südlich von Washington Heights. Er ist ein wenig zittrig geworden im Alter, doch seine Augen sind nach wie vor so sanft und wach wie damals in seinem Film. Seine deutsche, brüterische Nachdenklichkeit ist ebenfalls nach wie vor quicklebendig. „Eigentlich“, sagt er, während er sich in einem Stammdiner am Broadway zum Lunch niederlässt, „habe ich das Thema Deutschland für mich abgeschlossen“. Alles, was er dazu zu sagen gehabt habe, habe er in dem Film gesagt.

Am Ende des Films, der die Schicksale der Holocaust-Überlebenden von Washington Heights erzählt, kommt Kirchheimer zu einer eher unversöhnlichen Haltung gegenüber Deutschland. Er erlangt zwar auch einen distanzierten, intellektuellen Blick auf das Dritte Reich, der die Ursachen für das Geschehene nachvollziehen kann. „Verzeihen“, sagt er jedoch schließlich, „werde ich es nie können, was die Deutschen gemacht haben.“ Dennoch bewegt Manny sich heute unbefangen durch Deutschland und begegnet Deutschen, die nach dem Krieg geboren wurden, offen. Er hat seine Filme auf Festivals in Saarbrücken, Mannheim und Berlin gezeigt und dort Freundschaften geschlossen. „Alles gute Linke“, sagt er. „Ich habe keine Probleme mit denen.“
Der Wendepunkt, der ihn gegenüber dem Nachkriegsdeutschland schließlich doch geöffnet hat, sagt Manny Kirchheimer, sei für ihn gekommen, als die USA in den Vietnam-Krieg gezogen sind. Wie viele junge Amerikaner habe er damals heftig gegen den Krieg und die Grausamkeiten protestiert, welche die USA dort begingen. Dabei habe er erstmals für die durchschnittlichen Deutschen Verständnis entwickelt. „Plötzlich gehörte ich als Amerikaner auch zu denen, die Schuld auf sich geladen haben.“
Die Besuche in Deutschland haben Manny Kirchheimer aber auch auf andere Art mit seinem eigenen Deutschsein konfrontiert und bis zu einem gewissen Grad auch versöhnt. „Ich habe plötzlich begriffen, wie viel von unserem täglichen Leben deutsch war.“ Der tägliche Nachmittagskaffee, die Vitrine mit Porzellan-Nippes, der große Esstisch in der Mitte des Wohnzimmers, die schweren alten Möbel – Dinge, die in Washington Heights in seiner Jugend üblich waren, wurden ihm plötzlich als deutsch erkennbar. „Ich dachte als Junge immer, das sei jüdisch.“
Juden in New York: Dr. Ruth Westheimer ist die letzte Prominente in Washington Heights
Im Wohnzimmer von Ruth Westheimer, die in Washington Heights alle nur „Dr. Ruth“ nennen, sieht es heute noch so aus. Dr. Ruth wohnt seit mehr als 50 Jahren im neunten Stock eines 30er-Jahre-Apartmenthauses direkt unterhalb des Fort Tryon Parks. Aus ihren Fenstern hat man großartige Blicke über den Fluss, die monumentale George Washington Bridge, die sich beinahe drei Kilometer lang hinüber nach New Jersey spannt und auf die felsige Steilküste auf der anderen Seite.
Dr. Ruth ist die letzte der prominenten New Yorker aus Washington Heights, die noch hier leben. Henry Kissinger hat seine politische Karriere in Washington gemacht, die Künstlerin Eva Hesse ist schon 1970 verstorben, der Journalist Max Frankel, ehemaliger Chefredakteur der New York Times, lebt in den Vororten. Dr. Ruth nennt Washington Heights ihre Heimat, sie hat nie mehr irgendwo anders leben wollen, seit sie 1956 nach einer langen Odyssee hier ankam. Dr. Ruths Eltern wurden im November 1938, am Tag nach der Reichspogromnacht, aus Frankfurt deportiert, sie sollte sie nie mehr wiedersehen. Sie selbst wurde per Kindertransport in die Schweiz gerettet, wo sie die Kriegsjahre verbrachte, immer in der Hoffnung, ihre Eltern wiederzusehen.
Als Dr. Ruth 1945 erfuhr, dass ihre Familie in den Lagern ermordet worden war, wanderte sie nach Palästina aus und kämpfte in der Haganah als Scharfschützin für den Staat Israel. Wirklich heimisch wurde sie da jedoch nicht: „Immer nur Orangen ernten wurde mir irgendwann ziemlich langweilig“, sagt sie in ihrem markanten Frankfurt-Amerikanisch. Sie ging nach Paris, um Psychologie zu studieren, doch sie blieb rastlos. Als sie in der deutsch-jüdischen Zeitung vom Aufbau von Washington Heights las, entschloss sie sich deshalb, es einmal mit New York zu versuchen.

Erst hier im Norden Manhattans hatte Dr. Ruth das Gefühl, anzukommen. Die Heights funktionierten wie viele Einwandererviertel von New York, diejenigen, die schon da waren, halfen den Neuankömmlingen, Fuß zu fassen. Man wurde untergebracht, bekam Jobs vermittelt und hatte vor allem eine Gemeinschaft von Menschen, die einen verstanden. „Jeden Freitag“, erinnert sich Doktor Ruth, „hat der Kantor unserer Synagoge alle die zu sich nach Hause eingeladen, die keine Familie mehr hatten.“ Dr. Ruth genoss aber auch die deutschen Kaffeekränzchen in Washington Heights, die Musikabende mit Mozart und Beethoven und den deutschen Gurkensalat mit Essig bei Spritzers an der 175th Street. Und sie genoss die Tatsache, dass man die merkwürdige Gespaltenheit zwischen dem Deutschsein und dem Jüdischsein, die sie auch mit ihrem späteren Ehemann Fred Westheimer teilte, hier verstand.
Als Dr. Ruth ankam, waren die deutschen Juden in Washington Heights längst wohletabliert. Ab Anfang der 50er Jahre flossen die Reparationszahlungen aus der Bundesrepublik, die den Einwanderern, die oft mit nichts im Hafen von New York angekommen waren, zum ersten Mal ein gewisses Maß an Sicherheit boten. Ein Komplex an Eigentumswohnungen, der damals gebaut wurde, heißt heute noch unter Eingeweihten „Adenauer Houses.“
Die vorangegangenen 20 Jahre waren für die deutschen Juden in Washington Heights jedoch alles andere als einfach gewesen. Wer vor 1938 von den Nazis die Ausreise bewilligt bekam, durfte nicht mehr als 10 Mark mitbringen – der Gegenwert von gerade einmal vier Dollar. Wohlhabende Familien, die sich rechtzeitig zur Emigration entschlossen hatten, konnten zumindest noch einen Container mit Möbeln und Privatgegenständen mitnehmen. In Washington Heights angekommen, teilten sich oft zwei oder drei Familien eine Wohnung. Arbeit war nicht leicht zu bekommen, in Deutschland erlernte Berufe zählten hier meist nur wenig, die Sprachbarriere tat das Übrige.
Juden in New York: Reibereien mit irischen Jugendgangs
Doch die Deutschen taten klaglos, was sie eben tun mussten. So erinnert sich Helen Blumenthal, die 1942 hier geboren wurde, dass ihre Mutter jeden Tag für ein Dutzend alleinstehende Männer kochte, denen sie jeweils 50 Cents für das Abendessen abnahm. Der Drahtwarenfabrikant Ernst Wertheimer aus Ludwigsburg nahm einen Kredit auf und eröffnete in New Jersey, auf der anderen Seite des Flusses, eine Hühnerfarm. Manny Kirchheimers Vater Bert hatte Glück und fand bald Arbeit als Zeichner für eine Frauenillustrierte.
Der Stoizismus, der sprichwörtliche Fleiß und der rasche soziale Aufstieg machte die Deutschen bei ihren Nachbarn teilweise unbeliebt. „Die osteuropäischen Juden und die irischen Katholiken, die in der Gegend wohnten, waren oft neidisch und argwöhnisch“, sagt der Historiker Robert Snyder, der selbst in der Gegend aufgewachsen ist und ein Buch über Washington Heights geschrieben hat. So kam es bisweilen zu Reibereien; irische Jugendgangs kamen abends über den Broadway in die deutsche Gegend und mischten die deutschen Jugendlichen auf, die sich dort an warmen Abenden an einer Mauer mit Blick auf den Fluss trafen, um zu flirten und zu reden und einfach nur jung zu sein.
Wenn man heute den Broadway zwischen der 155th und der 190th Street hinaufläuft, findet man jedoch genauso wenig noch Spuren irischen wie deutsch-jüdischen Lebens. Bis auf das Coogan’s an der 168th gibt es keinen Irish Pub mehr und wenn es noch katholische Kirchen gibt, dann halten sie die Gottesdienste auf Spanisch. Aus den Bodegas klingt Salsa, die Hühnerbratereien tragen Namen wie „Malecon“ oder „Tropical“. Beide Gruppen, die Juden von Washington Heights sowie die Iren, wurden schon ab den 60er Jahren von einer neuen Gruppe von Flüchtlingen verdrängt: den Dominikanern und den Kubanern. Ein Vorgang, den schon Manny Kirchheimers Film von 1985 beschreibt.

Die Umwälzung spaltete schon damals die deutsch-jüdische Gemeinde. Manche fanden sich bedroht und beklagten sich, sehr deutsch, dass es so laut auf der Straße geworden sei und dass die Hispanics Drogen und Kriminalität in die Nachbarschaft brächten. Andere, so wie Manny Kirchheimer selbst, haben schon damals gesagt, dass man die Neuankömmlinge so offen aufnehmen müsse, wie man selbst aufgenommen worden sei. „Das ist eine klare Verpflichtung bei unserer Geschichte.“
Das sehen auch die Erben der deutschen Juden in Washington Heights so. So lädt der Rabbi Jeffrey Gale, der aus Indiana stammt und heute dem Hebrew Tabernacle vorsteht, im Frühjahr 2019 zu einer Diskussionsveranstaltung mit Vertretern der südamerikanischen Einwanderer in seine Synagoge. Man bekräftigt die Solidarität mit den Nachbarn angesichts des Drucks durch die Trump-Regierung, der auf der Gemeinde lastet. „Wir dürfen uns gerade heute nicht einigeln“, sagt der Rabbiner. „Was auf der anderen Seite des Broadway passiert, betrifft auch uns. Wenn undokumentierte Einwanderer zu Sündenböcken gemacht werden, leidet die ganze Community darunter.“ Die wenigen Überlebenden der alten deutsch-jüdischen Gemeinde, die im Saal sitzen, spenden Rabbi Gale beherzt Beifall für die feurige Rede. Viele sind es nicht. Dr. Ruth ist da und Harry Stern, geboren Heinz Stern aus Stuttgart, der in den 70er Jahren für die Stadt New York die Parks verwaltete. Ein paar Deutsch-Juden der zweiten und dritten Generation, die noch Bindungen an das Hebrew Tabernacle haben, sind auch gekommen.
Doch sie verschwinden nach und nach aus Washington Heights. Es lag den deutschen Juden am Ende doch nicht, über Generationen unter sich zu bleiben. „Die deutschen Juden waren in Deutschland voll in die Gesellschaft integriert“, sagt Robert Snyder. „Sie waren hier in New York erstmals – ohne Ansehen des sozialen Status – abgeschottet und unter sich.“ Das hat gut funktioniert, um in den USA Fuß zu fassen und ein neues Leben zu beginnen. Doch heute ist Deutschland für die meisten nur noch eine dunkle Erinnerung. Ihr Leben ist hier.