Warum die Eis-Warnung die Titanic nicht erreichte

Ein 14-jähriger Funker-Lehrling war der erste Mensch in Amerika, der von der Titanic-Katastrophe erfuhr. Jahrzehntelang verschwieg er dieses historische Detail - auch auf Geheiß seiner Vorgesetzten.
Es schien eine Nacht zu werden wie viele andere in der Telegrafenstation von Cape Race. Jimmy Myrick, ein 14 Jahre alter Funker-Lehrling, saß vor dem Empfangsgerät und sortierte Meldungen. Sein Chef war gerade in der Pause und Jimmy hatte alle Hände voll zu tun. Auf dem Tisch stapelten sich hunderte Zettel - meist belanglose Reisegrüße von Schiffspassagieren nach Hause. Routine also.
Doch um 10 Uhr 25 Uhr Ostküstenzeit wurde die Routine jäh unterbrochen. Myrick vernahm einen besonders markanten Code: CQD - CQD - CQD. Es war das maritime Notrufsignal. Was um aller Welt war wohl geschehen? Jimmy rannte aus seinem kleinen Holzschuppen ins Freie, um seine Vorgesetzten zu alarmieren. Es war die Nacht zum 15. April 1912.
Gut sechshundert Kilometer von der Telegrafenstation entfernt saß zu diesem Zeitpunkt Jack Phillips, der Funker der Titanic, in seiner Kabine und sendete verzweifelte Hilferufe nach draußen. Auch nach Cape Race. Die Marconi-Station an der Küste Neufundlands war damals ein strategisch wichtiger Ort. Hier gingen die drahtlosen Nachrichten aus Europa und von Passagierschiffen ein, bevor sie in die großen Städte Amerikas wie New York, Boston oder Chicago weitergegeben wurden.
Auch die Titanic war stets in Kontakt mit der Station. Schiffsfunker Phillips war so sehr mit der Routinepost nach Cape Race befasst, dass er genervt auf die Eiswarnungen seiner Kollegen reagierte. "Halt's Maul, ich bin beschäftigt. Ich arbeite an Post für Cape Race", soll Phillips den Funker eines anderen Schiffs angeschnauzt haben. Mit fatalen Folgen: Kurz danach rammte die Titanic einen Eisberg, und es sollte weniger als drei Stunden dauern, bis sie sank und 1500 Menschen mit sich riss.
Jimmy Myrick, der junge Lehrling aus Cape Race, war der erste Mensch in Amerika, der von dem Unglück erfuhr. Jahrzehntelang verschwieg er dieses historische Detail, nicht zuletzt auf Geheiß seiner Vorgesetzten. Die Welt sollte nicht wissen, dass der Junge von den Verantwortlichen für einen Moment alleine in der Station gelassen wurde. Erst kurz vor seinem Tod im Jahre 1990 erzählte Jimmy die Geschichte seiner Familie.
Hundert Jahre nach dem Ereignis sitzt wieder ein Myrick in der Funkstation von Cape Race und tippt flink auf einem Morsegerät herum. Es ist David Myrick, Jimmys Großneffe. David kennt die Geschichte jener Nacht aus vielen Erzählungen in der Familie und berichtet: "Nachdem Jimmy die Nachricht weitergegeben hatte, gab es erst große Aufregung in der Funkstation. Danach nahmen seine Vorgesetzten die Sache in die Hand und die Nachricht vom Unglück der Titanic ging um die ganze Welt."
David Myrick ist 73 Jahre alt und selbst in Cape Race aufgewachsen. Das Morse-Alphabet kann er fließend seit er sieben Jahre alt ist. Gelernt hat er es von seinen Eltern, die noch bis 1955 am Kap lebten und arbeiteten. Danach zogen sie in die Großstadt und Myrick heuerte beim staatlichen Rundfunk an. Doch er sagt: "Ich habe diesen Ort nie wirklich verlassen. Er ist meine Heimat." Über 800 Mal war er in den letzten zehn Jahren hier. Im Sommer übernachtet er im Wohnmobil auf dem Kap.
Cape Race ist ein Ort am Ende der Welt, am östlichsten Rande des Kontinents. Meist weht ein eisiger Wind über das Plateau und Wellen zerbersten an den Felsen. Möwen kämpfen gegen die Böen, ansonsten ist an dem Kap nicht viel los. Nur über einen 20 Kilometer langen Schotterweg kommt man überhaupt hierher. Es hat ein paar kleine Fischerhütten, ein Häuschen, drei Holzschuppen und ein Leuchtturm. Bis 2007 wurde er von der Familie Myrick betrieben. Die Funkstation selbst brannte kurz dem Titanic-Unglück nieder und wurde nun originalgetreu wieder aufgebaut.
Heute beherbergt das rote Holzgebäude ein kleines Museum, eine Funkstation für Amateure und ist pünktlich zum Jubiläum frisch gestrichen worden. An den Wänden hängen ein paar alte Telefone und Morsegeräte. Im Garten steht eine hohe Antenne. Bei den geplanten Gedenkfeiern zum Jahrestag der Titanic-Katastrophe wird es eine zentrale Rolle spielen - und David Myrick ist der Hauptakteur.
Auf die Minute genau einhundert Jahre nach dem Untergang der Titanic wird David Myrick wie einst sein Großonkel in der kleinen Kabine sitzen. In der Nacht zum 15. April 2012 wird er in der Station hoch oben auf dem Felsen von Cape Race auf Signale von draußen vom Atlantik warten und diese an Hobby-Funker rund um den Globus weiterreichen. "Wir wollen den Original-Funkverkehr von damals simulieren und so den Opfern der Tragödie gedenken", berichtet Myrick. Fernsehsender aus aller Welt sind live dabei.
Myrick und seine Kollegen wollen bei der Aktion auch mit Nachkommen der Opfer funken und Kreuzfahrtschiffe wie die "MS Balmoral" kontaktieren. Der ausverkaufte Luxusliner wird in der Nacht zum 15. April exakt an jener Stelle Halt machen, an der die Titanic hundert Jahre zuvor gesunken war. Eine Auflage für die Gedenkfeier haben alle Beteiligten allerdings bekommen. Das "SOS"-Notrufsignal muss tabu bleiben, um keine Verwirrung zu stiften. Es war übrigens ausgerechnet die Titanic, die den heute gebräuchlichen SOS-Code zum ersten Mal verwendet hatte - Minuten bevor sie sank.