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Vatersuche mit Gentest: Vom Gefühl dazuzugehören

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Als „Halfie“ bezeichnet sich Melanie selbst. Halb deutsch, halb britisch.
Als „Halfie“ bezeichnet sich Melanie selbst. Halb deutsch, halb britisch. © Friederike Walch-Nasseri

Ohne zu ahnen, was ihr bevorsteht, macht Melanie Wright-Althoff einen Gentest. Was folgt, ist die Suche nach nicht nur einem, sondern zwei Vätern – und die Frage nach der eigenen Identität. Von Friederike Walch-Nasseri.

Dezember 2017: Melanie Wright-Althoff bohrt mit einem Wattestäbchen in ihrem Mund herum. Bei einem Abstrich auf der Innenseite der Wange bleiben Speichel und Zellen der Mundschleimhaut auf dem kleinen Tupfer haften. Melanie packt das Wattestäbchen in ein Plastikröhrchen und schickt es an das Labor eines Genealogie-Unternehmens. „Ich hab den Test wirklich nur zum Spaß gemacht. Mir ging es nicht darum, Familie zu finden, sondern nur um eine Ethnizitätseinschätzung.“

Mehr als zwei Jahre später, am 3. Mai 2020, ploppt auf Melanies Handy eine Nachricht auf. Die Absenderin, Anne Marie, kommt aus Manchester. Sie schreibt: „Ich habe vor kurzem meine DNA-Ergebnisse bekommen und demnach bist Du meine Cousine ersten Grades. Ich habe meine Mutter und meinen Vater gefragt, Dein Name kommt ihnen nicht bekannt vor. Kannst du mir helfen zu verstehen, wie es sein kann, dass wir beide Cousinen sind?“

Melanie ist verwirrt. Sie kennt keine Anne Marie. Bei jedem Versuch, eine Antwort auf Anne Maries Nachricht zu finden, begegnet Melanie noch mehr Fragen: Wer bin ich? Wo liegen meine Wurzeln? Und wer ist mein Vater?

Melanie sitzt in ihrem Garten auf gepolsterten Korbmöbeln und blättert in einem dicken Fotoalbum. Die 42-Jährige aus Düren betrachtet Bilder aus ihrer Kindheit. Wer auf den Fotos fehlt, ist ihr Vater. Melanies Eltern lernten sich kennen, während er als britischer Soldat in Nordrhein-Westfalen stationiert war. Als Melanie auf die Welt kommt, lebt ihr Vater wieder in seiner Heimatstadt Belfast in Nordirland. Den Kontakt zu seiner Tochter sucht er nie.

In der ersten Klasse hat Melanie eine Freundin, deren Vater ebenfalls Brite ist. „Ich habe mich immer gefragt: Sieht mein Papa genauso aus?“ Melanie beginnt, sich den Vater als ihren persönlichen Helden vorzustellen. „Papa war toll, Papa konnte alles.“ Ihre Mutter habe nie schlecht über ihn gesprochen. „Man hat einfach gemerkt, sie hat ihn wirklich geliebt.“ Melanies Mutter unterstützt ihre Tochter, als sie ihrem Vater zum ersten Mal Briefe schreibt.

Melanie verschwindet in der Terrassentür und kommt mit einer großen Holzbox zurück. Darin liegen Briefe, blütenweiße, cremefarbene und braune, gestempelt, viele mit Luftpost-Aufklebern. Melanie öffnet einen der Umschläge und liest auf dem vergilbten Papier. Ihr Vater erzählt von seiner neuen Familie in Belfast, von Melanies drei Halbgeschwistern, schickt ihr Fotos.

Mit der Zeit mischt sich Melanies Bewunderung für ihren Vater mit Wut und Enttäuschung. Er fehlt in ihrem Leben. „Als ich in der fünften oder sechsten Klasse war, gab es schwere Unruhen während des Nordirlandkonflikts. Ich habe meinen Freunden erzählt, mein Vater sei dabei ums Leben gekommen.“ Melanie bricht den Kontakt ab. Ihre Fragen bleiben. „Du willst irgendwann wissen: Wo kommst du her? Wer bist du?“ Melanie bezeichnet sich selbst als Halfie. Halb deutsch, halb britisch. Über ihre deutsche Herkunft weiß sie viel. „Aber da war noch ein Teil von mir, den ich nicht kannte.“

Nach Jahren der Funkstille hat Melanie keine Telefonnummer, keine aktuelle Adresse mehr von ihrem Vater. Sie beauftragt einen internationalen Suchdienst, um ihn zu finden. „Insgesamt drei oder vier Jahre hat das gedauert.“ Melanie ist inzwischen Anfang 20. Sie erinnert sich noch an den Moment, in dem ihre Mutter sie aufgeregt angerufen hat: “Hör mal, bei mir hat gerade das Telefon geklingelt. Das war der Papa.“ Nach den ersten Gesprächen mit ihrem Vater ist Melanie überwältigt. „Ich hab geweint wie ein kleines Mädchen“, erinnert sie sich. „Da war auf einmal dieses ,das ist mein Papa‘.“

Auf Melanies linkem Unterarm sind mit schwarzer Tinte die Worte Béal Feirste tätowiert. Béal Feirste bedeutet Belfast auf irisch-gälisch. Unter dem Namen der Heimatstadt ihres Vaters hat Melanie sich einen keltischen Knoten stechen lassen – ein Symbol für ihre Wurzeln.

Anfang August 2001. Melanie ist vier Stunden zu früh am Flughafen. „Ich war so nervös.“ Während sie vom ersten Treffen mit ihrem Vater erzählt, wird Melanies Stimme höher und sie redet noch ein bisschen schneller als sonst. „Seine Reisetasche flog quer durch die Halle und er ist einfach nur gerannt. Das war so schön. Ich hatte das Gefühl: der liebt mich.“ Eine Woche bleibt er in Deutschland. „Das war ein totales Highlight für mich. Mein Vater hat Zeit mit mir verbracht. Er hat sich für mich interessiert.“

die Stipendium

Friederike Walch-Nasseri , die Autorin dieses Stückes, ist Stipendiatin der Karl-Gerold-Stiftung.

Die Stiftung wurde vom langjährigen FR Herausgeber und Chefredakteur Karl Gerold gegründet und verleiht regelmäßig Fördergelder und Reisestipendien an Nachwuchsjournalistinnnen und -journalisten.

Mehr Informationen zu dem Stipendium und der Bewerbung dafür finden Sie auf: https:// karl-gerold-stiftung.de

In den folgenden Jahren fliegt Melanie mehrmals nach Nordirland, um ihre neue Familie kennen zu lernen. Auch bei der Beerdigung ihrer irischen Großmutter 2015 ist Melanie dabei. Dennoch sind die Beziehungen zwischen ihr und der irischen Verwandtschaft nicht immer leicht. Die Euphorie der ersten Begegnung ist verflogen. Immer wieder ist Melanie enttäuscht. „Ich habe versucht, die Bindung aufrechtzuerhalten. Aber es kam immer nur von mir. Wenn ich so zurückblicke, hatte ich nie das Gefühl, dazuzugehören.“ Wenn Melanie von der Beziehung zu ihrem Vater erzählt, wird die laute, selbstbewusste Frau leiser, gerät ins Stocken. Ab 2003 geht Melanie zur Psychotherapie. Sie versucht das Verhältnis zum Vater aufzuarbeiten. „In der Therapie hab ich das erste Mal um die Beziehung zu meinem Vater geweint.“

Ende 2017 sieht Melanie im Fernsehen die Werbung eines Genealogie-Unternehmens. Für 79 Euro bietet es sowohl eine Einschätzung über die ethnischen Wurzeln als auch die Möglichkeit, mit sogenannten DNA-Matches Verwandtschaft auf der ganzen Welt zu finden. Melanie hat Unterlagen zur Ahnenforschung von ihren deutschen Großeltern geerbt. „Mein Opa hat immer vermutet, dass wir französische Vorfahren haben.“ Melanie will das genauer wissen. Sie bestellt einen Gentest im Sonderangebot. Den Test, der Melanies Identität in Frage stellen wird.

Nach etwa vier Wochen erscheinen die Ergebnisse in einer App. Französische Vorfahren lassen sich nicht nachweisen. Melanies Testergebnis zeigt außerdem mehrere DNA-Matches, allerdings nur von entfernter Verwandtschaft, Cousinen fünften oder sechsten Grades. Bis zum 3. Mai 2020.

An diesem Tag bekommt Melanie die Nachricht von Anne Marie aus Manchester. Genau wie Melanie hat Anne Marie den Gentest nur gemacht, um zu erfahren, aus welchen Teilen der Welt ihre Vorfahren stammen. Keine der beiden Frauen kann sich erklären, warum sie laut Testergebnis Cousinen sein sollen. Vielleicht ein Auswertungsfehler? Vielleicht gibt es ja auch Nachkommen von Melanies britischen Großeltern, von denen sie nichts weiß? In den folgenden Wochen schreiben sich die beiden immer wieder und versuchen, gemeinsame Verwandte zu finden.

Im August 2020 meldet sich Anne Marie mit neuen Infos. Sie erzählt Melanie, der Einzige aus ihrer Familie, der mal in Deutschland gelebt habe, sei ihr Onkel, während seiner Militärzeit. Noch immer ist Melanie überzeugt: Es muss noch eine andere Verbindung geben. „Ich habe erst angefangen zu zweifeln, als mir Anne Marie erzählt hat, dass ihr Onkel Kevin zur selben Zeit in derselben Kaserne stationiert war wie mein Vater.“ Melanies Gewissheit, den fehlenden Vater in ihrem Leben gefunden zu haben, gerät ins Wanken.

Melanie hatte wenig Kontakt zu ihrer ersten Vaterfigur, einzig seine Briefe bleiben ihr.
Melanie hatte wenig Kontakt zu ihrer ersten Vaterfigur, einzig seine Briefe bleiben ihr. © Friederike Walch-Nasseri

Ende 2020 wird Melanie immer ungeduldiger. Sie macht einen weiteren Gentest und sendet hierfür eine Speichelprobe an ein zweites Genealogie-Unternehmen. Dort werden ihr aber nur die bisherigen Ergebnisse bestätigt. Melanie hält das Warten nicht länger aus. Sie sucht Anne Maries Onkel Kevin auf Facebook. „Zuerst sah ich keine Ähnlichkeit zu mir. Aber dann dachte ich: Oh, der hat ja meine Augenfarbe.“

Anne Marie zeigt ihrer Mutter Bilder von Melanie. Anne Maries Mutter findet, Melanie sieht den Töchtern ihres Bruders Kevin auffällig ähnlich. Sie beschließt, ebenfalls einen Test zu machen. Melanies Unsicherheit wächst.

An einem Abend Mitte März 2021 ist Melanie im Auto unterwegs zum Einkaufen, als eine neue Nachricht auf ihrem Handy aufleuchtet. Sie habe neue DNA-Matches. „Ich war fix und fertig, mir ging die Pumpe.“ Während Melanie auf dem Edeka-Parkplatz in ihrem schwarzen Twingo sitzt, sickert die Erkenntnis langsam zu ihr durch: Laut DNA-Analyse ist Anne Maries Mutter ihre Tante. „Ich war geschockt.“

Melanie kontaktiert den Mann, von dem sie bisher überzeugt war, dass er ihr Vater ist. Sie bittet ihn, ebenfalls einen Test zu machen. Mit einer Woche Verspätung erhält Melanie endlich die Ergebnisse. Nur, dass es keine Ergebnisse gibt. Laut DNA-Analyse existieren keine genetischen Übereinstimmungen zwischen Melanie und ihrem vermeintlichen Vater aus Irland.

Melanie hat Angst. Angst davor, einen Vater zu verlieren, den sie so lange unbedingt in ihrem Leben haben wollte. Und Angst davor, ein weiteres Mal von einem Vater, den sie gar nicht kennt, abgewiesen und enttäuscht zu werden. „Ich wusste ja nicht, wie er reagiert.“ Melanie will die Privatsphäre von Kevins Familie nicht verletzen. Er ist seit 33 Jahren verheiratet, hat drei Töchter. „Ich hätte ihn nie, niemals im Leben von alleine angeschrieben.“

Anne Marie schickt Bilder von Melanies Familie an ihren Onkel. Auf einem Foto erkennt Kevin tatsächlich eine Person: Melanies Mutter. Anne Marie erzählt Kevin, dass er wahrscheinlich eine vierte Tochter hat.

Die Briefe aus Belfast.
Die Briefe aus Belfast. © Friederike Walch-Nasseri

Melanie vermutet, ihre Mutter hat Kevin getroffen, bevor sie mit dem vermeintlichen Vater aus Irland zusammenkam. Kevin war zu dem Zeitpunkt wohl schon wieder in Manchester. Ihre Mutter erzählt kaum von dieser Zeit. Bis jetzt steht sie den Ergebnissen aus den DNA-Tests skeptisch gegenüber und möchte auf Anfrage auch nicht darüber sprechen. Melanie versteht das. Sie weiß, ihre Mutter hatte es oft nicht leicht, allein mit einer kleinen Tochter. Die Ergebnisse müssen für sie kaum zu glauben sein.

Anfang Mai bekommt Melanie schließlich eine Nachricht von Kevins ältester Tochter. Sie überzeugt Melanie, ihrem Vater eine Nachricht zu schicken. Kurze Zeit später schreibt Melanie zum ersten Mal an den Mann, den sie inzwischen für ihren biologischen Vater hält:

„Hallo Kevin, hier ist Melanie. Ich hoffe Dir geht’s gut?“

Seine Antwort: „Mir geht’s gut. Es war ein Schock, von Dir zu erfahren. Ich hoffe, bei Dir ist alles in Ordnung und Dir geht es auch gut. Pass auf Dich auf.“

Am 23. Mai 2021 sprechen Melanie und Kevin zum ersten Mal in einem Video-Call miteinander. Melanies Stimme wird leise, als sie von dieser Begegnung erzählt. „Wenn du das erste Mal in das Gesicht deines Vaters guckst – und du erkennst tatsächlich deinen Vater, dann ist das ein unglaubliches Gefühl. Wir haben beide unsere Brille hochgehoben und … ja.“ Melanie ist für einen Moment sprachlos.

Obwohl sie sich gerade erst kennengelernt haben, fühlt Melanie sich angenommen und akzeptiert. „Ich hatte von Anfang an das Gefühl, diese Familie will mich.“ Sie erzählt, dass Kevin ihr jeden Tag einen guten Morgen wünscht – und jeden Abend eine gute Nacht. „Letzte Woche hat er mir geschrieben: ‚Wir sind Deine Familie.‘ Hört sich mit 42 total doof an, aber wenn Dir das noch nie einer gesagt hat, fängst du an zu heulen.“

Kurz nach dem ersten Gespräch mit Melanie hat Kevin mit einem Wattestäbchen in seinem Mund herumgebohrt. Genau wie Melanie damals, vor drei Jahren. Das Ergebnis von Kevins Genanalyse kommt in wenigen Wochen. Melanie hofft, dass es der letzte DNA-Test in ihrer Familie ist.

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