1. Startseite
  2. Panorama

Zwischen Essensvorräten und Explosionen: Das Leid in der Ukraine

Erstellt: Aktualisiert:

Von: Astrid Theil

Kommentare

Eine verwundete Frau vor einem Krankenhaus in der ukrainischen Stadt Tschuhujiw.
Eine verwundete Frau vor einem Krankenhaus in der ukrainischen Stadt Tschuhujiw. © Aris Messinis/AFP

Russland hat die Ukraine großflächig angegriffen. Im Land herrscht Chaos. Einige Berichte geben Eindrücke vom ersten Kriegstag in der Ukraine.

Kiew/Charkiw/Sumy – Seit Donnerstagmorgen überschlagen sich die Nachrichten rund um den Ukraine-Konflikt. Russland hat einen Großangriff auf die Ukraine gestartet. Es herrscht Krieg. Die Realität, die damit konkret einhergeht, geht leicht in der Flut von Informationen und den internationalen Reaktionen unter. Unserer Redaktion liegen Berichte von Zivilisten aus unterschiedlichen Landesteilen der Ukraine vor, die ein Bild davon zeichnen, was in der Ukraine gerade geschieht. Zur Sicherheit der Personen wurden die Namen von der Redaktion geändert.

In der nahe der russischen Grenze gelegenen Stadt Charkiw sind die Menschen wie in vielen anderen ukrainischen Städten gegen fünf Uhr morgens mit dem Geräusch von Explosionen aufgewacht. Dort wurde der Militärflughafen Chugujew und Funktürme angegriffen. Menschen, die nicht bereits zuvor Lebensnotwendiges eingekauft und gelagert haben, sind zu Supermärkten und Tankstellen geströmt, um sich mit Lebensmitteln, Getränken und Benzin einzudecken.

Ukraine-Konflikt: Bargeld abheben ist nahezu unmöglich

„Stundenlang standen Menschen in Schlangen vor Lebensmittelgeschäften und versuchten in Panik Geld abzuheben“, berichtet Michail, ein gebürtiger Charkiwer, der in München lebt. Er hat den ganzen Tag lang versucht, Kontakt mit Verwandten aus seiner Geburtsstadt zu halten. Bargeld haben nur noch wenige Leute abheben können. Die ukrainische Zentralbank hat die Möglichkeiten zum Abheben von Bargeld beschränkt. Zusätzlich war in den meisten Bankautomaten aufgrund der vielen Abhebungen in den Morgenstunden schon mittags kein Bargeld mehr verfügbar.

Wer konnte, hat sich mit Mehl, Nudeln, Wasser und anderen Lebensmitteln eingedeckt. „Meine Oma hat wie viele Nachbarn gekauftes Trinkwasser in die Badewanne geschüttet, um so einen Wasservorrat zu schaffen - das Leitungswasser ist ja kaum trinkbar“, berichtet Michail. Schulen und Apotheken haben ihre Türen am ersten Kriegstag meist gar nicht erst geöffnet. Im Laufe des Tages änderte sich die surreale Geräuschkulisse für die Menschen vor Ort: Man hörte Panzerfäuste. Auf der östlichen Umgehungsstraße der Stadt Charkiw sollen russische Panzer auf dem Weg zum Militärstützpunkt Chugujew unterwegs gewesen sein.

Ukraine-Konflikt: Russlands Panzer fahren durch die Straßen

Inmitten der Stadt herrschte eine Kombination aus Ausnahmezustand und Alltag: Menschen gehen in die Arbeit, Tram und Metro fahren. „Im Gegensatz zu gestern ist die Metro allerdings kostenlos“, so Michail. Der Hintergrund: Die Stationen können als Bunker genutzt werden. Am späten Abend strömen tatsächlich viele Menschen zu den Metro-Stationen, um sich in Sicherheit zu bringen. Andere suchen Schutz in Kellern oder öffentlichen Gebäuden wie Schulen.

Der Bürgermeister von Charkiw rief die Menschen der zweitgrößten Stadt der Ukraine zur Ruhe auf und betonte: „Wir Charkiwer stehen das schon durch.“ Von „Ukrainern“ ist nicht die Rede. Für Michail ein beunruhigendes Zeichen. In anderen Städten der Ukraine wie Sumy sollen, wie seine Verwandten berichten, russische Panzer durch die Straßen gefahren sein. Die Richtung, in der sich die Panzer bewegt haben, führt unter anderem in die Hauptstadt Kiew.

Krieg in der Ukraine: Sirenen, Explosionen und panische Flucht

Viele Menschen in der Ukraine wachten nicht nur mit dem Geräusch von Explosionen auf, sondern auch ohne ihren Job. Mihail berichtet, dass ukrainische Arbeitskräfte für US-amerikanische Unternehmen größtenteils ihre Arbeitsstelle verloren haben. So hat zum Beispiel ein IT-Unternehmen aus den USA Arbeitsverträge an die Bedingung geknüpft, dass kein Krieg in der Ukraine herrscht. Personen, die in solchen Arbeitsverhältnissen tätig waren, haben auf einen Schlag in den Morgenstunden ihre Arbeitsstelle verloren. Ein Verwandter von ihm aus Charkiw ist genau in dieser Lage.

In Kiew hörten die Menschen morgens Sirenen, die durch die ganze Stadt tönten. Sowohl am Morgen als auch nochmal am Nachmittag wurde wegen des russischen Angriffs Luftalarm ausgelöst. Menschen versuchten auch hier sich mit den notwendigsten Lebensmitteln einzudecken oder zu fliehen. Auf den Straßen, die aus der Stadt führen, standen und stehen vollbepackte Autos im Stau. Aufsteigende Rauchwolken zeichnen teilweise das Stadtbild. Unsere Kontaktperson aus Kiew, Jewgenija, berichtet, dass sie und ihre Bekannten die Fenster ihrer Wohnungen und Häuser mit Klebeband fixiert haben, sodass sie bei nahen Explosionen nicht durch Glassplitter verletzt werden.

Kiew im Krieg: Angst, Scham und Ungewissheit

Seit fünf Uhr morgens berichtet Jewgenija, Explosionen im Stadtgebiet zu hören. Die meisten Menschen versuchen in ihren Wohnungen zu bleiben. Helikopter und Militärflugzeuge fliegen bis in die Nacht hinein über die Stadt und bei Explosionen flüchten die Menschen in ihre Keller oder in nahegelegene Metro-Stationen. Jewgenija musste am heutigen Tag schon mehrmals mit ihren Mitbewohnern in den Keller des Wohnhauses rennen. Sie berichtet außerdem von der großen Bereitschaft der Ukrainer, gegen die russischen Truppen zu kämpfen. Zahlreiche ihrer Bekannten haben sich bereits zum Militärdienst freiwillig gemeldet oder haben dies in den kommenden Tagen vor.

Kurz vor Mitternacht sitzt Jewgenija in einem Auto und weiß nicht, wo sie hin soll. Die Entscheidung, Kiew zu verlassen, hat sie kurz davor getroffen. Ihre Freunde, die in der ukrainischen Nationalgarde kämpfen, haben sie wissen lassen, dass sie die Stadt innerhalb der nächsten eineinhalb Stunden verlassen soll. Sie gehen davon aus, dass Kiew massiv bombardiert wird. Sie schämt sich für ihre Entscheidung, sich in Sicherheit zu bringen. Schreiben kann sie kaum noch, weil ihre Hände so zittern.

Kiew: Russische Truppen bewegen sich auf Hauptstadt zu

Russische Truppen bewegen sich zunehmend auf die Hauptstadt Kiew zu. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi hat bereits bekannt gegeben, dass der Militärflugplatz nahe Kiew von der russischen Armee eingenommen wurde. Antonina, die in München lebt und ihre Familie in Kiew hat, berichtet von ihrem Bruder beim Militär. Er sei in Vorbereitungen zur Verteidigung des Kiewer Hauptflughafens Kiew-Boryspil eingebunden. Aus Angst um ihre Familie in Kiew hat sie ihr Smartphone heute kaum aus der Hand legen können.

Seit dem Angriff russischer Truppen am Donnerstag hat die russische Armee in Form von Luftwaffe und Bodentruppen bereits zahlreiche Militärstützpunkte angegriffen. An vielen Orten kam es zu Kämpfen zwischen ukrainischen und russischen Truppen – auch in dem Gebiet um Tschernobyl. Laut Informationen der ukrainischen Regierung sollen nicht nur ukrainische Soldaten, sondern auch bereits Zivilisten dem russischen Angriff zum Opfer gefallen sein. (at)

Auch interessant

Kommentare