Tod auf Bestellung

Abertausende Menschen in den USA sterben an dem Opioid Fentanyl. Der Staat steht der Krise recht hilflos gegenüber. Der Handel läuft über das Darknet und soziale Medien, dahinter steht eine globale Lieferkette.
Auf dem Höhepunkt seines Erfolgs lebte Alaa Allawi in einer vornehmen Villa vor den Toren der texanischen Ölmetropole Houston. Er fuhr einen weißen Maserati Gran Turismo, bestellte 500-Dollar-Champagner im VIP-Bereich angesagter Clubs wie andere ein Bier. Und stattete dem Krypto-Unternehmer Kunal Kalra regelmäßig Besuche in seinem Salon in Los Angeles ab. Dort rauchte er Zigarre und tauschte am Automaten Bitcoins in Bargeld um. Viel. So viel, dass Kalra das Geschäft für eine saftige Gebühr bald auch online abwickelte.
Keine schlechte Karriere für einen, der bei der amerikanischen Invasion in seiner Heimat als 13-Jähriger in einem Vorort von Bagdad lebte. Der clevere Teenager lernte Englisch, diente sich als Übersetzer für die Besatzungstruppen an. Nach dem Abzug der US-Streitkräfte realisierte der talentierte Mann, dass auf ihn eine bessere Zukunft in den USA wartete. Allawi siedelte 2012 über und begann mithilfe der Catholic Charities, sich in San Antonio eine neue Existenz aufzubauen.
Heute sitzt er im Norden des Bundesstaates New York in einer Gefängniszelle. Und hat viel Zeit darüber nachzudenken, was in seinem Leben schiefgelaufen ist. Details gehen aus den Akten des Gerichts hervor, das an Allawi alias „Dopeboy210“ 2019 ein Exempel statuiert hat. Er war der erste Angeklagte, dem wegen des Handels mit der tödlichen Droge Fentanyl im Darknet und wegen des Missbrauchs der Cyberwährung Bitcoin der Prozess gemacht wurde.
Die Beweislast war so erdrückend, dass Allawi seine Verbrechen zugab, um mit einer Haftstrafe von 30 Jahren davonzukommen. Undercover-Agentinnen und -Agenten der Drogenfahndung der DEA konnten aufzeigen, wie der „Fentanyl-König“ mit der Herstellung und dem USA-weiten Handel mit dem Opiat mindestens 14 Millionen Dollar verdient hat. Mit einer auf Ebay erworbenen Presse stellte er mehr als 850 000 Pillen her, die er in 38 Bundesstaaten verkaufte.
Den entscheidenden Hinweis hatte die DEA von einem Informanten erhalten, der sie auf den Online-Shop „Dopeboy210“ in den finstersten Ecken des Internets aufmerksam machten. Nutzer:innen brauchten dafür einen „TOR“-Browser, der ihnen, wie sie dachten, anonymen Zugang zu der Plattform AlphaBay verschaffte. Dort verkaufte Allawi gegen Bitcoins mehr als 80 Sorten gefälschter Tabletten. Statt Oxycontin, Xanax oder Aderall erhielten sie alle nur einen Wirkstoff: Fentanyl.
Für den 17-jährigen Daniel Puerta aus Long Beach in Kalifornien erwies sich diese Praxis der Drogenhändler als tödlich. Auf Snapchat bestellte der Teenager eine blaue M30-Pille, die angeblich Oxycodon enthielt, das verschreibungspflichtige Schmerzmittel der Firma Purdue, das die Opiate-Krise der USA ausgelöst hatte.
Statt Oxycodon enthielt Daniels auf Snapchat bestellte Pille Fentanyl, das 50-mal stärker ist. Was erklärt, warum zwei Drittel aller tödlichen Drogenüberdosen im vergangenen Jahr auf dieses Opiat zurückgehen. Vater Jamie fand seinen Sohn bewusstlos in seinem Zimmer. Fünf Tage später wurden im Krankenhaus die lebenserhaltenden Maschinen abgestellt. Es gab keine Rettung mehr für seinen Jungen, der einen dummen Fehler gemacht hatte.
Puerta klärt mit seiner Organisation „Victims of Illicit Drug Use“ seitdem über die Gefahren der falschen Pillendreher und die Rolle des Internets auf. Sein Dokumentationsfilm „Dead on Arrival“ wird heute an Schulen überall in den USA gezeigt.
Wie dringend der Bedarf an Aufklärung ist, zeigen die Opfer-Statistiken. Laut der Gesundheitsbehörde CDC (Centers for Disease Control and Prevention) starben in den zwölf Monaten bis Januar 2022 allein 107 000 Menschen an tödlichen Überdosen. Die Zahl der jugendlichen Fentanyl-Opfer zwischen zehn und 19 Jahren verdreifachte sich zwischen 2019 und 2021.
Die Krise hat zusammen mit der Corona-Pandemie die Lebenserwartung der Menschen in den USA um 2,7 Jahre auf durchschnittlich 76,4 Jahre sinken lassen. Betroffen sind die ländlichen Gebiete ebenso wie die Großstädte. Fentanyl tötet die Reichen in den wohlhabenden Vororten so erbarmungslos wie die Armen der Innenstädte. Der Rostgürtel von Amerika ist so betroffen wie die Küsten.
Der Staat steht dem Problem einigermaßen hilflos gegenüber. US-Präsident Biden kündigte in seiner Rede zur Lage der Nation vom Februar harte Strafen für Drogenhändlerinnen und -händler an. Erschwert wird der Kampf gegen die Drogenepidemie, weil sich mit einer Handvoll Fentanyl Tausende gestreckter Pillen herstellen lassen. Sie kommen auf dem Postweg, über die sozialen Medien und das Darknet.
Da klingt es fast komisch, wenn Politikerinnen wie die Republikanerin Marjorie Taylor Greene vorschlagen „mexikanische Kartelle zu bombardieren, die täglich unsere Leute vergiften“. Fentanyl-König Allawi wäre in Texas sicher vor Bombardements gewesen. Der junge Iraker lernte nach seiner Ankunft schnell, wie leicht sich in den USA selbst mit Fentanyl Geld verdienen ließ.
Während seines letzten regulären Jobs als IT-Experte für ein Unternehmen in Austin erzählte ihm ein Kollege von dem Basar auf AlphaBay – „ein Amazon für Drogen“. Allawi überzeugte sich davon mit einer eigenen Recherche. „Mann, Du kannst wirklich alles im Internet bestellen“, erzählte er später einem Freund.
Die Rohstoffe zur Herstellung von Fentanyl orderte er aus China. Für eine elektrische Pillenpresse, die stündlich 21 600 Tabletten ausspuckte, zahlte er auf Ebay 5000 Dollar. Dort bestellte er auch Lebensmittelfarben, die seine Tabletten unschuldig bunt ausschauen ließen. Die Mixturen rührte er in einem großen Cocktail-Blender an.
Dante Sorianello von der „Drug Enforcement Administration“ nennt Allawi „einen Pionier“. Er habe den wachsenden Markt für Pillen früh erkannt. „Er war einer der Ersten, die das in großem Stil gemacht haben.“ Dafür büßt der „Fentanyl-König“ von AlphaBay jetzt mit einem Leben hinter Gittern. Im Gespräch mit einem amerikanischen Reporter zeigt er heute späte Einsicht. „Ich habe einen großen Fehler begangen.“ Zu spät für ihn, für den 17-jährigen Daniel und die vielen Opfer einer Krise, gegen die Amerika bisher kein Rezept gefunden hat.

