Ein tiefer Graben

Weil unter ihrem Dorf tonnenweise Braunkohle liegt, mussten die Bewohner von Immerath umsiedeln. Nur wenige fügten sich still. Einer von ihnen ist Matthias Jünemann. Eine Geschichte über Heimat, Verlust und Treue.
Von Nils Wischmeyer und Daniel Wolf
Die Schleichwege kennt Matthias Jünemann noch genau. Mehr als drei Jahrzehnte hat er in Immerath gewohnt. Er steuert seinen silbernen BMW-Kombi durch die Wiesen und Felder in Richtung alte Heimat. „Stoppt Garzweiler!“ steht auf einem Traktoranhänger, der neben der Straße steht. Vor einigen Wochen hatte hier eine kilometerlange Menschenkette gegen die Ausweitung des Tagebaus protestiert. Immerath konnte sie nicht retten, es war da längst ein Geisterdorf. Jünemann fährt vorbei am verlassenen Krankenhaus und an der verbarrikadierten Pizzeria.
Zwischen den vielen leeren Häusern gibt es vereinzelt noch bewohnte. Ein paar Leute sind auf der Straße unterwegs. Jünemann grüßt die alten Dorfnachbarn aus dem Auto heraus. Ihr beharrliches Festhalten an Immerath kann er nicht nachvollziehen.
Er ist im Zuge der Tagebauerweiterung mit seiner Familie zehn Kilometer weiter nach Westen gezogen, nach Neu-Immerath. Die Umsiedlung sei nun mal nötig gewesen, findet der 45-Jährige. Jünemann arbeitet bei RWE Power, ist als Maschinenfahrsteiger zuständig für die Instandsetzung der Großgeräte im Tagebau Garzweiler. Er sei nicht der Einzige aus Alt-Immerath; rund ein Dutzend Leute von dort seien bei RWE beschäftigt, sagt er.
Noch ist die Abbaugrenze ein paar hundert Meter entfernt, außer Sichtweite. Doch nach den Plänen des Energiekonzerns soll hier bald nach Kohle gebaggert werden. Für Jünemann ist das gar keine Frage und gar kein Problem. Dass er mit dieser Einstellung oft alleine dasteht, daran hat er sich mit den Jahren gewöhnt. Im Ortsverband seiner Partei, der CDU, sei er der einzige Kohlebefürworter, erzählt er. In seinem Dorf einer der wenigen. Als RWE 2006 beschloss, Immerath endgültig dem Erdboden gleichzumachen und an anderer Stelle wieder aufzubauen, gingen einige Dorfbewohner auf die Barrikaden. Jünemann nicht. In Nordrhein-Westfalen gehört der Streit um die Braunkohle zur Landesgeschichte. Auf der einen Seite die Umweltschützer, die auf die tiefgrauen Schwaden über den Kohlekraftwerken und die Geisterdörfer zeigen. Auf der anderen Seite die Energiekonzerne, Gewerkschaftsvertreter und Teile der Politik, die vor Arbeitslosigkeit und verpasstem Strukturwandel warnen. Auch in den Braunkohlegebieten in Niedersachsen, Sachsen und Brandenburg wird dieser Streit ausgetragen. Besonders hoch her geht es in der Lausitz. Die Landesregierung von Brandenburg hat die Erweiterung des Tagebaus zwischen Görlitz und Cottbus genehmigt – trotz 120 000 Unterschriften von Gegnern, trotz 7000 Protestierenden. „Kein weiteres Dorf“ heißt deren Kampagne. Monatelang haben sie versucht, Einfluss auf die Politiker zu nehmen, doch die Regierung setzt weiter auf den fossilen Energieträger – des Wohlstands wegen, heißt es.
Die Lage in Nordrhein-Westfalen ist eine besondere. Denn hier übt die jetzige Regierung aus SPD und Grünen den Spagat zwischen Arbeitsplatzsicherung und Klimaschutz. Die Konsequenz daraus: Ministerpräsidentin Hannelore Kraft verspricht zum einen, dass die Braunkohle weiter eine wichtige Rolle spielen werde im Land, dass sie auch über das Jahr 2030 erforderlich sei. Zum anderen heißt es in der letzten Leitentscheidung zu Garzweiler II, dass die Förderung von Braunkohle ab 2020 schrittweise zurückgefahren und die Abbaufläche entscheidend verkleinert wird. 400 Millionen Tonnen werden RWE dadurch schätzungsweise entgehen, Einnahmen in Millionenhöhe könnten fehlen, tausende Mitarbeiter bangen um ihre Arbeitsplätze. Eine langfristige Perspektive für sie fehlt.
Das ist ein Dilemma im rheinischen Revier, wo die Braunkohle immer Alltag war – und mehr als nur Energieträger. Die Gruben und die umliegenden Dörfer, das gehörte zusammen. Kaum einer, der in den vergangenen Jahrzehnten nicht im Kohlerevier arbeitete, sei es als Kumpel, im Kraftwerk oder in der Weiterverarbeitung zu Briketts oder Kohlestaub, als Koch in der Kantine oder Fahrer der Kohlebahn. Es gab Zeiten, da arbeiteten allein bei RWE Power, der für die Tagebaue zuständigen Tochter des Energieriesen, knapp 11 000 Menschen.
Mit der Kohle kam der Wohlstand in die ländliche Region im Rheinland und mit ihm das unausgesprochene Versprechen von Sicherheit. Sicherheit auf Arbeit, ein geregeltes Einkommen, eine Perspektive für möglichst ewig. Ein Versprechen, auf das auch Jünemann baut. Die Entscheidungen von RWE findet er gut, sehr gut sogar. Wenn er seinen Kindern einen Arbeitgeber empfehlen würde, es wäre zweifelsohne derselbe wie seiner.
Wenn er über die Vorbehalte gegenüber der Braunkohle nachdenkt, schüttelt er genervt den Kopf und zieht die Schultern nach oben. Wer nicht in einem Revier wohne, könne das alles nicht verstehen, sagt der 45-Jährige: „Wer mit Braunkohle nichts zu tun hat, und das sind ja schon die Dörfer hinter Erkelenz, den interessiert das ‘nen Scheißdreck. Für den ist Kohle nur laut und dreckig.“
Die letzte große Braunkohle-Euphorie gab es 1995, als die damalige Landesregierung unter dem SPD-Ministerpräsidenten Johannes Rau den Braunkohletagebau Garzweiler ll beschloss. Es war eine gute Botschaft für Braunkohleanhänger gewesen: 68 Quadratkilometer groß sollte die Erweiterung werden, knapp 9500 Fußballfelder. 22 Dörfer sollten der Braunkohle weichen, auch Immerath stand auf der Liste. Nur Wochen später verlor Rau bei der Landtagswahl die Mehrheit im Parlament. Er musste mit den Grünen koalieren, die darauf bestanden, die Entscheidung über Garzweiler II bis zum Jahr 2000 auszusetzen. Am Ende wurde eine kleinere Version beschlossen. Es war der Anfang des Umdenkens in der Politik.
Jünemann fährt vorbei an der entweihten Kirche in Immerath, aus deren Turmfassade sich die ersten Klinker gelöst haben, vorbei an verfallenden Häusern, in deren Vorgärten das Unkraut kniehoch steht. „Die Natur holt sich alles zurück, das geht ganz schnell“, sagt er. Sein Gesicht zeigt keine Regung. Vor seinem Elternhaus bremst er. „Kohle ist doof – klaut mir den Hof“ hat jemand auf die heruntergelassenen Rollläden geschmiert.
Schon sein Vater arbeitete bei RWE Power, damals hieß das Unternehmen noch Rheinbraun. Matthias machte dort eine Ausbildung zum Schlosser, wurde dann übernommen. Später bildete er sich zum Maschinenfahrsteiger weiter. Mit 25 Jahren zog er aus, kaufte ein paar Straßen weiter ein Haus. So konnte er in der Nähe seiner Eltern bleiben, seiner Freunde und natürlich in der Nähe des sicher geglaubten Arbeitsplatzes.
Ob auch die nächste Generation einen sicheren Arbeitsplatz im Braunkohletagebau findet, ist ungewiss. Die Bundespolitik will sich langfristig von der Kohle verabschieden. Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) will 2020 keine Braunkohlekraftwerke mehr am Netz haben. Für RWE und seine Mitarbeiter ein Horrorszenario: 30 000 Arbeitsplätzen würden deshalb wegfallen. Ein Traum für Umweltschützer: Mehr als 100 Millionen Tonnen Co2 würden ebenfalls wegfallen.
Doch nicht nur die Politik verändert sich. Längst stellt RWE nicht mehr so kräftig ein wie früher, die Anzahl der Mitarbeiter ist allein in den vergangenen zehn Jahren um zehn Prozent gesunken – Tendenz weiter fallend. Die Fördermenge bleibe gleich, zunehmende Automatisierung sei der Grund für den Rückgang, sagt ein Sprecher. Außerdem stehe die Braunkohlegewinnung praktisch seit einem Vierteljahrhundert unter großem Kostendruck. Anfang der 90er Jahre hätte die Importsteinkohle dem Energieerzeuger zu schaffen gemacht, später die Liberalisierung des Strommarktes. Heute seien es erneuerbare Energieträger, die die Kohle unrentabler machten.
Anders als im Altrevier arbeiten die Menschen in den Dörfern rund um „das Loch“ heute nicht mehr automatisch bei RWE. Auch die Mitarbeiterstruktur hat sich verändert: Arbeiter wie Matthias Jünemann wurden kaum mehr eingestellt, dafür Ingenieure und Akademiker. Und die kommen vor allem aus Köln und anderen umliegenden Städten, wie RWE sagt. Das führt dazu, dass die Identifikation der Kommunen mit der Kohle nachlässt, vielleicht irgendwann ganz verschwindet. Zu sehen war das schon bei den Umsiedlungen der jüngeren Vergangenheit: In vielen Dörfern wuchs die Wut auf RWE, einige fühlten sich dem Braunkohlegiganten ausgeliefert, verloren sie doch ihre Heimat, ihr Zuhause. Unter dem Dach der „Vereinten Initiativen“ sammelten sich die Bürgerproteste der Betroffenen. Sie zogen zwischen 1997 und 2001 vor das Verwaltungsgericht in Aachen und vor das Oberverwaltungsgericht in Münster – ohne Erfolg.
Der erste der monströs anmutenden Schaufelradbagger fraß sich 2006 in das neue Abbaugebiet. Einige der Dörfer waren da längst aufgegeben. Im selben Jahr verkündete die Stadt Erkelenz auch die Umsiedlung Immeraths. Doch das Dorf wollte nicht kampflos aufgeben. Stefan Pütz, ein Dorfbewohner, klagte beim Bundesverfassungsgericht, Umweltschützer zogen kilometerlange Menschenketten um Immerath. Sie hatten Plastikbagger dabei, auf ihren Plakaten prangten Sprüche wie „Kühltürme unter Denkmalschmutz und Ende mit dem Kohleschmutz.“ Jünemann war nicht dabei.
Er versuchte stattdessen, in seinem CDU-Ortsverein für die Kohle zu werben. Die Parteikollegen hätten mit seiner Haltung nichts anfangen können, sagt er. „Da wird man auch mal links liegen gelassen.“ Man merkt, dass das noch immer an ihm nagt. Sogar der Spionage für seinen Arbeitgeber sei er damals verdächtigt worden. „Das ist doch absurd“, sagt Jünemann und lacht. Wie viele andere auch ließ er sein Haus vor der Umsiedlung von einem Experten schätzen, um sich von der Abfindung ein neues Zuhause in Neu-Immerath kaufen zu können. Fast fünf Jahre habe er mit dem Energieriesen um den Wert seines Hauses gestritten, die Schätzungen hätten fast 100 000 Euro auseinander gelegen, erzählt er. „Da wird einem als Mitarbeiter dann schon mal gesagt, man solle ein bisschen zurückstecken.“ Schlussendlich kaufte er – wie etwa die Hälfte der Dorfbewohner – ein Grundstück samt Haus im neuen Dorf. Viele der jüngeren Dorfbewohner nahmen das Geld und zogen ganz weg aus der Gegend. Sie hielt nichts mehr in Immerath, besonders nicht die Kohle. Für Matthias Jünemann keine Option. Natürlich nicht, schließlich hatte er hier seine Freunde und Vereinskollegen – und den Tagebau.
Jünemann bleibt dort stehen, wo mal sein altes Haus war. Heute erinnert nichts mehr daran, längst hat sich hohes Gras auf dem Grundstück breit gemacht. Als seine Frau und er 2012 mit den beiden damals vier und neun Jahre alten Kindern ausgezogen sind, da sei er eine Woche lang wehmütig gewesen, sagt er rückblickend. Das war es dann auch. „Zum Schluss war das Leben hier nur noch trist. Darum waren wir letztlich schon froh und erleichtert, als es losging.“ Auch finanziell habe sich die Umsiedlung im Endeffekt gelohnt, sagt er. „Wer sich nicht ganz dumm angestellt hat oder versucht hat, RWE einen Strick zu drehen, der ist als Gewinner aus der Sache rausgegangen.“
Wie es aber weitergeht, das weiß niemand so recht. Bereits im August verkündete RWE Umstrukturierungsmaßnahmen. Man wolle verstärkt auch auf erneuerbare Energien setzen, heißt es aus der Konzernzentrale. Die Hoffnung in die Braunkohle scheint auch an der Spitze von RWE zu schwinden. Jünemann muss noch etwas mehr als 20 Jahre arbeiten. Er gehört damit der vermutlich letzten Generation an, dessen Leben noch an der Kohle hängt. Egal, ob oder wie lange RWE dann noch nach dem braunen Gold graben wird – die Identifikation ist dann längst verloren.