1. Startseite
  2. Panorama

Gesundheitsskandal um ME/CFS: Betroffene werden mit Krankheit alleine gelassen

Erstellt:

Von: Martin Rücker

Kommentare

Aus dem Leben gerissen: Anna verbringt die meiste Zeit im Bett. Seit mehr als zehn Jahren geht sie in ihrer Wohnung nur wenige Schritte, oft mit einer Schlafmaske über den Augen, um Lichtreize auszublenden. Sebastian Wells/Ostkreuz
Aus dem Leben gerissen: Anna verbringt die meiste Zeit im Bett. Seit mehr als zehn Jahren geht sie in ihrer Wohnung nur wenige Schritte, oft mit einer Schlafmaske über den Augen, um Lichtreize auszublenden. © Sebastian Wells/OSTKREUZ

Menschen mit der Diagnose Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom fehlt nicht nur ein Heilmittel, sondern fast jede Anlaufstelle. Ein Besuch bei einer Betroffenen.

Ein Treffen Anfang Januar – ein guter Zeitpunkt, um über Wünsche zu sprechen. Anna tippt mit der flachen Hand auf ihre Brust, deutet dann mit dem Zeigefinger nach unten. Dann macht die 41-Jährige mit der ganzen Hand eine abwehrende Geste. „Bloß keine Verschlechterung“, übersetzt Regine, Annas Mutter. Die Tochter bestätigt mit einem leisen „Ja“. Wenn Anna spricht, dann nicht mehr als ein, zwei Silben. Ihre Augen hält sie bis auf wenige Momente geschlossen, die Rückenlehne ihres Stuhls ist schräg nach hinten gekippt.

Kurz darauf braucht sie eine Pause. Das Gespräch strengt die Berlinerin an. Langsam steht sie auf, geht mit behutsamen Schritten zurück zu ihrem Bett. 90 Prozent des Tages verbringt sie liegend.

Gesundheitsskandal: Möglicherweise 400.000 Erkrankte in Deutschland

Der Grund dafür heißt ME/CFS, kurz für Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom. Eine Multisystemerkrankung, die oft nach Virusinfektionen auftritt und Menschen schlagartig aus ihrem bisherigen Leben reißen, Energiebündel in Pflegefälle verwandeln kann.

Bisher gingen Schätzungen von 70.000 bis 400.000 Erkrankten in Deutschland aus. Durch Corona könnte sich ihre Zahl verdoppeln, denn auch ein Teil der Long-Covid-Patienten erhält die Diagnose ME/CFS. Dabei ist es bei allem noch so etwas wie die gute Nachricht, dass die Pandemie endlich ein Licht auf die Betroffenen lenkt.

Manche Schwerbetroffene nehmen die Nervenschmerzen wie „Elektroschocks“ wahr

Auf die moderat Erkrankten, die mit dem Unverständnis von Kolleginnen und Partnern leben, wenn sie sich bei der Arbeit eine Auszeit nehmen, nach dem Einkauf zwei Stunden Pause brauchen. Und auf die Schwerbetroffenen, von denen manche die Nervenschmerzen wie „Elektroschocks“ wahrnehmen und deren Herzfrequenz und Blutdruck ins Unermessliche steigen, wenn sie nur versuchen, aufzustehen. Die im schlimmsten Fall in dunklen Zimmern leben, weil sie das Licht nicht aushalten, und die in den wenigen Augenblicken jeden Tag, in denen sie ihr Handy bedienen können, verzweifelt nach einem Pfleger suchen – oder wenigstens nach einer Palliativärztin. Schätzungen zufolge sind sechs von zehn ME/CFS-Betroffene arbeitsunfähig, jeder vierte kann seine Wohnung nicht verlassen. Auch deshalb ist es so leicht, sie nicht zu sehen.

Unser Gesundheitssystem lässt sie durch alle Raster fallen. Es gibt kein Heilmittel und fast keine Forschung, es gibt kaum Fachärzte und keine Behandlungszentren, noch nicht einmal Ärzte, die die Menschen zu Hause besuchen.

Was es gibt: Patientinnen und Patienten, deren Diagnosen von Ämtern missachtet und die in Therapien geschickt werden, die vieles nur noch schlimmer machen. Die Geschichte von ME/CFS lässt sich wohl nur so beschreiben: als einen der größten Gesundheitsskandale unserer Zeit.

Es dauert drei Jahre, bis Anna die Diagnose ME/CFS erhält

Annas Krankheitsgeschichte beginnt vor 20 Jahren. Sie ist 21, studiert Mathe und Physik, als sie sich eine Art Angina einfängt. Lästig, aber harmlos, denkt sie. Erst später werden Ärzte vermuten, dass sich Anna mit dem Epstein-Barr-Virus infiziert hat. Wochenlang kommt sie nicht auf die Beine. Das geht vorbei, beruhigt ihre Ärztin. Weitermachen, rät sie, aktiv bleiben, nur nicht hängen lassen.

Trotz starker Erschöpfung schleppt sich Anna durch die Prüfungen, macht noch ein Semester weiter bis zum Vordiplom – was alles nur verschlechtert. Jede Überanstrengung löst einen „Crash“ aus: Grippesymptome kehren zurück, der Kopfschmerz steigert sich ins Unerträgliche. Schließlich gibt Regine, die Mutter, ihr Geschäft auf, um die Tochter zu pflegen.

Es dauert drei Jahre, bis Anna die Diagnose ME/CFS erhält. Ein Krankheitsbild, das mehr als 200 Symptome kennt: Betroffene fühlen sich krank und erschöpft, sind reizempfindlich, haben Konzentrationsstörungen und Wortfindungsprobleme, die Muskeln krampfen, Lymphknoten schmerzen. Jeder leidet anders, doch ein Leitsymptom haben sie gemein: die Belastungsintoleranz. Überschreiten sie ihre Grenzen, folgt binnen 72 Stunden der Crash. Die Symptome verschlimmern sich dann, nicht selten dauerhaft. Ärzte sprechen von PEM, Post Exertional Malaise, ein Betroffener nur vom „gemeinen Biest“.

Es ist für sie alles viel zu viel, doch dafür fehlt Ärztinnen und Pflegekräften das Verständnis

Anna begegnet diesem Biest auch, als sie sich 2008 in eine Klinik aufnehmen lässt. Regelmäßig soll sie an einer Maltherapie teilnehmen, zum Essen in Gemeinschaftsräume kommen. Es ist alles viel zu viel, doch dafür fehlt Ärztinnen und Pflegekräften das Verständnis. Anna geht es schlechter, sie verlässt sie die Klinik vorzeitig.

In Wellen geht es seither auf und ab. Bei einem Schub ist Anna drei Tage lang praktisch gelähmt, bis sich die Körperstarre wieder löst. Der Kopfschmerz wird zum ständigen Begleiter, ein dröhnender, manchmal brüllender Schmerz.

Was sich bei Long-Covid zeigt, ist seit langem auch über ME/CFS bekannt: Es kann jeden treffen, Frauen aber deutlich häufiger. Das ist ein Teil des Problems. Als 1955, nach einem rätselhaften Krankheitsausbruch im Royal Free Hospital London, viele der gut 300 erkrankten Klinikbeschäftigten über Jahre hinweg nicht gesund werden, geht die Ärzteschaft von einer chronischen Entzündung des zentralen Nervensystems aus, einer Myalgischen Enzephalomyelitis („ME“). 15 Jahre später aber stufen zwei Psychiater das Geschehen gänzlich anders ein: als Massenhysterie. Anders als mit dem angeblich weiblichen Hang zur Hysterie können sie sich nicht erklären, weshalb so viele Schwestern erkrankten, aber nur wenige männliche Kollegen.

Die genauen Krankheitsmechanismen von ME/CFS sind noch nicht geklärt

Zwar erkannte die Weltgesundheitsorganisation ME/CFS vor gut 50 Jahren als neurologische Erkrankung an, zwar geht heute die Mehrheit in der Wissenschaft und Fachgesellschaften von körperlichen Ursachen aus, weil feinere Diagnoseverfahren eine erhöhte Immunaktivität zeigen, Entzündungsprozesse, Virusreste oder Autoantikörper im Blut. Doch die genauen Krankheitsmechanismen sind noch nicht geklärt, bei Standarduntersuchungen erhält die Ärzteschaft oft kein Bild. Deshalb tobt der Streit, ob die Ursachen organisch oder psychisch sind, bis heute weiter. Noch immer kämpfen Betroffene gegen die Zweifel an, sich alles nur einzubilden. Bei Arbeitgebern, vor allem aber bei Behörden, die über Behinderungsgrade und Pflegestufen entscheiden – und sich immer wieder verweigern, weil sie nicht so recht an eine Krankheit glauben.

Eine Reihe amtlicher Dokumente, die dem Autor vorliegen, belegt die Vorwürfe: Das Gutachten, das die mit organischen Befunden gespickte, ärztliche ME/CFS-Diagnose zur „schweren Persönlichkeitsstörung“ uminterpretiert. Der Bescheid eines Versorgungsamtes, dessen Amtsarzt ME/CFS entgegen der offiziellen Klassifikation „NICHT“ als körperliche Beeinträchtigung einstuft, der sich noch darüber amüsiert, wie die doch angeblich unter Erschöpfung leidende Antragstellerin nur ein so langes Widerspruchsschreiben einreichen konnte. Oder das Gutachten, das empfiehlt, einen bettlägerigen Mann gegen dessen Willen per gerichtlicher Anordnung zu einer Aktivierungstherapie zu zwingen.

Das ist bis heute die Standardantwort auf ME/CFS-Patienten, entwickelt von britischen Psychiatern, die fest von einer psychischen Ursache ausgingen: 2011 veröffentlichten sie die Ergebnisse ihres „PACE“-Versuchs und empfahlen die Graded Exercise-Therapie, kurz GET, eine stufenweise Steigerung der Aktivität.

Gesundheitsskandal um ME/CFS – PACE-Studie alles andere als ein methodisches Glanzstück

Bei Betroffenenorganisationen aber ist GET Synonym für schwerste Misshandlungen. In unzähligen Erfahrungsberichten beschreiben Patientinnen und Patienten, wie die Therapie Crashs ausgelöst und zu bleibenden Schäden geführt habe. Sie ignoriere Belastungsgrenzen, die bei manchem mitunter schon mit der Anreise zum Therapeuten überschritten sein kann, und helfe so nur einem: dem „Biest“ PEM.

Die PACE-Studie ist alles andere als ein methodisches Glanzstück: Die Forscher verschwiegen den Proband:innen ihre Verbindungen zu Invaliditätsversicherungen und hielten Daten zurück, die – als sie später doch öffentlich wurden – die dargestellten positiven Effekte der Therapie nicht bestätigten. Unter den Teilnehmer:innen waren zudem keine Schwererkrankten, dafür aber viele Menschen, die zwar an Erschöpfung litten, nach heutigen Kriterien aber keine ME/CFS-Diagnose erhalten würden. Über ME/CFS-Erkrankte sagt die Studie also eigentlich herzlich wenig aus, dennoch wird sie herangezogen, um die Menschen zu GET zu schicken. Nicht immer freiwillig.

Kein Wunder also, dass „Reha“ für Betroffene zu einem Reizwort geworden ist

Das wiederum hat viel mit der Deutschen Rentenversicherung zu tun. Sie nimmt es sich heraus, von der offiziellen Klassifikation abzuweichen, ME/CFS als seelische Störung zu werten. Beantragen Erkrankte eine Rente, müssen sie häufig erst zur Kur – wo sie zu starren Aktivierungstherapien verpflichtet werden, als gäbe es kein Biest.

Auch das belegen Unterlagen. Wie der Bericht einer Reha-Einrichtung, der doch alles bestätigt: Dass die Patientin an ME/CFS samt PEM leide, dass sich ihr Zustand nach den Bewegungsprogrammen der Reha messbar verschlechtert habe. Am Ende aber empfiehlt der Arzt eine Sporttherapie. Man fragt sich, ob das nur hilflos ist – oder schon ein Akt der Körperverletzung.

Kein Wunder also, dass „Reha“ für Betroffene zu einem Reizwort geworden ist. Es gibt auch andere Erfahrungen, positive Berichte von Kuren, in denen die Therapeutinnen und Therapeuten ME/CFS kannten und es offenbar schafften, das Programm richtig zu dosieren, die Belastungsgrenze nicht zu crashen. Doch das sind die Ausnahmen. Es überwiegen die zahlreichen Schilderungen starrer Rehaprogramme, die Grenzen ignoriert und den Patient:innen geschadet, manche gar in den Rollstuhl gebracht haben sollen.

Bei Anna prägen Crashs irgendwann die Hälfte des Jahres. Einst begeisterte Bergsteigerin, kann sie heute keine Treppe mehr bewältigen. Seit mehr als zehn Jahren geht sie in ihrer Wohnung nur wenige Schritte, in schlechten Zeiten mit einer Schlafmaske über den Augen, um Lichtreize auszublenden. So plant sie akribisch jeden Gang ins Bad, nach drei Minuten benötigt sie eine Pause. Der letzte kleine Ausflug mit dem Rollstuhl liegt Jahre zurück.

In einigen Wochen will das unabhängige Institut IQWiG einen Bericht vorlegen

In den Regalen ihres Wohnzimmers stehen die Physik-Bücher aus dem Studium, dazu einige „Sex and the City“-DVDs. Es sind mehr Erinnerungsstücke als Gebrauchsgegenstände, denn Anna hat weder einen Fernseher noch einen DVD-Player, der dröhnende Kopfschmerz rebelliert bereits gegen das Bücherlesen. Besser geht es mit dem Hören. Auf dem Sideboard neben der Liege steht ein Radio, hier überträgt der Deutschlandfunk leise die Nachrichten von draußen. Um neue Crashs zu vermeiden, setzt Anna, wie viele andere, auf „Pacing“ – eine Technik, die eigene Belastungsgrenze zu erkennen und stets darunter zu bleiben. Keine Therapie also, sondern eine Überlebensstrategie, in der Hoffnung, dass es irgendwann einmal besser geht, solange es erst einmal nur nicht schlechter wird.

Psychisch oder organisch, GET oder Pacing: Die alten Kontroversen erfassen die deutsche Gesundheitspolitik gerade erneut mit großer Wucht: beim Ringen um einen Bericht, der eigentlich nur Wissenschaft sein soll und doch vor allem eines ist – Politik.

In einigen Wochen wird das unabhängige Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums einen Bericht vorlegen, der das Wissen über ME/CFS zusammenfasst. Im Hintergrund kämpfen Professoren um Einfluss, schicken Betroffene – wie Annas Familie – Forderungen auf Postkarten. Den Anlass schuf die Entwurfsfassung, die das IQWiG im Oktober zur Kommentierung ins Internet stellte. Darin rückte es die umstrittene Aktivierungstherapie GET in vergleichsweise positives Licht. Zwar sieht das Institut das „hohe Verzerrungspotenzial“ der PACE-Studie, hält sie am Ende aber immerhin für ein Stück Wissenschaft, anders als die Erfahrungsberichte der Patient:innen. Bliebe es dabei, könnte der Bericht die Basis für weitere Fehlbehandlungen legen. Selbst Schwererkrankte mit ME/CFS würden wohl auch künftig in potenziell schädliche Therapien geschickt werden.

Medikamente werden erprobt, die sowohl Long-Covid- als auch ME/CFS-Betroffenen helfen könnten

Die Hoffnungen der Betroffenen richten sich derweil vor allem auf Berlin. Nachdem die Forschungspolitik ME/CFS mehr als 50 Jahre lang ignoriert hatte, brachte Long-Covid den Bund dazu, mit 10 Millionen Euro die ersten Therapiestudien überhaupt in Deutschland zu finanzieren. An der Charité will die Immunologin Carmen Scheibenbogen damit Medikamente erproben, die sowohl Long-Covid- als auch ME/CFS-Betroffenen helfen könnten.

Es sind Mittel, die bereits für andere Erkrankungen zugelassen sind und die sie längst hätte testen können, wenn nur das Geld für Studien da gewesen wäre: ein Medikament gegen Durchblutungsstörungen, Entzündungshemmer wie Cortison, ein Neuroleptikum, dazu das Verfahren der Immunadsorption, das Autoantikörper aus dem Blut wäscht. Noch 2023 sollen Ergebnisse vorliegen, 2024 könnte es zu einer Notfallzulassung kommen – im besten Fall. Für die vielen Betroffenen heißt das: Solange sich politisch nichts tut, bleiben die Versorgungsstrukturen katastrophal und die Aussicht auf ein heilendes Medikament der Hoffnungsschimmer einer fernen Zukunft.

ME/CFS: Was Anna tun würde, wenn es ihr besser ginge

Was Anna tun würde, wenn es ihr besser ginge? Mit beiden Händen formt sie ein „K“. „Kinder?“, überlegt Regine. Anna schüttelt den Kopf. Ihre Finger zeigen ein „A“. Die Zeichensprache, eine Mischung aus Buchstaben und Symbolen, hatten Anna und ihr Bruder als Kinder zum Spaß erfunden – nun ist sie das Hauptverständigungsmittel.

Es folgt ein „T“. „Katrin?“ Anna nickt. Katrin, ihre langjährige Freundin, bei deren Besuchen sie nur für einige Minuten da sein kann und mit der sie fast nur über ihre Mutter kommunizieren kann. „Einfach mal zwei Stunden mit Katrin quatschen?“, fragt Regine. Anna lächelt. Sie drückt auf die sprechende Uhr, die ihr die Zeit verrät, ohne dass ihre Augen hinsehen müssen. Höchste Zeit, sich wieder hinzulegen. (Martin Rücker)

Auch interessant

Kommentare