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Der Fall Lüdge - ein Besuch in der Stadt

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Von: Jens Greinke

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Lügde ist ein Freilichtmuseum. Ein ziemlich schönes.
Lügde ist ein Freilichtmuseum. Ein ziemlich schönes. © dpa

Vor der Aufdeckung des Missbrauchsskandals auf einem benachbarten Campingplatz galt Lügde als Stadt der Osterräder, als eine Art Freilichtmuseum im Naturpark Teutoburger Wald. Ein Ortsbesuch.

Es gibt hier keinen McDonalds und schon gar keinen H&M. Dafür das „Cafe Kinkerlitzken“ oder die „Bierstube“, in der das 0,33-Glas „Herforder“ 1,50 Euro kostet. Fachwerk überall, eine noch erhaltene fast 1500 Meter lange Stadtmauer aus Bruchsteinen. Geschichte pur. Hier ist die Globalisierung noch nicht angekommen, denkt man. Bis man vor der kleinen, liebevoll geschmückten Moschee direkt an der Stadtmauer steht. Und merkt, dass dies hier nicht tiefste Provinz ist.

Lügde. Ein Ort inmitten eines der schönsten Landstriche Nordrhein-Westfalens, gelegen im Naturpark Teutoburger Wald. Manche Straßenzüge könnten die Kulisse für ein Gebrüder-Grimm-Märchen abgeben. Pittoreske Fachwerkhäuser, allesamt detailverliebt renoviert, viele im 18. Jahrhundert erbaut, nach einem verheerenden Stadtbrand. Kaum ein Gebäude, an dem nicht die grün-weiß-rote Denkmal-Plakette des Landes NRW angedübelt ist. Außerhalb der alten Wehrmauer, die den historischen Kern umgibt, stehen wundervolle Stadtvillen, deren Kauf in Münster oder Düsseldorf einen Lotto-Jackpot verschlingen würden. Lügde ist ein Freilichtmuseum. Ein ziemlich schönes.

Der Tatort wurde nach Lüdge verlegt

Dann kamen Ende Januar die ersten Nachrichten vom Campingplatz aus Elbrinxen, einem kleinen Vorort ein paar Kilometer entfernt, bis 1970 eine eigenständige Gemeinde. Der Tatort wurde nach Lügde verlegt. Kaum ein Text, der ohne die Ortsmarke „Lügde“ erschien, kaum ein TV-Beitrag, in dem der Name der Stadt nicht erwähnt wurde. An sich ist Lügde für sein „Rennen der Osterräder“ berühmt, es ist sogar „Immaterielles Kulturerbe“ der Unesco. Am 21. April ist es wieder so weit, dann werden fünf oder sechs mit Stroh gefüllte Eichenräder brennend und mit riesigem Funkenschweif den benachbarten Osterberg hinabrollen. Zehntausende Besucher kommen jedes Jahr zu diesem Spektakel. Lügde selbst hat 9572 Einwohner. Stand Dezember 2017. „Wenn ich früher Lügde gegoogelt habe, kamen als erstes die Osterräder“, sagt eine Bürgerin, die nicht genannt werden möchte und Mutter von zwei kleinen Kindern ist. Jetzt stünde „die Sache vom Campingplatz“ ganz oben in den Suchergebnissen. Für die Feuerräder müsse man weit nach unten scrollen.

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Aus der Stadt der Osterräder ist die Stadt der Kinderschänder geworden. Es ist ein dunkler Schatten, der sich selbst an diesem sonnigen Tag über den Ort legt. „Wir sind ja selbst alle sehr betroffen“, sagt eine andere Anwohnerin. Auch sie will nicht genannt werden. Und eigentlich auch nicht mehr mit Journalisten reden. „Die nerven langsam. Gestern war auch schon wieder ein Kamerateam da.“ In Lügde möchte man über „die Sache“ nicht sprechen.

In einer Baracke missbrauchte Andreas V. mindestens 36 Kinder

Fährt man aus Lügde in Richtung Rischenau, überwältigt einen die Landschaft. Ein paar vereinzelte blühende Ginstersträucher und Kirschbäume lassen erahnen, wie es hier in ein paar Tagen aussehen wird. Wenn der Frühling die Natur aus dem Winterschlaf holt. Paradiesisch. Irgendwann kommt ein blaues Schild mit einem Campingplatz-Symbol darauf.

Der Campingplatz sieht von der Straßenseite her nicht besonders einladend aus. Hinter einem windschiefen Zaun stehen Holzhütten, viele von ihnen mit Moos überzogen, verwittert. In einer dieser Baracken hat sich das Unsägliche abgespielt. Hier hat Andreas V. mindestens 36 Kinder missbraucht. Es besteht der Verdacht auf rund 1000 Einzeltaten innerhalb von zehn Jahren. 1000 Einzeltaten. Während nebenan Menschen Urlaub gemacht haben.

Frank Schäfsmeier ist spürbar genervt. Der Besitzer des Campingplatzes möchte nicht „über die Sache“ sprechen. Nicht schon wieder. Auch er leidet mittlerweile an einer Journalisten-Allergie. Irgendwann redet er dann doch. „Im Moment ist es mir nicht möglich, groß darüber zu sprechen. Es ist zu früh“, sagt er. Schäfsmeier spricht einigermaßen atemlos, er läuft über seinen Campingplatz. Es ist zu spüren, wie sehr ihm die Sache zu schaffen macht. Außerdem muss er gerade die Saison vorbereiten. Es sind Tage, in denen die meiste Arbeit ansteht. Er scheint froh über die vielen Aufgaben, die er zurzeit hat. Irgendwie Alltag.

Was hat er gewusst? Oder ahnen können? Seit fast 30 Jahren war Andreas V. Gast auf dem Campingplatz, nachdem seine Eltern eine Parzelle erworben hatten. Dem Wochenmagazin „Spiegel“ sagte Schäfsmeier, dass V. einer „von Vielen“ gewesen sei, ein eher unauffälliger Typ. Vor einigen Jahren sei das Mädchen aufgetaucht. V. hätte gesagt: „Ich bin jetzt der Papa.“ Die Mutter sei offenbar „eine Verwandte in einer schwierigen Lebenssituation“ gewesen, sagte Schäfsmeier dem „Spiegel“.

Google interessieren Schäfsmeiers Existenzsorgen nicht

Was im Sommer auf seinem Campingplatz passieren wird, kann der 54-Jährige noch nicht abschätzen. „Welche Auswirkungen das haben wird, kann ich noch nicht sagen. Wir haben noch keine Saison“, sagt er. Allerdings: „Ich bin guter Dinge, dass die Dauercamper hinter mir stehen. Bislang ist noch keiner abgesprungen.“ Das freue ihn. „Schön“, sagt er. Die meisten Gäste, die in den Ferien immer kommen, würden das übrigens genauso sehen. Jedoch: Neukunden erwarte er in dieser Saison nicht so viele. „Das ist klar.“ Was auch an den Trollen liegt. „Es gibt da ein paar richtig böse Schreiber. Das überschreitet schon so manche Grenze. Aber das ist so primitiv, da rege ich mich nicht mehr drüber auf“, behauptet Schäfsmeier.

Wenn man den Campingplatz googelt, wird als Frage angezeigt: „Gibt es etwas für die Kinder zu tun?“ Jemand mit dem Nickname „Alles gelogen“ hat geschrieben: „Die werden liebevoll von unseren geilen, kranken und perversen Onkels betreut.“

Google interessieren Schäfsmeiers Probleme und Existenzsorgen nicht. „Die nehmen es nicht raus. Sie sagen, dass jeder seine Meinung äußern könnte“, berichtet der Familienvater. Nur ein Beitrag sei gelöscht worden. „Weil dieser sogar den Google-Richtlinien widersprach“, so Schäfsmeier. Man kann sich ungefähr denken, wie tief dieser Beitrag unter der Gürtellinie gewesen sein muss.

Schäfsmeiers wichtigster Plan für die neue Saison: diesen vermaledeiten Ort verschwinden zu lassen. „Sobald es mir erlaubt wird, werde ich die Baracke abreißen“, sagt er.

Lügde war im Dreißigjährigen Krieg von schwedischen Truppen besetzt und überstand laut Infotafel am Ortseingang „diese bittere Zeit“. Auch Pest, Cholera und Feuersbrünste wüteten hier. Lügde, heißt es, sei eine wehrhafte Stadt.

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