„Spogomi“: Einfach nur Joggen war gestern

Laufen, möglichst schnell Müll sammeln und trennen: „Spogomi“ heißt ein neuer Sport in Japan. Noch in diesem Jahr will das Land die erste Weltmeisterschaft ausrichten.
Wenn Kenichi Mamitsuka von seiner großen Idee spricht, beginnt er bei seinem morgendlichen Ritual: „Immer, wenn ich Joggen war, habe ich hier und da auf meiner Laufstrecke Müll liegen gesehen. Irgendwann störte mich das, und dann begann ich, ihn aufzuheben.“ Nur ging der Herr mittleren Alters nicht zum Müllsammeln raus, sondern zum Sporttreiben. „Deshalb hab’ ich mich so nach dem Müll gebückt, dass ich dabei möglichst nicht langsamer wurde. Und bald dachte ich mir: Das wäre doch eigentlich eine tolle Sportart!“
In Mamitsukas Heimatland Japan ist diese Anekdote längst national bekannt. Denn als der Hobbysportler im Jahr 2007 auf den Gedanken einer neuen Sportart gekommen war, schrieb er ein Regelwerk nieder und nahm Kontakt zu Schulen auf, um Turniere zu veranstalten. Er selbst habe sich schnell ans Müllsammeln während des Joggens gewöhnt, bald habe es ihm Spaß gemacht. „Und als Wettkampf wäre das doch viel besser. Zumal man damit noch etwas Gutes tut!“ Tatsächlich: Mamitsuka wurde nicht etwa als Weltfremder abgetan, sondern ist mittlerweile ein bekannter Mann.
Schließlich wird er als Erfinder des „Spogomi“ gefeiert, eines seit 2008 offiziell im ganzen Land betriebenen Sports. Der Name setzt sich aus den Worten „spo-tsu“ und „gomi“ zusammen, also „Sport“ und „Müll“ – quasi Wettmüllsammeln. Und dieser Tage ist Mamitsuka besonders oft in den Schlagzeilen, da der nationale „Spogomi“ große Neuigkeiten verkündet hat: Im November werde in Tokio, der Hauptstadt des Ursprungslandes, die erste Weltmeisterschaft steigen. Es ist der Versuch, aus dem Müllsammeln nicht mehr nur einen nationalen, sondern einen globalen Hype zu machen.
Offizieller Partner ist der japanische Modekonzern Uniqlo, ein weiterer die „Nippon Foundation“
Dass die Sache den Veranstaltern um Kenichi Mamitsuka durchaus ernst ist, zeigt schon das Aufgebot an Prominenz, mit dem sich der Verband mittlerweile umgibt. Ein offizieller Partner ist der japanische Modekonzern Uniqlo, ein weiterer die im Land einflussreiche „Nippon Foundation.“ Zu Botschafter:innen gehören Stars aus der nationalen Musik- und Sportszene. „Wir wollen dafür sorgen, dass es überall auf der Welt zur Mode wird, Müll zu sammeln und zu trennen“, sagte Yohei Sasakawa, Vorsitzender der Nippon Foundation, diese Tage auf einer Pressekonferenz.
Die Regeln von „Spogomi“ sind schnell erklärt: Teams müssen in einer vorgegebenen Zeit Müll aufsammeln und erhalten für die Menge und Art des Mülls Punkte. Am Ende muss er allerdings noch korrekt sortiert werden. Und in Japan, wo Kinder schon früh über die Entwicklungsziele der Vereinten Nationen lernen, bei denen es auch um Umweltschutz geht, ist der Sport tatsächlich populär: Schulen im ganzen Land nehmen an Turnieren teil. Vor der für November geplanten Weltmeisterschaft starten nun nationale Ausscheidungsturniere.
International steht Japan im Ruf, sauber und ordentlich zu sein
Wer die japanische Kultur kennt, dürfte sich nicht wundern, dass „Spogomi“ ausgerechnet hier erfunden wurde. International hat das Land mittlerweile einen Ruf für Sauberkeit, Ordnung und das Mülltrennen. Touristinnen und Touristen, die in den Jahren vor der Pandemie in immer größeren Zahlen Japan bereisten, haben oft darüber gestaunt, dass auf den Gehwegen praktisch kein Müll herumliegt – und das, obwohl es auch kaum öffentliche Mülleimer gibt. Man trägt den eigenen Abfall eben mit sich herum, notfalls bis nachhause.
Auch wer in Japan einen Mietvertrag abschließt, lernt schnell, dass die Sache mit der Mülltrennung ernstgenommen wird. „Wenn Sie einen ungeordneten Müllsack vor die Tür stellen, wird der nicht abgeholt“, heißt es als Warnung. Je nach Region und Stadtteil wird zwischen bis zu acht Mülltypen unterschieden – zum Beispiel Glas, PET-Flaschen, Dosen, Sprays, Batterien, zerbrochenes Geschirr und Kompostierbares –, die an unterschiedlichen Wochentagen morgens von der Müllabfuhr eingesammelt werden.

Auch bei internationalen Großveranstaltungen fallen die Vertreter:innen Japans immer wieder in diese Richtung auf. Bei den letzten Fußballweltmeisterschaften der Männer etwa gingen Fotos der japanischen Nationalmannschaft um die Welt, wie diese nach ihren Spielen eine blitzblank geputzte Kabine hinterließen, sodass die Putzkolonne fast nichts mehr zu tun hatte. Auf den Stadionrängen machten sich regelmäßig auch japanische Fans ans Aufräumen. In Japan selbst hat das kollektive Aufräumen nach dem Stadionbesuch ohnehin Tradition.
Den Eindruck eines ordnungsliebenden Landes bekräftigte über die vergangenen Jahre auch die internationale Bestsellerautorin Marie Kondo, die mit Büchern über das Aufräumen berühmt wurde. Die junge Japanerin hat mittlerweile zwar zugegeben, dass ihr mit kleinen Kindern im Haus manchmal selbst die Lust zum Aufräumen vergehe. Aber mit ihrer Methode, Gebrauchsobjekten gegenüber Respekt zu zeigen und ihnen jeweils einen festen Platz zu geben, von dem aus sie möglichst sichtbar und würdig erscheinen, hat Millionen Menschen weltweit beeinflusst.
Marie Kondo ist damit wohl auch deshalb erfolgreich, weil es ihr nicht schwerfiel, rund um ihre Idee eine überzeugende Geschichte zu erzählen. Denn sie ist klar eingebettet in die japanische Urreligion „Shinto“, in der man den Göttern nicht zuletzt durch diverse Waschrituale Respekt zollt. Sauberkeit ist praktisch eine Bedingung, um mit den Göttern in Kontakt treten zu können. Kaum durch Zufall bedeutet das Wort „kirei“ in der japanischen Sprache „schön2 und „sauber“ zugleich.
Schon mehrere Sportarten wurden in Japan am Reißbrett erfunden
„Spogomi“ passt aber auch deshalb nach Japan, weil das ostasiatische Land eine weitere Eigenart auszeichnet: Schon mehrfach wurden hier Sportarten am Reißbrett erfunden, die sozialen Zielen dienen sollten und dann auch tatsächlich populär wurden. Ein Beispiel hierfür ist Judo, das im 19. Jahrhundert als Kreuzung anderer Kampfsportarten kreiert wurde und zur Verteidigungsfähigkeit sowie Persönlichkeitstraining gedacht war. Die Sache funktionierte: Judo, was übersetz „der sanfte Weg“ bedeutet, wurde ab 1964 olympische Disziplin, ist heute ein weltweit praktizierter Sport.
Noch viel kurioser ist die Genese des Bahnradsports Keirin, in dem seit dem Jahr 2000 ebenfalls olympischen Medaillen vergeben werden. Kurz nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg versuchte eine Abteilung des japanischen Wirtschaftsministeriums, hiermit den Wiederaufbau des Landes zu finanzieren – durch Sportwetten. Denn während allgemein das Glücksspiel verboten war, bestanden Ausnahmen für Wetten auf Boots-, Motorrad- und Pferderennen. Nur waren aus solchen Events kaum Einnahmen zu erwarten, da es an den dafür nötigen Fahrzeugen und Tieren mangelte.

So entwarfen die Beamten kurzerhand den Sport Keirin – bei dem die Athleten nach einer sich konstant beschleunigenden Aufwärmphase im Kreis um die Wette fahren – und promoteten ihn vorbei an den eigenen Grundsätzen des Wettverbots als Wettsport. Die Idee war ein großer Erfolg: Die Wetterlöse spielten so viel Geld ein, dass von den Einnahmen neue Schulen und Krankenhäuser gebaut werden konnten. In den 1970er und 1980er Jahren gehörte Keirin gar zu den beliebtesten Sportarten im Land, die besten Fahrer wurden zu Millionären.
So stehen auch für die neue Sportart „Spogomi“ die Chancen nicht ganz schlecht, irgendwann wirklich ein Massensport zu werden. Zumal die Nippon Foundation auch schon eine Anime-Produktion auf den Markt gebracht hat, die das Spiel gegenüber Kindern promotet. Im Zeichentrickfilm namens „Spogomi“ wird eine Welt gezeichnet, in der das kompetitive Müllsammeln längst ein globales Spektakel ist.
„Spogomi“ könnte irgendwann auch Opfer seines eigenen Erfolgs werden
In einer italienisch anmutenden Stadt eilen da die verschiedenen Nationalteams auf Rollschuhen durch den Ort, schießen sich mit Hockeyschlägern den Müll von der Straße in die Rucksäcke auf ihren Rücken. Das auf Tribünen versammelte Publikum jubelt. Am Ende gewinnt – wer hätte es erwartet – Japan. Und über eine Videowand ist ein Herr Sasakawa von der Nippon Foundation zugeschaltet, der den Sieger:innen gratuliert.
Angesichts der medialen Aufmerksamkeit, die das neue Spiel dieser Tage im Herkunftsland erfährt, dürfte Japan auch bei der echten WM zumindest als Favorit gelten. Geplant ist ein Turnier von rund 20 verschiedenen Nationalmannschaften. Wobei „Spogomi“ irgendwann auch Opfer seines eigenen Erfolgs werden könnte: In Japan sieht man eben schon heute weniger Müll auf der Straße als in anderen Ländern. Sodass man eines Tages, um noch einen Wettkampf veranstalten zu können, womöglich erst Müll verteilen müsste. Aber das ist auch in Japan noch Zukunftsmusik.