Vermisstenfall Rebecca: Experte prangert „eklatanten Fehler“ der Polizei an und nennt Schlüsselmomente

Seit über vier Jahren gilt Rebecca Reusch als vermisst. Der Fall beschäftigt die Polizei noch heute. Weiterhin gilt der Schwager als verdächtig.
Berlin/München - Im Jahr 2019 verschwand die damals 15-jährige Rebecca Reusch aus Berlin. Noch immer fehlt von ihr jede Spur. Lebenszeichen? Fehlanzeige. „Ich würde sagen, das ist der meistbeachtete Fall in Deutschland“, ordnet Vermissten-Experte Peter Jamin gegenüber Merkur.de von IPPEN.MEDIA ein, und ergänzt: „Noch größeres Aufsehen hat nur der Fall von Maddie McCann erregt.“
Im April 2023 kam – für die Öffentlichkeit sichtbar – wieder Bewegung in den Fall Rebecca Reusch. Die Polizei durchsuchte das Haus ihres Schwagers, dem einzigen Verdächtigen. „Es handelt sich um ein großes Familien-Drama. Der Schwager steht bei der Polizei sehr stark im Blickpunkt als Täter, während die Familie genau das Gegenteil sagt“, fasst Jamin zusammen. Das sei einer der Gründe, warum der Fall so außergewöhnlich sei.
Die Fragen, die über allem stehen: Wo ist Rebecca? Lebt sie noch? Ein Überblick über die Schlüsselmomente eines Falls, der weiterhin große Rätsel aufgibt.
Über Peter Jamin
Peter Jamin (geboren 1951) arbeitete bis 1985 rund 15 Jahre als Redakteur und stellvertretender Redaktionsleiter in Redaktionen der WAZ-Zeitungsgruppe. Anschließend war er viele Jahre als freier Autor und Kolumnist tätig. Sein Spezialgebiet ist das Thema „Vermisste Menschen“, zudem veröffentlichte er unter anderem vier Sachbücher, eine mehrjährige Fernsehreihe beim WDR Fernsehen sowie zahlreiche Artikel. Seit 1992 befasst er sich mit dem Thema „Vermisst“ und berät seit über 25 Jahren ehrenamtlich Angehörige von Vermissten.
Schlüsselmoment 1 im Vermisstenfall Rebecca Reusch - Das spurlose Verschwinden
- 18. Februar 2019: Die 15-jährige Rebecca Reusch verschwindet aus dem Haus ihrer Schwester und ihres Schwagers. Dort hat sie übernachtet. Ort: Maurerweg, Berlin-Britz. Um 9.50 Uhr hätte sie in ihrer Schule in der Fritz-Erler-Allee ankommen sollen. Rebecca taucht dort nicht auf. Am 23. Februar übernimmt die Mordkommission den Fall. Die Suche nach Rebecca läuft auf Hochtouren - und bleibt erfolglos.
Das spurlose Verschwinden der 15-Jährigen bezeichnet Jamin gegenüber IPPEN.MEDIA als einen von vier Schlüsselmomenten. „Denn dahinter steht nicht nur, dass die Polizei wenig Spuren hat und wirklich im Dunkeln tappt, sondern auch, dass das ein Riesen-Eingriff für die Familie, für die Angehörigen ist.“
Ein großes Problem sei die Ungewissheit darüber, was mit dem Mädchen passiert ist. „Das ist eine ewig dauernde Tortur, die sich jemand, der so etwas noch nicht erlebt hat, eigentlich gar nicht vorstellen kann.“ Dabei spiele es keine Rolle, wie lange jemand vermisst werde. „Die Qualen sind immer gleich“, erklärt der Experte, „solange diese vermisste Person nicht wieder auftaucht, dauert dieses Leid ewig.“
Schlüsselmoment 2: Ein Foto als „eklatanter Fehler“ im Fall Rebecca Reusch
Drei Tage nach dem Verschwinden Rebeccas veröffentlichte die Polizei ein Foto der Vermissten – und geriet damit schon 2019 in der ZDF-Talkshow von Markus Lanz in die Kritik. Die 15-Jährige ist darauf – auch ihrer Schwester Vivien zufolge, die in der TV-Sendung sprach – nicht gut zu erkennen. Es sei offensichtlich bearbeitet, so Jamin gegenüber IPPEN.MEDIA. Dabei seien, so Vivien in der Talkshow, mehrere Fotos an die Polizei gegeben worden.
„Dass es damals gewählt wurde, kann ich gut verstehen“, so der Experte. „Die Polizei hatte eine Auswahl von Fotos und hat gesagt: Das ist ein gutes Foto, das sieht auch gut aus. Aber sie müssten jetzt wirklich hingegangen sein, das Foto nicht mehr zu benutzen“, kritisiert er.
„Wie will man eine Vermisste suchen, wenn man das falsche Foto hat? Ich halte das für einen eklatanten Fehler der Polizei“, fährt er fort. Es sei nicht nachvollziehbar, dass auch zum vierten Jahrestag von Rebeccas Verschwinden in der dazugehörigen Pressemitteilung nur dieses Foto verwendet werde. Es sei wichtiger, ein Foto zu nehmen, das ihrem normalen Aussehen nahekomme.

Rebecca Reusch seit vier Jahren vermisst: Ihr Schwager unter Verdacht
Der Verdacht der Polizei fiel kurz nach Rebeccas Verschwinden auf deren Schwager. Er wurde zweimal festgenommen. In der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY“ erklärte Michael Hoffmann, Leiter der dritten Mordkommission, 16 Tage nach dem Verschwinden: „Wenn wir die allgemeinen Ermittlungen übereinanderlegen, hierbei auch das Telefonverhalten von Rebecca beachten und die Auswertung der Routerdaten aus dem Haus des Schwagers, kommen wir zu dem Schluss, dass Rebecca das Haus nicht verlassen haben dürfte. Wenn wir dies voraussetzen, dann war der Schwager allein zu fraglichen Tatzeit mit ihr im Haus.“ Hinzu kamen zwei „seltsame und klärungsbedürftige“ Fahrten mit einem himbeerroten Renault Twingo. Es gebe Ungereimtheiten, hieß es in einer Pressemitteilung.
Im Jahr 2020 äußerte sich die Staatsanwaltschaft gegenüber der Deutschen Presseagentur (dpa):
Wir gehen weiterhin davon aus, dass Rebecca das Haus des Schwagers nicht lebend verlassen hat. Sämtliche Alternativgeschehen (...) können wir nach den Ermittlungen ausschließen. Für ein freiwilliges Verlassen der häuslichen Umgebung gibt es überhaupt keine Hinweise.
Rebeccas Schwager im Fokus der Polizei - „In Vermisstenfällen gibt es ungeheure Wendungen“
Auch drei Jahre später steht der Schwager weiterhin im Fokus der Polizei. Wie die Berliner Staatsanwaltschaft gegenüber IPPEN.MEDIA mitteilte, hat „eine Durchsuchung mit dem Zweck des Auffindens von Beweismitteln bei dem Beschuldigten, gegen den die Ermittlungen weiterhin andauern, stattgefunden.“ Weitere Details könnten nicht mitgeteilt werden. Hintergrund sei die Möglichkeit einer Ermittlungsgefährdung.
Skeptisch sei Jamin, ob der Schwager wirklich der Täter sei. Er habe sich verdächtig gemacht. Der Vermissten-Experte erklärte jedoch: „Ich kenne mehrere solcher Fälle, in denen Angehörige als Täter bezichtigt worden sind und es wurde nie aufgeklärt. Es gibt auch Fälle, da hat sich genau das Gegenteil herausgestellt.“ Daher gelte immer die Unschuldsvermutung – auch im Fall Rebecca Reusch. „In Vermisstenfällen gibt es ungeheure Wendungen, die man sich noch nicht so vorstellen kann.“ Eine Entführung oder das freiwillige Weggehen Rebeccas könnten nicht vollkommen ausgeschlossen werden, meint der Experte, der sich seit den 90er Jahren mit mehr als 2000 Vermisstenfällen im Detail auseinandersetzte.

Schlüsselmoment 3: Schwager als Tatverdächtiger im Fall Rebecca Reusch
Dass der Schwager jedoch im Fokus der Ermittlungen stehe, sei ein weiterer Schlüsselmoment des Falls, so Jamin. Er greife in die Familienstruktur ein und löse eine ganz schwierige Situation aus.
„Wenn die Familie der Polizei glaubt, haben sie einen ganz negativen Blick auf den Schwager. Wenn man aber dem Schwager glaubt, steht man in Konfrontation zur Polizei – was ja in der Tat auch so ist. Die Familie steht zum Schwager, sagt ‚Nein, er hat damit nichts zu tun‘. Da haben sie zumindest ihre Position gefunden. Nichtsdestotrotz kann es natürlich passieren, dass das irgendwann umschlägt oder dass Zweifel innerhalb der Familie aufkommen“, ordnet der Experte ein.
Schlüsselmoment 4: Rebecca Reusch verschwunden – Familie geht an die Öffentlichkeit
Hinzu käme das Engagement der Familie als vierter Schlüsselmoment. „Sie gehen selbst an die Medien, sprechen von ihrer Hoffnung, erzählen aus ihrem Leben“, erklärt er. Rebeccas Familie etwa trat in einer TV-Doku auf, die Schwester meldete sich unter anderem in einem Podcast zu Wort. Immer wieder Hinweise zu geben, sei für die Angehörigen, aber auch die Öffentlichkeit wichtig, ordnet Jamin ein.
Dass Rebecca noch lebe, sei gut möglich, so der Vermissten-Experte, der anfügt, „wenn man nicht der Theorie der Polizei glaubt“. (mbr)
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