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Die Super-Babuschkas

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Von: Stefan Scholl

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Larissa Nowikowa wollte nicht fürs Foto posieren – an der Seite ihres Neffen machte sie doch mit.
Larissa Nowikowa wollte nicht fürs Foto posieren – an der Seite ihres Neffen machte sie doch mit. © Scholl

Russische Rentnerinnen wie Larissa Nowikowa arbeiten für zwei, bestellen Gemüsegärten und ernähren ihre Enkel. Ihre Bedeutung für Wirtschaft und Gesellschaft ist kaum zu ermessen.

Vor dem Interview tischt Larissa erst einmal Hühnersuppe auf. „Essen Sie, reden können wir immer noch!“ Larissa Iwanowna Nowikowa, 69, Rentnerin in Twer an der oberen Wolga, ist gerade erst nach einer Hüftoperation aus dem Krankenhaus entlassen worden, aber ihr Blick wirkt eher gelassen als leidend. Sie wolle sich jetzt wirklich zur Ruhe setzen, sagt Larissa. Das habe sie im Krankenhaus entschieden. „Ich habe gemerkt, dass ich die Arbeit gar nicht vermisse.“ Es klingt fast ein bisschen erstaunt.

Larissa Nowikowa gehört zu den 46 Millionen Rentnern in Russland. Und zu den knapp 9,7 Millionen Russen, die trotz Pension weiterarbeiten. Zwei Drittel der russischen Rentner sind Frauen, auch jenseits des Erwerbslebens ist der Wert der Babuschkas für Wirtschaft und Gesellschaft nicht in Zahlen zu messen.

Wir sitzen in der Sechsquadratmeter-Küche von Larissas Einraumwohnung, nach dem Tod ihres Mannes tauschte sie ihre Zweizimmerwohnung dafür ein: Ihr Sohn und seine Familie brauchten Bargeld. Von der Anrichte lächeln TV-Bildschirm und Mikrowelle, der Kühlschrank trägt ein deutsches Firmenschild, im Wohnzimmerregal stehen Rezeptbücher neben einem Prosaband von Iwan Bunin.

Larissa sagt, sie komme ohne Probleme mit ihrer 17.000 Rubel-Pension aus, umgerechnet 230 Euro. Zum Vergleich, die offizielle Durchschnittsrente in Russland beträgt knapp 200 Euro, in der Twerer Provinz nur 130 Euro. Auch in Moskau liegt die mittlere Pension nur 24 Prozent über dem Existenzminimum.

Larissa hat immer malocht. Mit knapp 16 begann sie in der Dorfschule zu putzen, wo sie bis kurz vorher noch Schülerin gewesen war. Drei Jahre später heiratete sie, zog ins 80 Kilometer entfernte Kalinin, heute Twer, verdingte sich in einer Möbel-, dann in einer Hutfabrik. 27 Jahre lang schneiderte sie vor allem Uniformschirmmützen, verdiente Ende der Achtzigerjahre 450 Rubel. Ein stattliches Sowjetgehalt, später ließ sie danach ihre Rente berechnen. Als aber nach dem Fall der Sowjetmacht 1991 die Schichten in der Hutfabrik immer häufiger ausfielen, begann sie nachts wieder als Putzfrau zu arbeiten, in einem Straßenbahn-Depot, mit doppeltem Pensum.

Die Regierung erregte vergangenes Jahr nationalen Unwillen, als sie das Rentenalter für Männer (ab dem Jahrgang 1963) von 60 auf 65 und für Frauen (ab Jahrgang 1968) von 55 auf 60 erhöhte. Larissa ging freiwillig fünf Jahre später in Rente, 2010. Auch danach rackerte sie weiter, zuletzt in einer Fleischkonservenfabrik, jeden Tag von acht bis 14 Uhr, als Reinigungskraft und Köchin. „Ich habe auch wegen des Kollektivs gearbeitet“, erklärt sie. „Alle waren immer sehr zufrieden, sogar der Direktor hatte Achtung vor mir.“ Dort verdiente sie umgerechnet gut 140 Euro. „Wenig“, sagt die heimliche Heldin der Arbeit, „aber normal“.

Larissa gehört zu einer Frauengeneration, für die Leben Arbeit bedeutet und die Familie den Hauptzweck dieses Lebens. Ihrem einzigen Sohn, einem Straßenarbeiter, seiner Frau und ihren zwei Kindern gehe es gut. Aber Larissa hat ihnen immer geholfen, schleppte gesalzene Gurken heran, kaufte Zwiebelsamen für den Gemüsegarten auf der Familiendatscha, neue Jeans oder Kinderstiefel. „Sie tun mir ja doch leid“, sagt sie. Leid habe ihr auch immer Wanja getan, der Enkel aus der ersten Ehe ihres Mannes. Wanja übernachtete nach der Scheidung öfters bei ihr als Zuhause. Bei Bedarf hütet sie auch die fünfjährige Dascha, das jüngste Enkelkind. „Aber Dascha fragt selbst, wann sie zur Babuschka kann.“ Auch der erwachsene Wanja, der jetzt in Petersburg lebt, kommt oft zu Besuch. So wie die Nachkommenschaft ihrer vier Geschwister.

Laut Meinungsumfragen beklagen Russlands Rentner Armut und gesundheitliche Probleme als ihre Hauptsorgen. Die medizinische Versorgung ist offiziell kostenlos, aber von sehr unterschiedlicher Qualität. „Meine Operation ist glattgelaufen“, erzählt Larissa. Und sie habe sich die üblichen Geldgeschenke für die Chirurgin gespart. Nur der Stützgürtel, den sie jetzt trägt, kostete sie 16 Euro.

Auf Mallorca überwintern russische Pensionäre kaum. Auch Larissa hat nie im Leben an eine Auslandsreise gedacht. Russlands Rentnerinnen suchen ihr Glück im Altruismus. Millionen jäten tagsüber auf der Datscha Unkraut, bekochen und bespaßen nebenher die Enkelkinder, verdienen nachts als Portiers dazu, abends als Nachhilfelehrerinnen oder als Putzfrauen wie Larissa. „Wir gehören zur alten, harten Schule“, erklärt sie. „Wir sind es gewohnt, für zwei zu arbeiten.“ Die meisten der Multifunktions-Babuschkas haben nie ausgerechnet, welchen Mehrwert sie monatlich für ihre Familien erwirtschaften. Oder für sich selbst. „Ich habe nichts gespart“, Larissa lächelt, „nicht mal das Geld für meine Beerdigung“. Die Babuschkas leben im Jetzt.

Laut dem Global Retirement Index von 2018 für die Lebensqualität von Rentnern liegt Russland auf Platz 38 von 43, zwischen Mexiko und der Türkei. Aber nach Umfragen fühlen sich 45 Prozent der russischen Rentner glücklich. Und zwei Drittel der russischen Rentner, die nebenher arbeiten. Larissa macht sich keine Gedanken darüber, ob sie in zehn Jahren noch zu Fuß die Treppen zu ihrer Wohnung im zweiten Obergeschoss schafft. Sie erzählt von dem großen Fest, das sie zuhause, im Dorf, feiern will, wenn sie im Oktober 70 wird.

Diesmal sitzt Larissas Neffe Igor mit am Küchentisch, er ist 47 Jahre, Klempner. Wie es mit seiner Rente aussieht? Igor grinst. „Darüber mache ich mir keine Sorgen. Ich werde kaum so alt, dass ich einmal Rente kriege.“ Im Gebiet Twer liegt die mittlere Lebenserwartung der Männer bei 63 Jahren, zwei Jahre unter dem neu festgesetzten Rentenalter.

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