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Rein in die gute Stube

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Von: Sophie Vorgrimler

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Am 23. oder 25. Dezember geht es immer in die Stube.
Am 23. oder 25. Dezember geht es immer in die Stube. © Sina Schuldt/dpa

Der Kneipenabend als Bad in der Vergangenheit: Folge zehn unserer Adventsgeschichten.

So viele Jahre waren wir fast jeden Tag in der „Stube“. Jemand fragte: „Sollen wir noch eine Runde in die Stube?“ Alles nickte, alles klar. Noch kurz in die „Stube“, das war eigentlich nie verkehrt. Schon meine Mutter hat ihre Jugend in der „Stube“ verbracht. Ihre Generation, sagt sie, hat dort nach der Schule Kaffee getrunken und Hausaufgaben gemacht; und weil sich die Zeiten eben ändern, waren wir meistens am Abend da. Am Wochenende etwas länger, unter der Woche besser nicht ganz so lange, sonst war nicht nur die Fahrradfahrt nach Hause eine Qual, sondern auch der nächste Schultag. Man hat ja immer jemanden getroffen, wenn man nur noch mal eine Runde …

Jemanden, der die skurrilsten, albernsten Geschichten kannte oder wusste, wer mit wem und wer nicht mehr. Da war immer jemand, mit dem wir Sorgen teilen, uns über Träume austauschen oder kreative, kaum umsetzbare Masterpläne schmieden konnten. Manchmal saßen wir einfach nur da und haben in den Raum geguckt. Der wie unser Wohnzimmer war. In einem urigen Fachwerkhaus in einer kleinen Kleinstadt, immer neue Fotos oder Gemälde an der Wand, entspannte Musik aller Jahrzehnte, solider Rotwein aus der Region. Jahrelang war ich fast jeden Tag in der „Stube“. Und jetzt – die Zeiten ändern sich eben – nur noch einen Tag im Jahr.

Wie so viele wohne ich Hunderte Kilometer entfernt von der „Stube“. Aber am 23. oder 25. Dezember, da gehen wir dorthin. Und es ist jedesmal, als wäre keine Zeit vergangen. Alle sind da: Auf der Treppe zwischen Erdgeschoss und dem Raucherbereich in der oberen Etage steht Weizen-Nobbi. Er steht dort immer und immer noch jeden Abend und behält den Überblick – immer eine Hand am Weizenglas. Auch Emil ist da, sitzt am Kopf des großen Tisches im Raucherbereich, vor sich einen kleinen Notizblock. Und – wie damals auch – zeigt er ab und zu eine Zeichnung. Oder liest ein Gedicht vor, das er gerade geschrieben hat. Wie damals: Lustige Momente, nachdenkliche Momente.

Kommt man heute in die „Stube“, ist es wie ein Bad im knisternden Schaum der Vergangenheit, ein Abtauchen in eine Zeit, an die man an 364 Tagen im Jahr nicht denkt. Natürlich sind die allerengsten Jugendfreunde dabei. Oder die, mit denen man über das Jahr eher lose Kontakt hält: „Wir müssen uns mal wieder sehen“ – „Unbedingt!“ Und dann sehen wir uns doch erst in der „Stube“. Ehemalige Klassenkamerad:innen, Bekannte aus Vereinen, Leute aus der ehemaligen Nachbarschaft, Freunde von Freunden, verflossene Jugendlieben oder Menschen, die man einfach aus der „Stube“ kennt. So viel hat sich verändert, aber zwischen uns ist noch alles gleich – naja, fast alles.

weihnachtsrituale

Für die einen ist es die Gans an Heiligabend, für die anderen muss es „Drei Nüsse für Aschenbrödel“ im Nachmittagsprogramm sein. Wir alle haben bestimmte Geschichten, Filme oder auch Rituale, die zu Weihnachten gehören – und ohne die unsere Adventszeit nur halb so festlich wäre. In diesem Jahr finden Sie im FR-Adventskalender nicht nur die beliebten persönlichen Geschichten, sondern hin und wieder auch Verlosungen. Viel Glück und auf jeden Fall: Frohes Fest! FR

Manchmal ähneln sich die Erfahrungen, die man über das Jahr gemacht hat. So viele Geschichten und Gesichter, allesamt fast vergessen, und es ist so schön, sie wieder zu hören und zu sehen. Wir freuen uns, dass Daniel Depp sich in einer anderen Stadt eine neue Identität erkämpft hat und stolz von seinem Job in einer asiatischen Metropole und seiner Radreise durch den Balkan erzählt. Und wir sind ein wenig schadenfroh, dass der mit den fiesen Sprüchen und dem lässigen Rufnamen mit seiner Art wohl nicht viel weiter gekommen ist, als einen potenziellen Nachfolger für Weizen-Nobbi abzugeben.

Wenn ich an Weihnachten in die „Stube“ gehe, ist alles für einen Abend wie früher: der Wein ist fein, die Heimfahrt mit dem Fahrrad eine Qual. Nur: Diese jungen Leute, die da jetzt am großen Tisch sitzen, als gehörten sie zum Mobiliar, die gab es früher noch nicht.

Was es früher auch nicht gab: eine leere Stube. Geht man am 23. oder 25. Dezember abends in die „Stube“, ist sie normalerweise rappelvoll. Voriges Jahr war wegen Corona niemand da – und auch dieses Jahr sieht es schlecht aus. Kurz sorgte die Nachricht für Aufregung, die „Stube“ werde schließen. Tut sie nun wohl doch nicht, Glück gehabt. Und ein Jahr geht ja auch schnell rum.

Hinweis: Zum Schutz von Weizen-Nobbi, Emil und Daniel Depp, die anders heißen, wurde auch die Kneipe umbenannt.

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