Ohne Chef und Eigentum

Jörg Bergstedt wehrt sich mit allen Mitteln gegen den Staat. Und der Staat wehrt sich gegen ihn. Sein Konflikt mit Ministerpräsident Volker Bouffier ist mittlerweile zum Aufreger in Hessen geworden.
Jörg Bergstedt wehrt sich mit allen Mitteln gegen den Staat. Und der Staat wehrt sich gegen ihn. Sein Konflikt mit Ministerpräsident Volker Bouffier ist mittlerweile zum Aufreger in Hessen geworden.
Wie Jörg Bergstedt leben will, steht in lila an die gelbe Hauswand gemalt: „Leben ohne Chef + Staat“. Hier, in einem hessischen Kaff namens Reiskirchen-Saasen, zwanzig Kilometer vor Gießen, wohnt der 47-jährige Anarchist. Oft jedenfalls.
Manchmal ist Bergstedt auch weg, monatelang. Meistens wohnen auch andere hier. Sie schauen vorbei, bleiben oder gehen wieder. „Hier kann jeder kommen, der will“, sagt der Mann mit dem Kruschelbart, „jeder kann arbeiten, an Aktionen mitmachen, die Bibliothek benutzen. Für fünf Stunden oder fünf Jahre.“ Tatsächlich kommt gerade ein Mann rein, ruft: „Ich bin der Ulli und suche die Clownsgruppe.“ Bergstedt weist ihm den Weg.
Das ist die freundlich-anarchische Seite des Jörg Bergstedt, dessen langjähriger Konflikt mit Ministerpräsident Volker Bouffier mittlerweile zum Aufreger in Hessen geworden ist. Die Polizei unter dem damaligen Innenminister Bouffier steht unter Verdacht, dazu beigetragen zu haben, dass Bergstedt 2006 für vier Tage zu Unrecht ins Gefängnis musste. Die Polizei hatte ihn damals wegen Sachbeschädigungen festgenommen, obwohl sie ihn beim Federballspielen observiert hatte.
Die andere Seite des Jörg Bergstedt ist der wichtigste Grund dafür, warum sich jahrelang kaum einer für seine rechtswidrige Behandlung interessiert hat. Die Abneigung zwischen den Parteien und ihm beruht auf Gegenseitigkeit. Denn Bergstedt ist ein radikaler, ein kompromissloser Systemgegner. Selbst der Naturschutzbund war ihm zu hierarchisch. Er trat wieder aus.
Bergstedt mag bunten, clownesken Protest, bei dem sich Aktivisten als Polizisten verkleiden oder als Putzfrauen, um Einsätze der Staatsmacht zu stören. Er schätzt es, wahlkämpfende Politiker bloßzustellen, mit Megafon oder gefälschten Wahlplakaten.
Aber Bergstedt berichtet auch mit Sympathie über militante Aktionen, ohne je zu verraten, ob er an einer beteiligt gewesen ist. Ein Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit kann man ihm jedenfalls nicht entlocken.
Lehrstunde Molotow-Cocktail
Die Treppe hinauf, über dem ehemaligen Kuhstall nach rechts: Hier befindet sich der zehn Quadratmeter große Raum, der die Polizei am meisten interessiert: die Sabotage-Werkstatt. Da kann man lernen zu klettern und sich anzuseilen. Oder auch, wie man Molotow-Cocktails baut.
Was das soll? „Wenn ich keine Molotow-Cocktails einsetzen will, dann weil ich es nicht will, nicht, weil ich es nicht kann“, so Bergstedts Logik. Bei Protesten in Athen zum Beispiel habe ein Brandsatz nur deshalb Menschen verletzt, weil er unsachgemäß gebastelt worden sei, sagt der Polit-Aktivist. Nicht zuletzt wegen solcher Aktivitäten werfen Verfassungsschutz und Polizei immer wieder eine Auge auf Bergstedt.
Aber genau so sehr interessiert sich Bergstedt seinerseits für die Staatsorgane. Seit Jahren zieht er mit einer Performance durch die Lande. Sie heißt: „Die fiesen Tricks von Polizei und Justiz“. Darin spielt der Polizei-Einsatz eine wichtige Rolle, der jetzt die hessische Politik aufwirbelt.
Bergstedt trinkt Tee in der Küche der Projektwerkstatt, beobachtet das Gegenüber munter durch seine Brille. Er trägt Jeans und einen dunklen Pullover. Rasch erzählt er, scharf und angriffslustig.
Sein ganzes Leben ist politisch. Herrschaft lehnt Bergstedt ab. Geld braucht er fast nie. Es gibt zwei Schlafsäle hier, ein eigenes Zimmer besitzt Bergstedt nicht. Er scheint es nicht zu vermissen.
Draußen führt eine Tür in den gefüllten Vorratskeller. Nudeln, Gewürze, Kaffee – alles stammt aus Supermärkten, die die Sachen weggeschmissen hatten. Einmal pro Woche fährt jemand „containern“, also Lebensmittel aus den Müllcontainern sammeln.
„Das meiste sind Biosachen“, sagt Bergstedt: Im Preis herabgesetzt würden nur billige Waren. Teure Bioprodukte aber nie, um die Preise im Geschäft nicht zu drücken. „Lieber schmeißen die Supermärkte sie weg.“ So verrückt ist diese Welt, so verrückt ist dieser Kapitalismus, will er sagen. Wer das Politische sucht wie Bergstedt, findet es überall.
Er reist von Freiburg bis Flensburg, hält Vorträge vor linken Gruppen, in einem schelmisch-amüsierten Ton. Meistens über Gentechnik. Seine Performance über Polizei und Justiz wird nicht so oft gebucht. Selbst vielen linken Gruppen gehe seine Systemkritik zu weit, glaubt Bergstedt.
Es wirkt wie ein Treppenwitz, dass sich ausgerechnet bei den haarsträubenden Vorgänge um seine Inhaftierung 2006 genau das zeigt, was er den staatlichen Behörden immer wieder vorwirft: fragwürdige Polizeiaktionen, eine rechtswidrige Inhaftierung, unterdrückte Akten und schweigende Politiker. Aberwitziger hätte sich auch einer wie Jörg Bergstedt das Treiben der staatlichen Behörden nicht ausmalen können.