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Ohios stilles Inferno

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Von: Karl Doemens

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Die Unglücksstelle in der Kleinstadt East Palestine ist noch immer weiträumig abgesperrt. a. Merendino / GETTY IMAGES NORTH AMERICA / Getty Images via AFP
Die Unglücksstelle in der Kleinstadt East Palestine ist noch immer weiträumig abgesperrt. © afp

Nach einem Zugunglück werden Unmengen giftiger Gase freigesetzt, in den Bächen treiben tote Fische, die Menschen klagen über Übelkeit. Doch die Behörden sehen keinen Grund zur Besorgnis

Die Evakuierung der Häuser ist aufgehoben, die Schulen haben wieder geöffnet, und auf der Bahnstrecke rollt der Verkehr. Aus der Ferne könnte man fast glauben, in dem 4700-Einwohner-Ort East Palestine zwischen Pittsburgh und Cleveland an der Ostgrenze des Bundesstaats Ohio kehre zwei Wochen nach einem katastrophalen Zugunglück die Normalität zurück – wären da nicht dieser anhaltende faulige Geruch in der Luft, die toten Fische im Fluss und die Kopfschmerzen, über die viele Menschen im Ort klagen.

„Wir haben im Grunde einen ganzen Ort vernichtet, um die Bahnstrecke freizukriegen“, beschreibt Si Caggiano, der frühere Feuerwehr-Chef des 50 Meilen entfernten Städtchens Youngstown, im Gespräch mit einem lokalen Radiosender drastisch die Lage. „Dies ist eine der tödlichsten Umweltkatastrophen seit Jahrzehnten“, schlägt Jamaal Bowman, ein linker Demokraten-Abgeordneter aus New York, Alarm. Schon sprechen rechte Fernsehmoderatoren wie Dagen McDowell vom „Tschernobyl in Ohio“.

Einige der etwa drei Dutzend entgleisten Waggons fingen Feuer, wie diese Aufnahme vom 4. Februar zeigt. G. J. Puskar/AP/dpa
Einige der etwa drei Dutzend entgleisten Waggons fingen Feuer, wie diese Aufnahme vom 4. Februar zeigt. © dpa

Das Umwelt-Drama in East Palestine hat sich über zwei Wochen und bislang weitgehend ohne größere Beachtung in den nationalen Medien der USA entfaltet. Am Anfang steht die routinemäßige Fahrt des Güterzuges 32N der Norfolk Southern Railways, der wie oft in den USA mit drei Lokomotiven und 150 Waggons eine gigantische Länge hatte. Kurz vor 21 Uhr am 3. Februar entgleiste das Mammut-Gefährt bei East Palestine. 38 Wagen sprangen aus der Spur und explodierten, viele weitere wurden bei dem Feuer schwer beschädigt.

Mindestens ein Dutzend der entgleisten Tank-Waggons transportierte Gefahrengüter, darunter insbesondere das krebserregende Vinylchlorid, das zudem narkotisierend wirkt und die Leber reizt. Angesichts der extremen Temperaturen am Brandherd befürchteten die Behörden eine gigantische Detonation und entschieden sich daher drei Tage nach dem Unglück, die giftige Chemikalie freizusetzen und kontrolliert abzufackeln. Im Umkreis von 1,6 Kilometern wurden sämtliche Häuser evakuiert. Auf Videoaufnahmen ist zu sehen, wie ein monströser schwarzer Rauchpilz in die Luft schießt und den Himmel verdunkelt.

Wasserproben bisher negativ

Das sichtbare Inferno dürfte kaum die schlimmste Folge gewesen sein. Beim Verbrennen von Vinylchlorid werden nämlich Chlorwasserstoff und Phosgen freigesetzt, das im Ersten Weltkrieg als Kampfgas eingesetzt wurde. Umweltschutzverbände fürchten nun, dass die Giftstoffe immer noch in der Luft oder in den Boden und das Grundwasser eingesickert sind.

Während das Ereignis in den nationalen Medien deutlich weniger Aufmerksamkeit als die mutmaßlich harmlosen unidentifizierten Flugobjekte am Himmel findet, tauchen in den Online-Netzwerken zunehmend Fotos von toten Hunden, Füchsen und Hühnern auf, alle mutmaßlich aus East Palestine. Die lokalen Behörden haben festgestellt, dass vier Wasserläufe des Ohio River auf einer Länge von zwölf Kilometern kontaminiert sind und schätzen, dass etwa 3500 Fische verendet sind. Viele Menschen in der Region klagen über brennende Augen, Kopfschmerzen, Husten und Übelkeit.

Trotzdem besteht nach offiziellen Angaben für die Einwohner:innen keine akute Gefahr. Die Umweltbehörde EPA hat in der Luft keine Belastung über den Grenzwerten gefunden. Auch die Proben von Grund- und Trinkwasser fielen bislang negativ aus. Bei Messungen in 396 Häusern wurde keine Belastung mit Vinylchlorid oder Chlorwasserstoff festgestellt. Viele Menschen überzeugt das nicht. „Erzähl mir nicht, dass alles sicher ist, wenn tote Fische im Bach herumschwimmen“, sagte Cathey Reese, die im benachbarten Negley wohnt, dem Pittsburgher Lokalsender WPXI. Vor allem die Angst vor Langzeitschäden ist groß.

Die Waggons liegen noch immer entlang der Gleise in East Palestine. imago images
Die Waggons liegen noch immer entlang der Gleise in East Palestine. © imago

So verbreiten sich im Netz allerlei Gerüchte. Einige der dort geposteten Videos mit gigantischen Qualmwolken stammen nachweislich nicht aus East Palestine. Rasch haben auch die Republikaner das Thema für ihre Propaganda entdeckt. Sie sehen die Vorfälle als weiteren Beleg dafür, dass sich die Demokraten nicht um die Sorgen des Rostgürtels der USA kümmern. „Das ist ein weiteres Versagen unter der Verantwortung von Mayor Pete“, griff der rechte Abgeordnete Andy Biggs den Verkehrsminister in Washington an.

Der Unfall ist längst politisch

Tatsächlich hat Pete Buttigieg außer einem Tweet, in dem er sich „besorgt“ zeigte, bislang in der Sache wenig von sich hören lassen. Dabei weisen linke Politiker darauf hin, dass der Zug nicht mit elektronischen pneumatischen Bremsen ausgerüstet war, die das Drama möglicherweise abgemildert hätten. Unter der Obama-Regierung waren die vorgeschrieben, doch hatte ausgerechnet die Bahngesellschaft Norfolk Southern 2017 bei der Trump-Regierung eine Aufhebung dieser Vorgabe durchgesetzt. Auch andere Sicherheitsvorschriften sind nach Meinung von Umweltschützer:innen viel zu lasch. So musste der Zug nicht als Gefahrguttransport deklariert werden. Gewerkschaften weisen zudem auf die extreme Arbeitsbelastung des ausgedünnten Personals hin.

Was genau das ursprüngliche Unglück verursacht hat, ist derweil noch unklar. Überwachungskameras an der Strecke hatten eine funkensprühende Achse aufgenommen. Die Experten der zuständigen Behörde haben ein überhitztes Radlager sichergestellt, das nun untersucht wird.

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