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Die NS-Vergangenheit einer Kirche

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Der Spruch über dem Portal der Georgenkirche zitiert Martin Luthers gleichnamiges Kirchenlied.
Der Spruch über dem Portal der Georgenkirche zitiert Martin Luthers gleichnamiges Kirchenlied. © epd

Die Eisenacher Georgenkirche erinnert an ein dunkles Kapitel ihrer Geschichte – die „Entjudung“ während der Nazi-Zeit. Pfarrer Stephan Köhler hat in der Vergangenheit recherchiert und will sie dokumentieren.

Von Andreas Förster

Es ist ein grauer Tag in Eisenach. Also nichts wie hinein in die Museen, Galerien und Geschäfte oder, wie jetzt am Mittag, in die Georgenkirche am Markt. Zur rechten Zeit am rechten Ort: Draußen reißt plötzlich die Wolkendecke auf, Sonnenlicht ergießt sich durch die bunten Kirchenfenster, taucht den gekreuzigten Jesus auf dem Altar in eine fast unwirkliche Helligkeit. In diesem Moment setzt die Schuke-Orgel auf der Empore ein, der volle Klang Tausender Pfeifen flutet den Kirchenraum. Es ist ein Moment des Zaubers, der den Atem nimmt und einen aus der Zeit reißt.

Aber auch in der Kirche und erst recht in der Eisenacher Georgenkirche kann man sich den Zeitläuften nicht entziehen. Der 500 Jahre alte gotische Bau ist nicht nur eine der bedeutendsten Kirchen der evangelischen Christen, er ist auch ein Haus der deutschen Geschichte. Da ist der Taufstein im Zentrum der Hallenkirche, in dem Johann Sebastian Bach zwei Tage nach seiner Geburt 1685 getauft wurde. Im Chorraum dahinter stehen die Grabplatten der Thüringer Landgrafen aus dem 12. und 13. Jahrhundert. Georg Philip Telemann führte hier ab 1708 seine Kantaten auf. Knapp 200 Jahre zuvor, am 2. Mai 1521, predigte Martin Luther in der Georgenkirche, bevor er sich zwei Tage später als Junker Jörg auf der Wartburg vor den Häschern des Kaisers versteckte und mit der Bibelübersetzung begann.

Und dann gibt es noch ein anderes, finsteres Kapitel der Kirchengeschichte, das lange verborgen blieb. 1940 hatten nazitreue Christen dafür gesorgt, dass Verse aus der hebräischen Bibel, die im Kirchenraum angebracht waren, übermalt und durch Sprüche aus dem Neuen Testament ersetzt wurden. Nichts in der prächtigen Kirche sollte an die jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens erinnern. An die lange totgeschwiegene „Entjudung“ ihrer Kirche erinnert die Gemeinde seit vergangenem Sonntag in einer Predigtreihe. Und schon bald sollen die alten Verse aus der hebräischen Bibel wieder zurückkehren in die Georgenkirche.

Auf die Geschichte gestoßen ist Pfarrer Stephan Köhler. Der 48-Jährige ist ein hochgewachsener jungenhafter Mann, der mit großem Enthusiasmus von seiner Kirche spricht. Seit acht Jahren ist er Pfarrer der Georgenkirche, nachdem er zuvor jahrelang einer kleinen Gemeinde im Thüringer Dorf Ifta vorstand. „Als 2011 die Renovierung unserer Kirche anstand, haben wir im Archiv nach alten Bauakten gesucht“, erzählt er. „Da fiel aus einem Ordner plötzlich die vergilbte Rechnung einer Malerfirma aus dem Jahre 1940 heraus. Darin wurden 376 Reichsmark für das Anbringen von neuen Bibelsprüchen an den Emporen berechnet.“

An den steinernen Geländern der Emporen in der Georgenkirche hängen seit dem 17. Jahrhundert Holzplatten, die mit Porträts, Ornamenten oder Bibelversen bemalt sind. Ursprünglich schmückten die Emporen einmal bis zu 60 Sprüche, wie Pfarrer Köhler schätzt. Im 19. Jahrhundert seien sie dann entfernt worden. In den 1920er Jahren aber, anlässlich einer Renovierung der Kirche, seien einige der Holzplatten wiederentdeckt und erneut angebracht worden. Fortan schmückten die Emporen knapp zwei Dutzend Bibelverse, die überwiegend aus dem Alten und Neuen Testament, aber auch aus den alttestamentarischen Apokryphen stammten.

So blieb es bis 1940. Denn die vom zufälligen Fund der Rechnung ausgelöste Spurensuche von Pfarrer Köhler und seinen Mitarbeitern in den alten Bauakten förderte ein Schreiben der Dekorationsmalerei Tischer & Sohn aus Eisenach vom 1. Februar 1940 zutage. „Wir bitten höflich darum“, heißt es im Brief an Oberpfarrer Feix, dem damaligen Kirchenvorstand der Gemeinde St. Georgen, „uns für die zwölf ausgeschiedenen Sprüche eine Auswahl neuer Sprüche zusammenzustellen.“ Einen Monat später kam die Antwort von Feix samt einer Liste der zu tilgenden Verse und der neuen Sprüche. Unterzeichnet hatte der Oberpfarrer mit „verbindlichsten Grüßen und Heil Hitler“.

Die Grußformel war in dieser Zeit unter evangelischen Kirchenleuten keine Ausnahme. Ganz besonders nicht in Eisenach, wo die Georgenkirche damals am Adolf-Hitler-Platz lag. Thüringen war nach der Machtergreifung der Nazis unter seinem Landesbischof Martin Sasse zu einem der Zentren der Deutschen Christen geworden. Die Deutschen Christen, deren Fahne das Hakenkreuz mit dem christlichen Kreuz verband, waren eine rassistische und antisemitische Strömung, die den deutschen Protestantismus an die nationalsozialistische Ideologie angleichen und Christen jüdischer Herkunft aus der Kirche ausschließen wollte. Diese völkisch-national gesinnten Protestanten prägten auch die christliche Kirche in Eisenach.

„Es ist ein Glück, dass wir diesen Briefwechsel in den Bauakten gefunden haben“, sagt Pfarrer Köhler. „Denn nun wissen wir nicht nur, dass es diese Tilgung von Bibelversen überhaupt gegeben hat, sondern auch, welche Sprüche damals verschwunden sind.“ Zu den Versen an den Kirchenemporen, die vor den Deutschen Christen keine Gnade fanden, gehören demnach nicht nur die aus dem Alten Testament, sondern auch zwei aus dem Neuen – etwa „Zacharias sprach: gelobt sey der Herr, der Gott Israel/denn er hat besucht und erlöst seyn Volk“ aus dem Lukas-Evangelium sowie „Philippus spricht: Wir haben Jesum gefunden, von welchem Moses im Gesetz und die Propheten geschrieben haben“ aus dem Buch Johannes. „In beiden Zitaten störten sich die Deutschen Christen wohl an der Erwähnung Israels und des israelitischen Propheten Moses“, vermutet Köhler.

Für seine Georgenkirche ist das damalige Übermalen der Verse ein schmerzlicher Verlust gewesen, der bis heute nachwirkt, sagt der Pfarrer. „Das wird umso deutlicher, wenn man sich die verschwundenen Worte anschaut. In ihnen ist von einem freundlichen, liebevollen Gott die Rede.“ Im Gegensatz dazu sei ihm aufgefallen, dass einige der 1940 ausgesuchten neuen Bibelworte, die man noch heute lesen könne, dem damaligen Geist des Nationalsozialismus angepasst worden sind. „Es geht in diesen Versen um Stärke, Kraft, Entscheidungswillen. Da vorn zum Beispiel“, sagt Köhler und zeigt auf eine Tafel an der zweiten Empore links vom Altar. „‚Wachet, steht im Glauben, seid männlich und seid stark‘, steht darauf. Bei Luther aber heißt es an dieser Stelle eigentlich ‚seid mutig und seid stark‘. Da hat man also manipuliert, damit es besser in den Zeitgeist passt.“

Die Anpassung an die NS-Ideologie beschränkten die Deutschen Christen aber nicht nur auf die Georgenkirche. Nur einen Kilometer Luftlinie entfernt, mitten in einem gutbürgerlichen Wohnviertel im Süden Eisenachs, richteten elf nazitreue Landeskirchen im April 1939 sogar ein spezielles „Forschungsinstitut“ ein. Das „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ in der Bornstraße 11 gab ein Neues Testament unter dem Titel „Die Botschaft Gottes“ heraus, das um alle hebräischen Bezüge und Worte wie Amen, Hosianna und Halleluja gekürzt war. Dazu wurde ein Katechismus „Deutsche mit Gott“ für die Lehre publiziert. Die zentrale Botschaft lautete: Jesus war Arier, er kann kein Jude gewesen sein.

Ob die im Jargon „Entjudungsinstitut“ genannte Einrichtung 1940 auch das Übermalen der Bibelverse in der Georgenkirche angewiesen hatte, ist unklar. „Einen Hinweis darauf haben wir noch nicht gefunden, aber es sind auch längst noch nicht alle Akten der Gemeinde und des Instituts ausgewertet worden“, sagt Pfarrer Köhler. Und er beklagt, dass sich die evangelische Kirche noch zu wenig mit diesem dunklen Kapitel ihrer Vergangenheit beschäftigt. „Zwar hat die Thüringer Kirche in den letzten Jahren die Geschichte des Entjudungsinstituts erforscht, aber betrieben wurde die Einrichtung ja von mehreren Landeskirchen. Deshalb wäre es an der Zeit, dass die EKD sich endlich offen und ehrlich diesem Thema widmet und auch öffentlich diskutiert, wie dieses Gedankengut auch nach Kriegsende in der Kirche nachgewirkt hat.“

Am vergangenen Sonntag begann die Predigtreihe, mit der an die „Entjudung“ der Kirche erinnert werden soll. Ihr Leitmotto „Das Wort sie sollen lassen stahn …“ ist eine Zeile aus Luthers Kirchenlied „Ein feste Burg ist unser Gott“. In zwölf Predigten sollen bis ins kommende Jahr hinein die getilgten Bibelverse ausgelegt werden. Den Anfang machte nun der in der Schweiz lebende Rabbiner Tovia Ben Chorin, der über ein Wort des Tobitbuches aus jüdischer Perspektive predigte. Sein Vater Shalom Ben Chorin war ein berühmter Religionsphilosoph und eine wichtige Stimme im jüdisch-christlichen Dialog.

Der 69-jährige Ben-Chorin ist der erste Rabbiner, der in der an diesem Sonntag sehr gut besuchten Georgenkirche predigt. Und er hat eine ganz besondere, persönliche Beziehung zu Eisenach. Aus der Thüringer Stadt stammt die zweite Frau seines Vaters, Avital Ben-Chorin. Unter ihrem Geburtsnamen Erika Fackenheim war sie 1936 vor den Nazis nach Palästina geflohen. Ihre Großeltern und Eltern gelang nicht mehr die Flucht, sie wurden deportiert und im Konzentrationslager ermordet. Vor dem Haus in der Eisenacher Schmelzerstraße 14 erinnern Stolpersteine an die Familie Fackenheim.

Pfarrer Köhler ist sehr zufrieden mit dem Auftakt der Predigtreihe, aber er will es nicht dabei belassen. „Die entfernten Bibelworte sollen wieder in unsere Kirche zurückkehren“, sagt er. Das Vorhaben trifft allerdings nicht nur auf Zustimmung in der Gemeinde. „Es gibt einige, die sagen, das sei doch eine alte Geschichte und wir sollten sie ruhen lassen, denn heute gebe es ganz andere Probleme“, erzählt er. Aber Köhler lässt sich nicht beirren. Seine Idee ist es, die verfemten Verse auf Glas zu ätzen und vor die Holzplatten zu schrauben. „Sie sollen sich schon optisch abheben von den anderen alten Sprüchen an den Emporen“, sagt er. „Denn nur so können sie uns und den Besuchern der Kirche den Anstoß geben, sich an die Geschichte zu erinnern.“

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