Niederlande: Sturmflut mit Folgen

Vor 70 Jahren löst die Sturmkatastrophe ein nationales Trauma aus. Daraus entwickelt sich ein zentrales Dogma des Landes: die Natur zu beherrschen - mit riesigen Deichbauten.
Für die Königin schien es wie eine Strafe von ganz weit oben. „Das Rätsel des Warum ist nur dem Herrn bekannt. Er weiß, wann er jedes seiner Kinder rufen muss. Und er weiß, welche Prüfung wir ertragen können, einzeln und alle zusammen“, sagte die niederländische Monarchin Juliana im Februar 1953. Ein gewaltiger Sturm der Stärke 10 hatte sich in der Nacht vom 31. Januar zum 1. Februar aufgebaut und zusammen mit der einsetzenden Flut der Gezeiten eine riesige Hochwasserwelle ausgelöst. Weite Teile der Provinz Zeeland wurden überflutet, ganze Dörfer weggespült, 1 836 Menschen kamen ums Leben. Der Schaden in heutigen Preisen: rund 5,4 Milliarden Euro.
Kaum eine Fernsehsendung oder Zeitung in den Niederlanden kommt in diesen Tagen ohne einen Rückblick auf das Hochwasser von 1953 aus. Ein nationales Trauma. „Die Erinnerung an das Unglück von 1953 muss wachgehalten werden“, so die Überlebende Adri van der Ree, 89. Schon Königin Juliana appellierte vor 70 Jahren an den Durchhaltewillen der Bevölkerung. In Gummistiefeln stapfte sie damals durchs Land, ein Bild, welches das Image der Monarchin prägte. Ebenso wie ihre Beharrlichkeit. Sie wünsche sich, „dass wir, mit beharrlichem Durchhaltevermögen, den Wiederaufbau im Miteinander für alle sichtbar vollenden“, mahnte die Königin.

So ist es auch gekommen. „Wir haben ein viel höheres Sicherheitsniveau als 1953“, so Peter Glas im Nachrichtenportal nu.nl. Glas ist seit vier Jahren Delta-Kommissar, so etwas wie der oberste Flutschützer des Landes. Denn anders als die Königin begriffen viele in den Niederlanden die Wassermassen weniger als göttliche Strafe, sondern als eine Herausforderung für eine ureigene Tugend der Niederländer: die Kunst, die Gewalt der Natur mit Ingenieurleistungen zu beherrschen.

Das Land im Nordwesten Europas hatte stets den Wassermassen getrotzt. Die Notwendigkeit, das Wasser gemeinsam zu managen, hatte schon im Mittelalter zu frühdemokratischen Verwaltungsstrukturen geführt. Schließlich muss das Unglück gemeinsam zurückgeschlagen werden. Und so ist der Schutz gegen die See, wie die Niederländer das Meer nennen, das blaue, einigende Band des Landes. „Es gibt kein Land mit einem ähnlich hohen Sicherheitsniveau für seine Sperrwerke und Deiche“, sagt Deltawerke-Chef Glas nicht unbescheiden.
In den Niederlanden passiert ein Unglück eben nicht einfach so. Auch nicht die Flut von 1953. Katastrophen werden im Land der protestantischen Macher-Ethik zunächst als Unfälle gesehen. Und die haben Ursachen. So machte sich das Land nach 1953 daran, eine gewaltige Sperranlage gegen das Wasser zu errichten: die Deltawerke. Eine technische Meisterleistung, die niederländische Deichbaukunst in Zeiten des Klimawandels auf der ganzen Welt gefragt macht. Nicht umsonst war Julianas Enkel, der heutige König Willem Alexander, jahrelang Vorsitzender des UN-Komitees für Wassermanagement. „Hier, in den am niedrigsten gelegenen Gebieten in Europa, ist seit 70 Jahren niemand durch Hochwasser ums Leben gekommen“, so Glas stolz.

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg stand der Wiederaufbau im Mittelpunkt. Deshalb haben sie die Deiche etwas vernachlässigt. Mit fatalen Folgen, wie die Flut 1953 zeigte. Und so haben die Niederlande aufgerüstet, die Deiche von einst 4,30 Meter auf 7,65 Meter erhöht und gewaltige Sperrwerke errichtet. Dennoch schauen sie auf den Klimawandel. „Der Meeresspiegel ist immer um zwanzig Zentimeter pro Jahrhundert angestiegen, aber derzeit sind es vierzig Zentimeter in einem Jahrhundert“, sagt Glas. Ab der Mitte des Jahrhunderts wird es mit der Prognose unsicher: „Einen Anstieg des Meeresspiegels von zwei Metern können wir mit den klassischen Deichbaumethoden bewältigen“, sagt der Delta-Commissaris, „aber bei fünf Metern müssen wir unsere Landnutzung anpassen“.

Das Deltaprogramm wird deshalb stetig fortgeschrieben. „Leben mit dem Wasser“, lautet die neue Devise in den Niederlanden. Im Binnenland wird den Flüssen mehr Platz gegeben, Menschen werden umgesiedelt. An der Küste planen sie mit schwimmenden Siedlungen. Die Niederlande haben immer mit dem Wasser gelebt. Sie sind dabei immer flexibel gewesen. Und realistisch. Delta-Commissaris Glas: „Eine hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht.“ Diese Einsicht ist das erste Gebot im Hochwasserschutz in den Niederlanden. Nicht erst seit 1953.