Nestlé macht lukrative Geschäfte mit Trinkwasser

Wer in Pakistan Leitungswasser trinkt, kann sich Durchfall, Hepatitis, Typhus und Darmwürmer einfangen. Der Nestlé-Konzern produziert Trinkwasser für die, die es sich leisten können. Ein lukratives Geschäft.
Es ist ein gutes Hotel. Eins, in dem auch die Ausländer absteigen. Geräumige Zimmer, große Fenster, Doppelbett, großes Bad mit Badewanne und Dusche. Man kommt rein, freut sich, nach der langen Reise aufs Bett. Noch schnell ins Bad. Aber dann das: Unter dem Spiegel hängt die Warnung, mit goldener Schrift auf schwarzem Grund: „Leitungswasser eignet sich nicht zum Trinken.“ Und nebendran: „Wasser ist kostbar. Benutze es mit Bedacht.“ Das Ganze nur auf Englisch, nicht auch in Urdu, der Landessprache. Die Bürger dieses Landes müssen über die Qualität ihres Wassers nicht mehr aufgeklärt werden. Die wissen natürlich Bescheid. Denkt man sich.
Wir sind in Lahore, der zweitgrößten Stadt Pakistans. Lahore liegt im Nordosten des Landes, ist Hauptstadt der größten Provinz Punjab, hat elf Millionen Einwohner, über 90 Prozent sind Muslime, rund fünf Prozent Christen. Die Grenze zum Dauerfeind Indien ist nur 30 Kilometer entfernt, die Bergkette des Himalaya 250 Kilometer. In Lahore kann man Pakistan im Kleinen erleben, heißt es. Das gute, kräftig gewürzte Essen zum Beispiel, wobei der kulinarische Einfluss des großen Nachbarn Indien unübersehbar ist. Der chaotische Verkehr, Mopeds, auf die sich bis zu vier Leute quetschen, Tuktuks, große Limousinen und kunstvoll bemalte Lastwagen, die sich hupend ihren Weg bahnen. Die Badshahi-Moschee, die einst als größte Moschee der Welt gefeiert wurde, die Altstadt mit ihren 13 Stadttoren, unzähligen Geschäften, Marktständen und Teeverkäufern. Die angespannte Sicherheitslage, die seit 2015 auch in Lahore herrscht, als es dort die ersten religiös motivierten Anschläge gab, und nun dazu führt, dass Militärpolizei die Hotels bewacht. Und, genau, das Wasserproblem.
Hier, wo es im Sommer 40 Grad und heißer werden kann, haben die Einheimischen keine Schilder am Wasserhahn. Besser wäre es. Denn das, was aus den Leitungen herauskommt, ist gefährlich. Wer in Pakistan Wasser aus der öffentlichen Versorgung trinkt und es nicht vorher abkocht, kann sich Durchfall, aber auch Hepatitis, Typhus und Darmwürmer einfangen. Knapp zwei Drittel der Stadtbewohner halten sich nicht an diese Vorsichtsregel, bei der ländlichen Bevölkerung sind es sogar 82 Prozent. Die Folgen sind dramatisch: Rund 40 Prozent aller Krankheiten, die in dem Land auftreten, haben laut Schätzung einer Regierungsstelle ihre Ursache in verseuchtem Trinkwasser. Eine unabhängige Untersuchung ergab 2009, dass pro Jahr rund 250.000 Kleinkinder daran sterben. Inzwischen dürfte die Zahl noch höher liegen, da Pakistans Bevölkerung seither deutlich gewachsen ist, auf knapp 200 Millionen, und sich die Wasserqualität der öffentlichen Netze nicht verbessert hat. Eher im Gegenteil.
„Wähle den gesunden Durstlöscher“. Das druckt der Lebensmittelkonzern Nestlé auf seine Wasserplastikflaschen, die er in seinem Werk in der Industriestadt Sheikupura abfüllt, rund 40 Kilometer nordwestlich von Lahore. „Premium Trinkwasser“ nennt er sein Produkt. Und gibt den Rat: „Warte mit dem Trinken nicht, bis Du durstig bist, denn Durst ist bereits ein Zeichen, dass Du dehydriert bist.“ Kein Wunder, angesichts der desolaten Situation in der öffentlichen Trinkwasserversorgung, dass das Flaschenwasser in der Mittel- und Oberschicht ein Renner ist, mit dem der Schweizer Konzern viel Geld verdient.
Auf dem „Stammkontinent“ Europa ist der Schweizer Multi seit Jahrzehnten in dem Segment tätig, unter anderem mit den Marken Vittel, San Pellegrino und Contrex. Doch Nestlé hat Flaschenwasser inzwischen auch als globalen Wachstumsfaktor erkannt, den er praktisch überall aggressiv verfolgt, ob in den USA, Lateinamerika, im Nahen Osten, Afrika oder Asien. Nestlé ist weltweit die Nummer eins beim Flaschenwasser, der Konzern hat 95 Produktionsstandorte in 34 Ländern. Umsatz in dieser Sparte: rund 6,5 Milliarden Euro, etwa ein Zwölftel des Gesamtumsatzes.
Allerdings steht er auch unter Beobachtung einer kritischen Öffentlichkeit, mit der es der Konzern zu tun hat, seitdem er in den 1970er und 1980er Jahren mit dem Skandal um Babymilch in Entwicklungsländern in die Schlagzeilen geriet. Gerade beim Thema Wasser, dem Lebensmittel Nummer eins, gehen die Wogen hoch. „Nestlé ist ein Raubtier, ein Wasserjäger“, kritisiert zum Beispiel die Kanadierin Maude Barlow, frühere UN-Chefberaterin für Wasserfragen. Nicht überall konnte Nestlé seine Pläne durchsetzen. In den USA zum Beispiel wehrten sich Bürger in den Bundesstaaten Washington und Oregon zuletzt erfolgreich gegen die Absicht des Konzerns, dort Grundwasser für neue Abfüllanlagen zu fördern.
„Pure Life“ heißt das Produkt, das in Pakistan in Flaschen und Kanistern, in Größen zwischen 0,5 bis 20 Liter, verkauft wird – „reines Leben“. Nestlé kam 1989 nach Pakistan, vor 20 Jahren stieg der Konzern hier in das Geschäft mit dem sauberen Wasser ein. Vorher gab es in dem Land praktisch kein Flaschenwasser. Der Schritt in Pakistan hatte eine besondere Bedeutung für den Multi: Das war der Testmarkt für das „globale“ Wasser – ein Modell für andere Entwicklungsländer, schließlich ist die Wassersituation in vielen anderen armen Staaten kaum besser als in Pakistan. Inzwischen verkauft Nestlé die Marke in über 40 Ländern, darunter Südafrika, Indonesien und Brasilien.
Das Besondere: Pure Life schmeckt praktisch überall gleich. Das liegt an der Herstellung. Nestlé nutzt zwar das lokale Grundwasser, entfernt in einem ersten Schritt aber alle Mineral- und auch Schadstoffe – in Pakistan vor allem das giftige Arsen, das vielerorts das Wasser im Boden verunreinigt – und setzt danach eine definierte Mixtur an Mineralstoffen wieder zu, die einen „angenehmen Geschmack“ garantieren soll.
Das Geschäft brummt. Inzwischen füllt Nestlé pro Jahr rund 140 Millionen Flaschen und Großbehälter in dem Sheikupura-Werk ab, in dem der Konzern auch Milchprodukte herstellt, darunter Trockenmilch und Joghurt, zudem Obstsäfte. Rund 3000 Menschen arbeiten hier. Die beiden Brunnen, aus denen pro Tag knapp eine Million Liter Wasser für Pure Life aus 150 Metern Tiefe hochgepumpt werden, liegen mitten im Werk. Aufbereitung und Abfüllung sind automatisiert, die Anlagen könnten so auch in Europa oder Nordamerika stehen. Standort ist ein Industriegebiet. Nachbarn sind unter anderem ein Chemiewerk des ICI-Konzerns, ein Düngemittelhersteller und lokale Industriebetriebe. Nicht unbedingt die Umgebung, die man für ein Pure-Life-Werk erwartet, zumal die Nachbarn ihre Abgase und Abwässer ungeklärt in die Luft und Abwasserkanäle entlassen. Mit ein Grund, warum Nestlé so tief gebohrt hat, dort ist das Grundwasser noch sauber.
Die Jobs in dem Werk sind beliebt, die Bezahlung ist überdurchschnittlich. Trotzdem bekam Nestlé gewaltig Ärger, nämlich mit Bewohnern des Dorfes Bhatti Dilwan, das direkt hinter der Fabrik liegt, nachdem der Konzern mit der Wasserproduktion begonnen hatte. In dem Dorf, in dem zumeist einfache Bauern leben, fielen eine ganze Reihe Brunnen trocken. Der Wasserspiegel war gesunken, und die Leute machten Nestlé mit seinem großen Wasserdurst dafür verantwortlich. „Nestle stiehlt unser Grundwasser“, empörten sie sich, schrieben eine Petition an den Konzern. Sogar international machte der Protest Furore, der Schweizer Filmemacher Res Gehriger hatte ihn 2012 in seinem bekannten Anti-Nestlé-Streifen „Bottled Life“ (Leben in Flaschen) gezeigt. Das Unternehmen solle für Bhatti Dilwan auch einen Tiefbrunnen bohren oder wenigstens eine Leitung mit sauberem Wasser vom Werk bis ins Dorf bauen, forderten die Einwohner.
Nestlé Pakistan wies die Vorwürfe damals zurück. Behauptete, nicht für den Grundwasserschwund verantwortlich zu sein, allerdings ohne die geforderten Belege dafür herauszurücken. Und zeigte sich überhaupt unbeeindruckt von den Forderungen der Bauern. Inzwischen, nachdem der Konflikt sich durch Gehrigers Film zu einem PR-Gau für den ganzen Konzern entwickelt hatte, ist das anders. Vor Ort erläutert Nestlé-Umweltmanager Masood Zia die Untersuchungen zum Grundwasser, dank der geologisch günstigen Lage des Werks werde es immer wieder nachgefüllt. „Wir kontrollieren den Grundwasserstand täglich“, sagt er, „er sinkt nicht.“ Der Konflikt von vor ein paar Jahren sei ein „Missverständnis“ gewesen. Die oberflächennahen Brunnen seien damals zwar tatsächlich versiegt, doch die Ursache sei nicht Nestlé gewesen, sondern die übermäßige Entnahme für die Landwirtschaft. „Wir bei Nestlé haben insgesamt nur drei Brunnen. Aber in der Region gibt es Hunderte andere, die zur Bewässerung der Felder genutzt werden.“
Einiges Geld hat sich der Konzern die Verbesserung seines Verhältnisses zu den Bewohner der Dörfer hinter den Werkmauern kosten lassen. Die Bewohner von Bhatti Dilwan haben ihren Tiefbrunnen doch bekommen. Nestlé ließ ihn 2015 bauen und sorgt auch dafür, dass die aufwändige Aufbereitungsanlage, die Arsen ausfiltert und das Wasser keimfrei macht, gut läuft und laufend kontrolliert wird. Die Familien füllen sich an der Wasserstation, die an der Dorfschule liegt, ihre Kanister, bezahlen müssen sie nichts dafür. Böse Worte über Nestlé hört man hier nicht mehr. Im Gegenteil. „Die Krankheitsfälle sind, seit wir das hier haben, um 80 Prozent zurückgegangen“, berichtet der Dorfälteste, Muhammad Alyas. Gestorben sei wegen verseuchtem Wasser niemand mehr. Noch ein paar weitere Dörfer können sich an der Zapfstelle versorgen. Auch an den anderen Produktionsstandorten in Pakistan hat Nestle solche Anlagen gebaut, insgesamt profitierten 60.000 Menschen davon, heißt es.
Der Konzern rühmt sich, ein nachhaltiges Wassermanagement zu betreiben. Das Werk in Sheikupura und ein weiteres in Pakistan sind 2017 nach dem AWS-Standard zertifiziert worden – der nicht von Industrieberatern, sondern von der Umweltstiftung WWF entwickelt worden ist. Der Konzern fördert Bauern, die wassersparende Anbaumethoden nutzen, und sponsert eine Privat-Universität in Lahore, die unter anderem Konzepte für eine effizientere Wasserwirtschaft entwickelt.
Einer der bekanntesten Nestlé-Kritiker in Pakistan, der Umweltanwalt und -Aktivist Rafay Alam, erkennt das alles an. Er sagt sogar, beim Treffen in dem Hotel in Lahore mit den Wasserwarnschildern: „Das Nestlé-Werk in Sheikupura ist super, mit einem prima Management.“ Trotzdem sieht er die Veränderungen im Wassersektor, für die Nestlés Pure Life das Symbol ist, höchst kritisch – nämlich „die Umwandlung von Trinkwasser in eine Ware“. Als Kind habe er überallhin kommen können, erzählt er, „und du bekamst ein Glas Wasser umsonst, und zwar gutes Wasser.“ Heute gebe es das nicht mehr. „Man kann dem Leitungswasser nicht mehr trauen.“
Der Wassersektor im Land sei völlig desolat, kritisiert Alam. Die Trinkwasserleitungen und Abwasserkanäle würden nicht in Schuss gehalten, gingen immer öfter kaputt, wodurch die Verseuchungen entstünden. „Die Versorger kommen nicht mehr nach, weil sie unterfinanziert sind.“ So sei ein zweites Versorgungssystem mit „gesundem“ Wasser in Flaschen entstanden, das sich allerdings nur die Reichen leisten könnten und durch Plastikverpackung und Vertrieb per Lastwagen zusätzliche Umweltbelastungen erzeuge. Alam empört sich: Nestlé könne die Grundwasserressourcen kostenlos ausbeuten, weil das pakistanische Wasserrecht dafür keine Abgaben vorsieht. „Das ist doch absurd. Die kriegen das Wasser umsonst, und wir müssen es kaufen und dann noch Steuer darauf zahlen.“
Der Chef von Nestlé-Pakistan, Bruno Olierhoek, sieht diese Kritik gelassen. Er sagt, Nestlé halte sich an die Gesetze, und falls der pakistanische Staat irgendwann einmal eine Grundwasserabgabe einführen sollte, werde die natürlich gezahlt. „Allerdings müssen wir diese Kosten dann an den Konsumenten weitergeben“, sagt der Manager, der seit über 20 Jahren in dem Konzern ist und mehrere Stationen in Afrika und Asien hinter sich hat. Große Sorgen, dass ihm deswegen das Geschäft wegbrechen würde, muss er wohl kaum haben. Die Wasserkrise in Pakistan spitzt sich nämlich weiter zu. In Lahore sinkt der Grundwasserspiegel pro Jahr um fast einen Meter. Es wird Raubbau betrieben, um die Stadt zu versorgen. Vor 20 Jahren kam das Wasser aus zehn Metern Tiefe, inzwischen ist man mit dem Brunnenbohren bei fast 250 Metern angelangt. Aber irgendwann, warnen Experten, geht es so nicht mehr weiter.