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Masse und Passion

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Von: Patrick Guyton

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Alle, die in Oberammergau leben, haben das Recht, auf der Bühne mitzuspielen.
Alle, die in Oberammergau leben, haben das Recht, auf der Bühne mitzuspielen. © Imago

Von Frühjahr bis Herbst bestimmen die Passionsspiele das Leben in Oberammergau. Zu Besuch in dem beschaulichen Ort, in den nach zwölf ruhigen Jahren erstmals wieder Menschen aus aller Welt strömen.

Vormittags um 10.30 Uhr hält der Reisebus in Oberammergau vor dem Landhotel Böld und lässt mehrere Dutzend schnatternde Amerikanerinnen und Amerikaner aussteigen. Das Schloss Linderhof können sie auf ihrer To-Do-Liste abhaken, sie haben es gerade besichtigt – es ist einer der märchenhaft-bombastischen Prachtbauten von Ludwig II., dem mythenumwobenen Märchenkönig.

„Jetzt steht dann bald das Mittagessen an“, sagt Claudia Hans, Inhaberin des Hotels. Ihre Mannschaft ist gerüstet, das Frühstück längst abgeräumt, die Tische wieder eingedeckt. „Zwischen halb zwölf und halb eins essen die Gäste“, erzählt sie, „dann machen sie sich auf den Weg zum Passionstheater.“

Es sind wieder Passionsspiele in dem bayerischen Alpendorf, rund 20 Kilometer nördlich von Garmisch-Partenkirchen. Die ersten Passionsspiele seit zwölf und nicht wie üblich zehn Jahren – 2020 mussten die Aufführungen wegen Corona abgesagt werden, die Veranstalter um den bekannten Theatermann Christian Stückl verschoben gleich auf 2022. Covid 19 gibt es zwar weiterhin, doch sind in Deutschland alle Großveranstaltungen wieder uneingeschränkt erlaubt.

Zu den rund 100 Vorstellungen des Theaterstückes über Leben, Sterben und Auferstehung Jesu Christi sollen bis zum Herbst 450 000 Gäste in das hölzerne Festspielhaus kommen. In Oberammergau selbst leben – um das mal ins Verhältnis zu setzen – 5400 Menschen. Ein Drittel von ihnen steht bei diesem größten Laientheater der Welt selbst auf der Bühne – 1400 Erwachsene und 450 Kinder. Die meisten haben kleine, stumme Rollen, sie sind im „Volk“.

Es ist ein riesiges Spektakel, auf das man zumindest außerhalb Bayerns sehr staunend und oft ein wenig befremdet blickt. Sophie Schuster kommt ins Theater-Café. „Wir sind jetzt echt im flow“, sagt sie. Die 26-Jährige – lange dunkle Haare, Sonnenbrille, Jeans, Turnschuhe – hat eine große Rolle, sie spielt Maria Magdalena – die Begleiterin Jesu, die laut Bibel bei Kreuzigung und Auferstehung dabei war.

Nachher wird sie durch den Bühneneingang rein gehen, an diesem Tag steht sie auf der Bühne. Alle tragenden Rollen sind mit zwei Schauspielern und Schauspielerinnen besetzt, für eine Person allein wäre das Pensum nicht zu schaffen.

„Jetzt sind wieder Leute da“, sagt Sophie Schuster, „und es ist echt schön, dass wir spielen dürfen.“ Im richtigen Leben studiert sie Marketing – „aber dieses halbe Jahr nehme ich mit“, das Studium fährt sie auf ein Minimum herunter. Die vielen Menschen, der Trubel im Dorf – sie und auch alle anderen in Oberammergau scheint das nicht zu stören. Vielmehr genießen sie es. „Ich mag die Menschen und wenn es voll ist“, erzählt sie. „Und das Miteinander im Team ist toll und bereichernd.“

Mit der katholischen Kirche indes hat sie kaum etwas am Hut, was auch für nahezu alle Passions-Darstellerinnen und -Darsteller gilt. Im April 2020 hatte sie Gästen das vollkommen leere und ausgestorbene Theater gezeigt, sie stand ganz allein auf der Bühne. Wenn sie nun als Maria Magdalena ins Rampenlicht tritt, blicken 4500 Augenpaare auf sie. Nervös? „Ach, es geht“, sagt sie.

Gegen 12.30 Uhr machen sich tatsächlich, wie es Hotel-Frau Claudia Hans beschrieben hat, tausende Gäste auf den Weg Richtung Passionstheater. Beginn des ersten Teils ist um 14.30 Uhr. Viele sind in Gruppen da, werden geführt von Männern oder Frauen, die Tafeln in die Höhe halten, damit niemand verloren geht. Das Dorf scheint aus allen Nähten zu platzen. Man hört Amerikaner:innen und Brit:innen reden, sieht Gäste aus Asien und Afrika, trifft auf Besucher:innen aus Hessen und Hamburg.

Der Altersdurchschnitt ist hoch, zahlreiche Besucherinnen und Besucher kommen mit Stöcken, Rollatoren oder werden in Rollstühlen geschoben. Viele tragen Decken und Sitzkissen, die Holzstühle im Theater gelten als hart, und für das Oberammergauer Spiel braucht man Sitzfleisch. Die Passion ist ein Zeitfresser: Der erste Teil dauert bis 17 Uhr, dann sind drei Stunden Pause fürs Abendessen. Um 20 Uhr geht es weiter bis zur Auferstehung gegen 22.30 Uhr.

In der langen Schlange am Einlass steht auch Richard Adamson, ein großer, stämmiger Amerikaner aus Kalifornien, 65 Jahre alt. „Ich habe die Passionszeit gewählt, um Freunde in Deutschland zu besuchen“, erzählt er. Zwei Tage ist er hier – „dann geht es weiter zum Campen in den Schwarzwald“.

Die Buchhändlerin Monika Schwarz schaut vor ihrem Laden unweit des Theaters den Menschenmassen zu. „Für uns in Oberammergau ist das eine Ehre“, sagt sie, „wenn man sieht, welche Reisen die Leute auf sich nehmen.“ Eben erst hat sie im Laden Oberammergau-T-Shirts an eine Gruppe Australier:innen verkauft.

Ohne das Gelübde gäbe es das alles nicht im Dorf. 1633 wütete die Pest, 80 Menschen im Ort fielen ihr zum Opfer. Als die Seuche verschwand, lösten die Menschen ihr Versprechen ein: Alle zehn Jahre spielen sie zum Dank die Passion. Solche gibt es auch anderswo, Oberammergau ist aber weltweit die mit Abstand größte. Alle, die im Ort leben, haben das Recht mitzuspielen.

Intendant Stückl, ein langhaariger, rustikaler Bayer, hat diesmal einen wütenden, zweifelnden, auch verzweifelten Jesus auf die Bühne gestellt, der sich gegen Armut und Not auf der Welt stemmt. Und wie umgehen mit dem Ukraine-Krieg? Frederik Mayet, einer der Jesus-Darsteller, weiß da keine einfache Antwort. „Wir haben ganz viel darüber gesprochen“, sagt er. „Der Jesus müsste noch viel lauter sein und noch viel mehr gehört werden.“

Cengiz Görür, 22, spielt den Judas. Wie alle Darsteller trägt er einen Bart und hat längere Haare, denn schneiden und rasieren ist ihnen schon seit dem vergangenen Jahr verboten. Görür ist der erste Spieler mit türkischen Wurzeln in einer großen Rolle . „Anfangs war es für manche Oberammergauer schwierig, dass der Judas ein Muslim ist“, sagt er. „Aber jetzt ist das gar keine Frage mehr.“ Denn: „Ich bin auch Oberammergauer.“

Wenn gespielt wird, ist es leer im Dorf – und in der Pause ist es voll. Die Menschen ziehen durch die schmucken Sträßchen mit den alpenländischen Häusern, schauen sich in Geschäften Sitzdecken an, die verkauft werden, Pullover aus Schafswolle und jede Menge Schnitzereien – Jesus, Engelchen oder ein Schäferhund. Es gibt auch FC-Bayern-Fanartikel und einen Christkindlmarkt. Gespeist wird etwa im Restaurant „Zur Tini“ oder der „Grill-Lounge“.

Oberammergau ist eine eng getaktete Massenbespielung. Gebucht werden können Arrangements mit einer oder zwei Übernachtungen. Neben dem Theaterbesuch stehen dann das Ludwigs-Schloss, Kloster Ettal und vielleicht ein Kurztrip nach München auf dem Programm. Wer länger bleiben will, sollte ein passionsloses Jahr auswählen. Das Spiel wird von einem gemeindeeigenen Betrieb organisiert, der eher kein Defizit erwirtschaftet.

Viele Gäste sind ergriffen von der Monumentalaufführung. Auch die Schauspielerinnen und Schauspieler haben ihre Passagen, die ihnen am meisten abfordern. Cengiz Görür fällt sofort die „Verzweiflungsszene“ des Judas ein – „wo ich mich danach gleich erhängen muss“. Sein letzter Satz: „Komm du Schlange, umstricke mich, erwürge den Verräter.“

Sophie Schuster darf als Maria Magdalena länger auf der Bühne bleiben. Als „krassen Wechsel“ empfindet sie die Kreuzigung und gleich danach die Auferstehung. Erst sagt sie: „Meine Seele, sie lebt für dich.“ Und dann: „Halleluja, er ist erstanden.“ Nach dem Ende braucht sie ein, zwei Stunden, um Ruhe zu finden: „Wenn man frisch von der Auferstehung kommt, fällt man nicht gleich ins Bett.“

Bühne statt Uni: Sophie Schuster spielt Maria Magdalena. guyton
Bühne statt Uni: Sophie Schuster spielt Maria Magdalena. guyton © Patrick Guyton
Cengiz Görür ist der erste Judas mit türkischen Wurzeln. guyton
Cengiz Görür ist der erste Judas mit türkischen Wurzeln. guyton © Patrick Guyton
Hotelchefin Claudia Hans ist froh über die Spiele. Guyton
Hotelchefin Claudia Hans ist froh über die Spiele. Guyton © Patrick Guyton

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