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Protestaktionen der „Letzten Generation“: Ist es erlaubt, Klima-Aktivist:innen von der Straße zu ziehen?

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Von: Marcus Giebel

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Bürger zerren Klima-Aktivisten von der Straße
Selbst Hand angelegt: Zwei Bürger zerren Klima-Aktivist:innen der „Letzten Generation“ von der Straße auf den Gehweg. © IMAGO / aal.photo

Die „Letzte Generation“ bremste zuletzt häufig den Verkehr in Deutschland aus. Das sorgte oft für Unmut. Aber dürfen die Klima-Aktivist:innen von der Straße entfernt werden?

München – Überspitzt gesagt, gehören sie mancherorts wie Ampeln oder Zebrastreifen beinahe schon zum Straßenbild dazu. Seit einigen Monaten protestieren Klima-Aktivist:innen der „Letzten Generation“ öffentlichkeitswirksam für konsequenteres Handeln der Bundesregierung, indem sie sich auf den Asphalt setzen, oftmals ihre Hände auf selbigem festkleben und somit Staus und üble Laune bei den Verkehrsteilnehmern provozieren.

Für Berlin etwa hat die Bewegung für die kommenden Tage und Wochen weitreichende Aktionen angekündigt, will die Hauptstadt sogar lahmlegen, um den Forderungen für mehr Klimaschutz Nachdruck zu verleihen. Im Volksmund werden die Mitglieder der „Letzten Generation“ längst als „Klima-Kleber“ verunglimpft – obwohl sie dem Klima ja eben gerade keine kleben wollen. Mehr als der irreführende und deshalb fragwürdige Spitzname bewegt viele Bürger längst aber eine andere Frage: Ist es erlaubt, die Protestierenden eigenständig von der Straße zu zerren?

Protest der „Letzten Generation“: Autofahrer:innen sollten Polizei rufen und auf deren Eintreffen warten

Soll die Frage kurz und bündig abgearbeitet werden, müsste die Antwort lauten: unter Umständen. Denn an sich erfordert die Sachlage mit einem auf der Straße klebenden Aktivisten oder einer Aktivistin auf der einen und einem unter Zeitdruck stehenden Autofahrenden auf der anderen Seite eben schon eine tiefergehende Betrachtung.

Wie Strafrechtsprofessor Michael Kubiciel von der Universität Augsburg in der Tagesschau erklärt, kann sich jeder Bürger strafbar machen, der selbst Hand anlegt. Die sichere Lösung wäre daher, die Polizei zu verständigen und abzuwarten, bis die Ordnungshüter den Weg freiräumen – auch wenn das mitunter seine Zeit in Anspruch nimmt. Sollte sich jemand dagegen bemüßigt fühlen, einen oder mehrere Aktiviste:innen gegen deren Willen wegzuzerren oder sogar zu schlagen oder zu treten, könnte der Straftatbestand der Nötigung oder der Körperverletzung bis hin zu einer schweren Körperverletzung erfüllt sein.

Interessant: Zumindest in Berlin muss die Polizei Strafanzeigen gegen alle Personen schreiben, die Klima-Aktivist:innen eigenhändig von der Straße entfernen, wie die Bild berichtet. Dies geht dem Boulevardblatt zufolge aus einem internen Schreiben des Stabes „Justiz“ im Polizeipräsidium hervor. Ob die Anzeige am Ende fallengelassen oder weiterverfolgt wird, dürfe nur die Staatsanwaltschaft entscheiden.

Klima-Aktivisten sitzen vor Autos auf der Straße
Klima-Protest im Jahr 2023: Mitglieder der „Letzten Generation“ sitzen auf einer Straße und blockieren den Verkehr. © IMAGO / aal.photo

Dürfen Autofahrer:innen Klima-Aktivist:innen von der Straße zerren? Frage der Umstände stellt sich

Denn – wie fast immer im Leben – gibt es Ausnahmen. Schließlich kann auch ein Rechtfertigungsgrund vorliegen. Als Beispiel nennen Fachleute wie Kubiciel oder der vom spendenfinanzierten Medium Correctiv zitierte Medienrechtsanwalt Christian Solmecke Notwehr. Diese wird in §32 Strafgesetzbuch behandelt, wo es heißt: „Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig.“ Weiter wird Notwehr definiert als „Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden“.

Doch es ist eben keineswegs jeder Klima-Protest auf der Straße direkt als rechtswidriger Angriff zu werten. Zwar wurden bereits Klima-Aktivist:innen wegen Nötigung der Autofahrer:innen verurteilt, doch Kubiciel wird von der Tagesschau wie folgt zitiert: „Nicht in wirklich jedem Fall muss ein solcher Klima-Protest auch zwingend eine rechtswidrige Nötigung sein.“

Proteste der „Letzten Generation“: Können sich Aktivist:innen auf Versammlungsfreiheit berufen?

Die Protestler könnten sich seiner Meinung nach auf das Grundrecht der Versammlungsfreiheit berufen. Hierzu verweist der auf das Verkehrsrecht spezialisierte Rechtsanwalt Michael Winter bei Focus Online auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2011. Demzufolge können Sitzblockaden als „friedliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Kundgebung“ angesehen werden. Folglich könnte der Protest unter Artikel 8 Grundgesetz fallen, der allen Deutschen das Recht einräumt, „sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln“.

Dazu passt: Einige Amtsgerichte sprachen auch schon angeklagte Aktivist:innen frei. Noch offen ist, wie höhere Instanzen in den Fällen urteilen.

Video: „Letzte Generation“ will Berlin ab Mittwoch lahmlegen

„Letzte Generation“ auf der Straße: Worauf gilt es für Frust schiebende Autofahrer:innen zu achten?

Aber zurück zu einer möglichen Verurteilung eines Fahrers oder einer Fahrerin, der selbst aktiv wird. Solmecke nennt bei Correctiv anschauliche Beispiele, in denen den Verkehrsteilnehmern wohl nichts blühen wird: „Ein Rettungswagen kommt nicht zu einem dringend notwendigen Einsatz – hier dürfte Nothilfe zugunsten der verletzten Person im Einzelfall zulässig sein. Auch wenn man selbst zum Beispiel mit Geburtswehen auf dem Weg ins Krankenhaus ist, dürfte es im Einzelfall unzumutbar sein, auf das Eintreffen der Polizei zu warten.“ Als diskutabel sieht er die Situation bei sehr wichtigen, unaufschiebbaren Terminen wie einem Flugzeugstart an.

Interessanterweise gibt es auch Fachleute, die Autofahrenden grundsätzlich das Recht zusprechen würden, die Klima-Aktivist:innen aus dem Weg zu tragen. So twitterte der aus dem TV bekannte Rechtsanwalt Ralf Höcker bereits im November: „Autofahrer dürfen Klima-Kleber selbst von der Straße zerren. Sie müssen nicht auf die Polizei warten. Verletzungen, z.B. an den Handflächen der Klima-Aktivisten, sind hinzunehmen und ändern nichts am Notwehrrecht des Autofahrers.“

Ähnlich sieht es der Strafrechtler Eric Hilgendorf, Professor an der Universität Würzburg, der laut BR diesen Vergleich bemüht: „Es gilt hier grundsätzlich dasselbe, wie in dem Fall, in dem eine Frau nachts am Weitergehen gehindert wird: Sie darf Pfefferspray einsetzen, auch wenn dadurch die Augen des Angreifers verletzt werden könnten.“ Viele Kollegen von Höcker und Hilgendorf warnen jedoch davor, sich der Sache so sicher zu sein. So bezeichnet der Münchner Strafrechtsprofessor Armin Engländer im selben Artikel Hilgendorfs Notwehr-Argumentation als „steile These“.

Bei Correctiv etwa nennt Stefan Rehm, Vizepräsident des Deutschen Strafverteidigerverbands, als Voraussetzung, um sich auf das Notwehrrecht berufen zu können, dass die Straßenblockade juristisch als „verwerflich“ eingeordnet werden muss. Und das ist keinesfalls sicher.

Autofahrer:innen greifen gegen Klima-Protest auf Straße durch: Wann kann von Notwehr gesprochen werden?

Kubiciel gibt laut Tagesschau auch zu bedenken, dass die Blockade noch aktuell sein muss, um sich auf Notwehr berufen zu können: „Wer gegen einen bereits von der Straße entfernten Aktivisten nochmal nachtritt oder nachschlägt, kann sich in diesem Moment sicher nicht mehr auf Notwehr berufen.“ Bekannt wurde etwa der Fall eines mutmaßlichen Lkw-Fahrers, der einen an den Straßenrand geschleiften Protestler noch in den Bauch trat.

Notwehr sei aber auch dann nicht mehr gegeben, wenn die Straße schon wieder befahrbar sei – möglicherweise, weil einige Aktivist:innen bereits entfernt wurden. Grundsätzlich dürfe auch kein milderes Mittel zur Verfügung stehen, um die Blockade zu beseitigen. Ist also schon Polizei vor Ort oder in unmittelbarer Nähe, sollten auch wutschnaubende Fahrer:innen besser Hände und Füße stillhalten.

Grundsätzlich muss laut Solmecke darauf geachtet werden, die Protestierenden so wenig wie möglich zu verletzen. Mit der groben Kelle sollte niemand zu Werke gehen. „Wer meint, er dürfe im Rahmen des Notwehrrechts auch unnötig grob und verletzend vorgehen, um den ‚Klima-Klebern‘ einen Denkzettel zu verpassen, der irrt – und macht sich mit dieser Selbstjustiz selbst strafbar“, warnt der Anwalt.

Das Recht auf Notwehr kann auch eingeschränkt werden, beispielsweise wenn ein Angriff bewusst provoziert wird, um Notwehr üben zu können, wie Kubiciel ausführt. Wichtig sei zudem, dass immer auch ein Notwehrwille erkennbar sein muss, um sich auf den erwähnten Paragrafen berufen zu können. Wer aus Wut auf eine andere Person oder aus politischen Gründen zu Gewalt greift, fällt hier also ebenfalls raus. (mg)

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