Kyle Rittenhouse: 18-Jähriger erschießt zwei Menschen und wird freigesprochen – Das ist der Grund

Kyle Rittenhouse erschießt während einer Black Live Matters-Demo zwei Menschen und wird freigesprochen. Für die Jury und das Gericht ist der Fall eindeutig.
Kenosha – Kyle Rittenhouse ist ein freier Mann. Der 18-Jährige, der im Vorjahr zwei Menschen erschossen hatte, wurde von der 12-köpfigen Jury in allen Anklagepunkten freigesprochen. Mehr als 30 Zeug:innen wurden in dem weltweit mit großem Interesse verfolgten Fall gehört, 25 Stunden nahmen sich die Geschworenen anschließend Zeit, um zu ihrem Urteil zu kommen. Zu einem Urteil, das Fragen aufwirft.
Wie kann es sein, dass ein Mann, der mit 17 Jahren ein Gewehr mit zu einer Black Lives-Matter Demo nimmt und dort Menschen tötet, freigesprochen wird? Und wie kann es sein, dass ihm Notwehr eingeräumt wird, obwohl seine Bewaffnung erst zu den verhängnisvollen Geschehnissen des 25. August 2020 geführt hat?
Das US-Medienunternehmen CNN beruft sich zur Beantwortung dieser Frage auf Rechtsexperten, die den Rittenhouse-Fall ausgiebig analysiert haben. Als wichtigsten Punkt nennen die Juristen die Aussage des Angeklagten. Der hatte vor Gericht zu Protokoll gegeben, dass er in Notwehr gehandelt habe. Joseph Rosenbaum habe er erschossen, weil dieser ihn zuvor bedroht, verfolgt und versucht habe, ihm das Gewehr abzunehmen. Im Verlauf seiner Aussage brach der 18-Jährige in Tränen aus.
Kyle Rittenhouse vor Gericht: Verteidigung übte mit „Schattenjurys“
„Wenn mir Herr Rosenbaum meine Schusswaffe weggenommen hätte, hätte er sie benutzt, mich damit getötet und wahrscheinlich noch mehr Menschen erschossen“, sagte Rittenhouse. Die anderen Männer, auf die er in Kenosha schoss, seien Teil eines „Mobs“ gewesen. Darunter auch Anthony Huber, der zweite Mann, der von Kyle Rittenhouse getötet wurde.
Rittenhouse Aussage vor Gericht folgte dabei einer vorbereiteten Strategie seiner Verteidigung. Sein Anwalt Mark Richards verriet Reportern im Anschluss an den Freispruch, dass er im Vorfeld des Prozesses zwei „Schattenjurys“ zusammengestellt und den Prozess durchgespielt hatte. Vor einer dieser Jurys ließ er Rittenhouse aussagen, vor der anderen nicht. Das Ergebnis sei im ersten Fall deutlich besser gewesen, also habe man beschlossen, den Angeklagten auch im realen Prozess aussagen und nicht von seinem Schweigerecht Gebrauch machen zu lassen.
CNN-Rechtsanalyst Joey Jackson sieht darin einen entscheidenden Baustein für den letztendlich erfolgten Freispruch: „Das hat ihn menschlich gemacht. Wichtiger noch: So konnte er selbst seinen Einsatz von Gewalt erklären.“ So sieht es auch der Jurist Elie Honig. Der ehemalige Bundesanwalt betonte gegenüber CNN, dass Rittenhouse den Geschworenen mit seiner Aussage die Möglichkeit gegeben habe, dessen Motive besser nachzuvollziehen. Während die Staatsanwaltschaft nicht genug habe hervorbringen können, um Rittenhouse entscheidend zu belasten, hätten dessen Worte die Jury davon überzeugt, dass er stets erst dann geschossen habe, als er selbst angegriffen worden sei.
Prozess um Kyle Rittenhouse: Opfer oder Provokateur?
Laut dem Bürgerrechtsanwalt Charles F. Coleman Jr. bestand der Prozess aus zwei konkurrierenden Erzählungen: Eine, wonach Rittenhouse ein Opfer gewesen sei, das angegriffen wurde, und eine von einem Bürgerwehr-Mitglied, welches die Gewalt erst provoziert habe: „Die Jury ging mit der Erzählung von Kyle Rittenhouse als Opfer, da sie seine Selbstverteidigungsansprüche deutlich höher werteten als die von der Staatsanwaltschaft ins Feld geführten Provokationen.“
Die geltende Rechtslage in Wisconsin erlaubt die Anwendung tödlicher Gewalt nur dann, wenn diese „notwendig ist, um einen bevorstehenden Tod oder eine schwere Körperverletzung zu verhindern“. Da Rittenhouses Verteidiger die Notwendigkeit einer Selbstverteidigung anführten, lag es an der Staatsanwaltschaft, zweifelsfrei zu widerlegen, dass Rittenhouse in Notwehr handelte.
Gegenüber CNN sagte Strafverteidigerin Sara Azari, dass die Staatsanwaltschaft nicht habe nachweisen können, dass die tödlichen Schüsse „auf jeden dieser Männer unvernünftig“ gewesen seien. Nach Ansicht des vorliegenden Videomaterials habe die Jury keine andere Wahl gehabt, als den Argumenten der Verteidigung zu folgen.
Freispruch von Kyle Rittenhouse: Zeugenaussagen waren ausschlaggebend
Für Strafverteidiger Bob Bianchi waren auch die Zeugenaussagen ursächlich für den Ausgang des Prozesses. Diese hätten viele Behauptungen der Staatsanwaltschaft infrage gezogen und selbst die von der Anklage selbst aufgerufenen Zeugen hätte zum Teil das Notwehr-Narrativ der Verteidigung untermauert.
Selbst Gaige Grosskreutz, der dritte Mann, der von Kyle Rittenhouse angeschossen wurde, hatte ausgesagt, dass er seine Waffe zuerst auf Rittenhouse gerichtet habe. Später fügte er zwar noch hinzu, dass dies nicht seine Absicht gewesen sei, dennoch blieb bei der Jury wohl vor allem hängen, dass auch diese Aussage die Argumente der Verteidigung stützte. Für Jurist Bianchi ist die Sache klar: „Kein echter Prozessanwalt kann der Meinung sein, dass es sich hier nicht um einen erstaunlich deutlichen Fall der Selbstverteidigung gehandelt hat.“
Die Staatsanwaltschaft hatte ihrerseits versucht, Kyle Rittenhouse als einen „aktiven Schützen“ darzustellen. In seinem Schlussplädoyer sagte der stellvertretende Bezirksstaatsanwalt von Kenosha County, Thomas Binger, dass Rittenhouse sich so verhalten habe, „wie es keine vernünftige Person tun“ würde. Er habe die Ereignisse provoziert und seine Waffe rücksichtslos abgefeuert.
Kyle Rittenhouse: Jury war angewiesen, den Fall aus den Augen des Angeklagten zu betrachten
Dieser Version widerspricht Jurist Honig: „Der Versuch, Rittenhouse als aktiven Schützen darzustellen, hat nicht verfangen. Die Verteidigung konnte mithilfe der Videoaufnahmen nachweisen, dass Rittenhouse durch die Straßen gezogen sei, ohne seine Waffe abzufeuern. Er hat nicht wahllos geschossen, sondern nur auf Leute, die ihn zuvor angegriffen hatte.“
Auch das Argument, wonach Rittenhouse schon durch das Führen der AR 15-Schusswaffe provoziert habe, verfing nicht. Dies sei auf die Waffenkultur im Staat Wisconsin zurückzuführen, sagte Jurist Bianchi gegenüber CNN: „Sie dürfen nicht vergessen, dass es sich hier um eine Gerichtsbarkeit handelt, in der das Mitführen von Waffen nicht ungewöhnlich ist.“
CNN-Rechtsexpertin Laura Coates hält einen anderen Punkt für entscheidend. Der Jury nämlich sei aufgetragen worden, den Fall aus den Augen des Angeklagten zu sehen und nicht etwa aus jenen einer sensibilisierten Öffentlichkeit. Dabei sei es um die Definition „angemessen“ gegangen: „Es ging darum, was Rittenhouse im Augenblick der Tathandlung als gerechtfertigt erschienen war und darum, ob er geglaubt haben kann, dass er tatsächlich in einer Notlage war.“ (Mirko Schmid)
In einer vorherigen Version wurde an dieser Stelle von „illegaler“ Bewaffnung geschrieben. Tatsächlich hat Richter Bruce Schroeder diesen Anklagepunkt fallen lassen. Die Passage wurde dementsprechend überarbeitet.