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„Könnte etwas kälter sein“

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Von: Stefan Scholl

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Orthodoxe Priester verweisen darauf, das Taufeiswasser wasche den Badenden keineswegs von Sünden rein.
Orthodoxe Priester verweisen darauf, das Taufeiswasser wasche den Badenden keineswegs von Sünden rein. © Pavel Golovkin/dpa

Zur Taufe Christi klettern in Russland Tausende in Eislöcher. Das Problem in diesem Jahr: kein Eis. Kalt ist es dennoch – und die Laune an den Badestellen gut. FR-Korrespondent Stefan Scholl im Selbstversuch.

Im gut geheizten Männerzelt stehen in drei Reihen grün gestrichene Holzbänke, ein Dutzend Leute sitzen darauf, um sich umzuziehen. Ein halbnackter Hüne kommt herein, wassertriefend und mit leuchtenden Augen. „Wie ist das Wasser?“ „Wunderbar“, er lächelt. „Könnte nur noch etwas kälter sein.“

Eisbaden am Abend des 18. und am 19. Januar ist in Russland ein Volksritual, um nicht zu sagen ein Volksfest. Zum orthodoxen Tauftag Christi werden auf den winterlichen Gewässern des ganzen Landes Löcher ins Eis geschlagen, in diesem Jahr etwa 4000, oft sogar in Form eines Kreuzes. In Moskau sind es 46, 2019 gingen zum Tauffest 270 000 Moskauer ins Eiswasser, in diesem Jahr wurden wieder mindestens 200 000 erwartet.

Aber es gibt ein Problem: Eigentlich drücken die sogenannten „Tauffröste“ Mitte Januar auch in der russischen Hauptstadt die Temperaturen auf zweistellige Minusgrade. In diesem Januar aber herrscht eine anormale Wärme. Mangels festen Eises gibt es daher auch keine Eislöcher. Auch nicht auf dem Meschtscherski-Teich im Moskauer Südwesten.

Doch die Männer im Zelt lassen sich ihre gute Laune nicht verderben. Man macht Scherze, lacht, die Stimmung ist wie im Vorraum eines russischen Schwitzbads. Und ein bisschen wie in einer Warteschlange vorm Bungeespringen. Das Bad im eisig kalten Wasser ist körperlicher Härtetest, Mutprobe und Riesenspaß zugleich. Auch der Seele tut es gut. „Es ist wie Fasten, eine Reinigung“, erklärt mir der lächelnde Hüne. Auf seiner breiten, nassen Brust klebt ein großes Silberkreuz, daneben ist seine Blutgruppe eintätowiert.

Die Eisbadestellen zu Christi Taufe werden auch „Jordane“ genannt, nach dem Fluss, in dem sich Jesus einst selbst von Johannes taufen ließ. Das Wasser des Jordans fließt am Tag des Festes übrigens flussaufwärts, wie orthodoxe Gläubige versichern. Und die „Tauffröste“ verwandeln das Wasser offenbar auch in Russland. „Seine Moleküle ordnen sich zu einer Struktur, die harmonischer und gesünder ist“, hat mir Igor erklärt, ein Installateur, der alljährlich im Taufeiswasser badet.

Beweisfoto: Stefan Scholl steigt aus der Wanne.
Beweisfoto: Stefan Scholl steigt aus der Wanne. © Olga Davydova

Draußen stehen drei riesige Wannen am Teichufer, mit Holz verschalt und mit Treppen aus hell leuchtenden Brettern versehen, daneben halten sich für alle Fälle Männer vom Katastrophenschutz bereit. Mehrere Strahler verbreiten ein grelles Rampenlicht, die meisten Badenden sind Männer. Vor mir steigt einer ins Wasser, taucht dreimal unter und schlägt beim Auftauchen jedes Mal hastig ein Kreuz.

Aber die meisten verzichten auf religiöse Gesten, ein junger, nasser Mann in Badehose posiert zum Selfie vor seinem Handy, auch bei ihm scheint das Adrenalin alles Kältegefühl verdrängt zu haben. Das Holzgeländer ist mit einer dünnen Eisschicht überzogen, die Temperatur ist zum Fest doch noch unter null gerutscht.

Auch Wladimir Putin geht an diesem Tag ins Eiswasser, mal taucht der Präsident unter Ausschluss der Öffentlichkeit unter, mal vor laufenden Kameras in nordrussischen Seen, dreimal, wie die Regel es verlangt, und mit zugehaltener Nase. Allerdings verweisen orthodoxe Priester darauf, das Taufeiswasser wasche den Badenden keineswegs von Sünden rein, heilbringender sei ein Kirchgang, ein aufrichtiges Gebet oder tätige Reue. „Rufen Sie Ihre Frau an oder Ihre Schwiegermutter“, rät der Geistliche Dimitri Perschin gegenüber der Zeitung „Komsomolskaja Prawda“. „Das ist viel wichtiger und viel schwerer, als in ein Eisloch zu steigen.“

Aber wie die Taufe selbst ist auch das Eisbaden ein klares, sehr verständliches Ritual, gerade in einem traditionellen Winterland. Das Wasser scheint schwarz vor Kälte zu sein, da hineinzusteigen hat etwas von Selbstaufgabe. Die Kälte krallt und bohrt sich tausendfach in Beine, Rumpf und Arme, schlägt eisig über meinem Kopf zusammen, lässt alle Nerven aufglühen. Beim Auftauchen schnappe ich nach Luft. Aber als ich heraussteige, kommt mir die Luft trockener und wärmer vor, in mir lodert es angenehm, als wären alle Körperzellen lebendig geworden. „Das war der 199ste“, zählt ein Katastrophenschützer.

Das Zelt ist jetzt voller Männer, voller Stimmen und Lachen. Und den nassen Gestalten, die hereinkommen, schlägt immer wieder dieselbe Frage entgegen: „Na, wie ist das Wasser?“ Die Antworten „kalt“ oder „gut“ scheinen das Gleiche zu bedeuten: beste Laune. Nur ein junger, glatt rasierter Athlet seufzt. „Bei einem halben Grad hat man das Gefühl, dass es kälter ist als bei 20 Grad Frost.“ Ja, pflichtet jemand bei, es mache mehr Spaß, wenn man echtes Eis unter den Füßen habe. Bleibt zu hoffen, dass die „Tauffröste“ nach Moskau zurückkehren.

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