Koch David Höner: „Ich sage nicht: Frauen gehören an den Herd!“

David Höner will vielmehr, dass alle Menschen wieder selbst kochen. Ein Gespräch mit dem Schweizer Koch über die Bedeutung von Essen und Trinken, die Macht der Lebensmittelindustrie und warum wir die Fähigkeit, Gutes von Schlechtem zu unterscheiden, kultivieren sollten.
Kochen ist ein Menschenrecht, sagt David Höner. Und zugleich Menschenpflicht. Und weil er findet, dass zu viele dieser Pflicht nicht nachkommen – sei es aus Bequemlichkeit oder weil sie es nie gelernt haben –, hat er ein kulinarisches Manifest aufgesetzt. Zusammen mit acht „Meisterinnen und Meistern ihres Faches“ trägt der Schweizer Koch darin die ideellen Zutaten zusammen für eine gesunde, sinnliche Ernährung, eine lebendige Tischkultur und eine wertschätzende Haltung gegenüber der Kunst des Kochens.
Herr Höner, ist es so schlimm bestellt um das Kochen, dass es ein kulinarisches Manifest braucht?
Der Verweis auf Marx und Engels ist natürlich kein Zufall. Die beiden haben damals auf einen dramatischen sozialen Missstand hingewiesen. Und auch wenn ich mich mit diesen beiden nicht messen kann, glaube ich doch, dass die Sache an sich eine unbedingte Aufmerksamkeit braucht.
Mit „die Sache“ meinen Sie: Wie wir uns ernähren?
Es geht nicht nur um die Frage, was esse ich, was trinke ich? Es geht auch um das, was damit verbunden ist: Wo es herkommt, wie es produziert wird. Und vor allem: was es mit uns macht! Gerade beim Essen und Trinken wird das sträflich vernachlässigt. Deswegen tut ein Manifest not, weil es – selbst wenn es mit dem leicht erhobenen Zeigefinger daherkommt – auch Denkanstöße gibt.
Der Anteil biologisch erzeugter Lebensmittel in den Supermarktregalen steigt stetig; wir kaufen regional und saisonal, essen vegetarisch oder vegan. Zeugt das nicht von einem ausgeprägten Bewusstsein?
Sie haben recht; es gibt immer mehr Menschen, die sagen: „Das kann ja wohl nicht sein! Die Böden werden ausgelaugt, das Trinkwasser ist belastet, und genau wie die Esskultur verkümmert auch unser soziales Miteinander!“ Was mir aber fehlt – auch bei einigen meiner Kochkolleginnen und -kollegen –, das ist der Bezug zum Gesamtbild. Natürlich ist die Biotomate eine schmackhaftere Tomate. Und natürlich sollte man kein mit Soja gemästetes Rind essen. Der Punkt ist aber, dass es nicht nur um eine geschmackliche Verbesserung geht, sondern auch um das Bewusstsein für die tiefgreifende Wirkung, die anderes Handeln haben kann! Das Rindfleisch, das wir essen – ob nun regional oder importiert –, ist nunmal von Tieren, die mit Soja gefüttert wurden. Und dieses Soja kommt nicht aus Deutschland, sondern aus Brasilien oder aus Entwicklungsländern, wo gentechnisch veränderte Sorten auf riesigen Feldern angebaut werden und alles andere verdrängen. Einige wissen das, aber wer es hier zum ersten Mal liest, befasst sich dann vielleicht näher damit.
Sie erzählen in Ihrem Buch von Ihrer Kindheit im Zürcher Oberland, von den Gaben der Natur und wie viel Arbeit es den Menschen kostet, sie für sich zu nutzen. Sie beklagen aber auch, dass wir uns von dem Wissen entfernen, dass das Gute so nahe liegt.
Das ist auf jeden Fall eine zentrale Aussage des Buches: dass sich viele von diesem Wissen, dass eigentlich alles da ist, was wir brauchen, zunehmend entfremden. Damit meine ich jetzt nicht die gut gebildete Mittelschicht, sondern die Menschen, die sich das lange haltbare Weißbrot aus genverändertem kanadischen Weizen kaufen, weil sie sich ein gutes Brot nicht leisten können, und dann eine Glutenallergie bekommen und nicht wissen, woher. Dass es heute eine Slowfood-Bewegung braucht, um ein Bewusstsein zu kultivieren, das früher jede Hausfrau hatte, ist für mich auch ein Zeichen dieser Entfremdung. Darüber müssen wir reden!
Haben Sie deshalb Kolleginnen und Kollegen wie Eckart Witzigmann, Franz Keller oder Romana Echensperger gebeten, etwas zu Ihrem Manifest beizutragen? Damit der Dialog beginnt?
Das ist auf jeden Fall ein Weg, auf die wichtigen Aspekte einzugehen. Wenn ein Jahrhundertkoch wie Eckart Witzigmann sagt, „früher haben Köche noch ganze Tiere zerlegt und sind gereist, um Erfahrung zu sammeln, und all das fehlt heute in der Ausbildung“, dann hat das ein anderes Gewicht, als wenn ich mich darüber beklagen würde. Wenn Birgit Reitbauer sagt, beim Essen und Trinken sind alle Menschen gleich, und deshalb sollten es auch alle gleich gut haben dabei, dann ist das eine tolle Unterstützung. Auch von Doris Dörrie, die so ein wunderbares Bild zeichnet von ihrer Verbindung zum Kochen und was das für eine schöne Tätigkeit ist. Darum geht es: dass diese Tätigkeit aufgewertet wird.
Aber sind all die Essensmagazine, Kochsendungen und millionenfach geklickten Videos kein Zeichen dafür, dass sich die Menschen fürs Kochen begeistern?
Einerseits ja, aber ich habe vor kurzem auch die andere Seite kennengelernt. Ich war bei einem kurdischen Freund, der schon lange in der Schweiz lebt, und da waren auch ein paar junge Leute, mit denen ich ins Gespräch kam. Und die sagten: „Junge Frauen kochen nicht mehr.“ Weil es eine Tätigkeit ist, die sie eigentlich verachten. Sie sagen: „Da hat man uns Frauen immer geplagt damit, das wollen wir nicht mehr.“ Auch wenn ich mir damit jetzt vielleicht Feinde mache, so ist für mich hier doch die Frage: Warum haben die Frauen dieses Heft aus der Hand gegeben?
In der Tat ein schmaler Grat …
Ich sage nicht, Frauen gehören wieder an den Herd! Aber das Problem ist: Sie haben diese Verantwortung aus der Hand gegeben, und keiner will sie übernehmen.
Wie kann man diesen Frauen, die sagen, sie wollen nicht enden wie ihre Mütter, deutlich machen, dass Kochen mehr ist als nur Essen zuzubereiten? Und schon gar kein Zeichen ihrer Unterdrückung.
Da muss ganz viel passieren. Es geht nicht nur um die Frau am Herd, sondern darum, dass Leben und Arbeiten in der Gastronomie im Allgemeinen keinen hohen sozialen Stellenwert haben. Natürlich bewundern alle die Köche, die im Fernsehen auftreten, aber sonst ist ein Koch jemand, der seine 60 oder mehr Stunden in der Küche abreißt und dafür schlecht bezahlt wird. Er kann kaum erwirtschaften, was er zum Leben braucht. Die Wertschätzung für diese Tätigkeit muss auf eine andere Stufe gehoben werden.
Ich frage noch mal: Wie kann es sein, dass sich so viele Menschen mit gutem Essen befassen und Sie dennoch glauben, Kochen ist keine angesehene Tätigkeit?
Das ist genau der Punkt: Es ist ein Genussfaktor, aber es hat keine gesellschaftliche Relevanz! Natürlich boomt es jetzt auch wegen Corona; die Leute sind viel zu Hause und haben Zeit, Brot zu backen oder aufwendige Rezepte zu kochen. Aber Essen und Trinken hat nach wie vor nicht die Bedeutung, die es haben müsste. Es ist seit vielen Jahren bekannt, dass unser Trinkwasser in vielen Regionen in einem Maße mit Pestiziden und Insektiziden belastet ist, dass es über die Gefährlichkeitsgrenze gestiegen ist. In Deutschland entstehen dann Bürgerinitiativen, die darum kämpfen, dass es besser wird, während die Vertreter der Bauernverbände so tun, als würden sie lebendig auf einen Bratspieß gesteckt, weil sie lieber so weiterarbeiten würden wie bisher. Und selbst wenn das Bewusstsein gewachsen ist, dass Glyphosat verdammt noch mal ein Schädlingsbekämpfungsmittel ist, welches uns Menschen schadet, dann sitzen in den Runden, die über die Lebensmittelsicherheit beraten, immer auch welche, die Lobbyarbeit für die großen Unternehmen machen. Zucker zum Beispiel ist ein Lebensmittel, für das es heute – wenn man es neu approbieren müsste – sicher keine Zulassung mehr gäbe.
Weil er – nüchtern betrachtet – so ungesund ist?
Aber hallo! Eigentlich müsste man Zucker verbieten. Aber es gibt nun mal Unternehmen wie Coca-Cola, das rund zehn Prozent der weltweiten Zuckerproduktion allein für sich beansprucht, die das mit ihrer Wirtschaftsmacht verhindern. Da ist Widerstand doch eigentlich Pflicht! Zumal wir heute in einer Zeit leben, in der das gar nicht so abwegig wäre.
Warum das?
Wir wissen heute viel mehr. Ich habe meine Kochausbildung in den Siebzigerjahren gemacht, der Bouillonwürfel war der allgegenwärtige Suppenretter, ohne dass wir eine Ahnung hatten, dass das nur ein Geschmacksverstärker ist. Dabei waren wir Köche, wir hätten das wissen müssen. Und dieser Zustand hat sich eher verschlechtert.
Das schreiben Sie auch über die Tischsitten – wobei es Ihnen da nicht darum geht, wie man Messer und Gabel richtig hält.
Nein, auch da geht es mir ums Grundsätzliche: Wir sollten den Tisch, an den wir uns setzen, und die Gaben, die wir empfangen, respektieren. Und das nicht bloß, weil es jemand anderes vielleicht nicht so gut hat wie wir. Wir sollten auch wieder unserer Nase vertrauen, unserem Geschmackssinn, unseren Augen. Wir sollten unsere ureigene Fähigkeit, das Gute vom Schlechten zu unterscheiden, wieder kultivieren. Und dann kommt der Rest von allein. Dann wissen wir, dass der Joghurt, der angeblich vorgestern abgelaufen ist, auch in einem Monat noch okay ist. Wir sollten uns nicht mehr von aufgedruckten Daten vorschreiben lassen, was gut ist und was nicht. Und wir sollten wieder mehr als Familie kochen! Was schätzen Sie: Wie viele Familien in Westeuropa kochen gemeinsam?
Ich hoffe mal, mehr als die Hälfte?
Ich vermute, es sind nur 20 Prozent. Aber selbst wenn Sie recht haben, dann machen es immer noch 50 Prozent nicht. Weil diese Aufgabe als lästig empfunden wird. Wenn wir es nicht mehr riechen, wie ein Essen zubereitet wird, und wir es nicht mehr schmecken, dann richten wir uns zugrunde. Die vielen Allergien suchen uns auch heim, weil wir das Kochen als evolutionäre Eigenschaft des Menschen aus der Hand gegeben haben. Wir wissen, dass der Burger aus dem Fast-Food-Restaurant Schrott ist, aber er wird uns so schön präsentiert, dass wir uns so ein Teil immer wieder reinziehen. Das Bewusstsein, dass wir das selbst viel besser machen können, das kann nur wachsen, wenn wir es wieder selber machen. Und dann wird uns auch klar, dass vegane Ernährung auch nicht das Gelbe vom Ei ist.
Was spricht gegen vegane Ernährung?
In der veganen Ernährung werden Sachen gehypt, zum Beispiel die Avocado. Wer ein bisschen über den Tellerrand hinausschaut, weiß, dass die Avocado und die Anbaumethoden für diese Frucht in Mexiko und anderen Ländern einen ungeheuren Schaden anrichten. Weil sie viel zu viel Wasser braucht, weil sie den Boden auslaugt. Die Avocado aus Mexiko, die auf dem veganen Teller liegt, ist also keine echte Weiterentwicklung gesunden Essens. Genausowenig wie die Chiasamen aus Indien, die man jetzt über jedes Joghurt streut, weil der Magen grummelt. Man könnte auch Leinsamen nehmen, aber nein, es muss die Chia sein, die um den halben Erdball transportiert wird! Und die Liste dieser Dinge, die als eine neue, gesunde Entwicklung der Ernährung propagiert werden, lässt sich beliebig verlängern. Gar nicht zu reden von der Liste der Pillen und Pülverchen, die manche nehmen, um sich Vitamine oder Mineralstoffe zuzuführen, die angeblich nicht im veganen Essen sind. „Kann man doch nehmen“, heißt es dann, „und außerdem werden dann weniger Schweinchen getötet.“ Was ja auch Quatsch ist, denn Tönnies und wie sie alle heißen töten Schweinchen ohne Ende! Und neben dieser Salatbowl mit Avocado aus Mexiko, mit Zwiebeln aus Indien und Radieschen aus Polen liegt dann das Handy, das modern und leistungsfähig ist, damit man auf allen Kanälen mitspielen kann. Dass man da den Feind gleich neben der Salatschüssel liegen hat, wird nicht mehr mit einbezogen.
Warum ist das Handy der Feind auf unserem Tisch?
Wenn ich das Smartphone als Feind bezeichne, meine ich damit eigentlich die Unaufmerksamkeit, mit der wir einer der wichtigsten Tätigkeiten in unserem Leben – dem Essen und Trinken – begegnen. Oder vielmehr: nicht begegnen! Wer nicht isst, stirbt aus. Wer nicht bewusst isst, ernährt sich bloß. Und da hilft es auch nichts, wenn wir uns statt der Tiefkühlpizza eine in Plastik eingeschweißte vegane Salatbowl mit Avocado aus Mexiko kaufen.
Ich merke schon: Wer keinen Gemüsegarten hat, kommt aus der Sache nicht raus.
Doch, wir kommen da raus! Wir müssen nur auf die Bauernmärkte gehen, die es in fast jeder Stadt gibt. Da kosten das Bio-Gemüse und der Bio-Wein vielleicht etwas mehr, aber es gibt diese Angebote, und wir sollten sie nutzen. Ich habe mal gehört, dass man in den Fünfzigerjahren rund 40 Prozent des Einkommens für Essen und Trinken ausgegeben hat. Heute geben die Menschen in den westlichen Industrieländern rund zwölf Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel aus. Da haben wir doch Spielraum, oder nicht? Es muss auch nicht jeder kochen – auch wenn ich der Auffassung bin, dass jeder Mensch ein Koch ist, selbst wenn er sich nur eine Tasse Tee macht. Aber uns sollte bewusst sein, dass wir in keinem Straflager sitzen, in dem uns jeden Tag durch eine Klappe eine Fertiglasagne reingeschoben wird. Wir können unsere Gewohnheiten ändern!
Interview: Boris Halva

