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Ist Zocken das neue Ausgehen?

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Von: Thomas Roser

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In Belgrad floriert das Glücksspiel – so jedenfalls der Eindruck von FR-Korrespondent Thomas Roser.

Galant fischt die Verkäuferin das letzte Exemplar der im Schaufenster der Boutique in der Makenzijeva-Straße erspähten Cordjacke aus der Auslage. „Sitzt wie angegossen“, versicherte sie, nachdem ich mich in die Jacke hineingezwängt hatte. „Die trägt man offen“, entgegnete sie auf meinen Einwand, dass ich die Knöpfe nicht schließen könne: „Und Sie wollten doch ohnehin etwas abnehmen, oder nicht?“

Tatsächlich hat das bewegungsarme Coronaleben im Dunstkreis des Kühlschranks auch am Korrespondentenwams seine Spuren zurückgelassen. In meiner Wahlheimat Belgrad ist der Alltag nach der Pandemie zwar wieder in vertrauten Bahnen, aber doch scheint auch in Serbiens Hauptstadt längst nicht mehr alles so, wie es einmal war.

Einst galt Belgrad als eine Metropole, die niemals schläft. Doch mittlerweile steppt allenfalls noch im Sommer auf den an den Ufern von Donau und Save vertäuten Discoflößen der Bär. Als ich kürzlich spät abends von einem Treffen mit einem Bekannten zurückkehrte, waren es nicht nur die bereits nach 23 Uhr geschlossenen Wirtshäuser in meiner Straße, die mir auffielen.

Nicht weniger als vier Spielhöllen samt Wettbüros registrierte ich auf den 500 Metern vom Markt zu meiner Behausung. Im Gegensatz zu den früh verdunkelten Kneipenfenstern brannte bei allen der neueröffneten Zockertempel noch Licht: Das Nachtleben von Serbiens „Generation Glückspiel“ scheint sich in Belgrad von Cafés und Parks mehr und mehr in die Spielhöllen zu verlagern.

Die wie Pilze aus dem Boden schießenden Glückspielhallen und Wettbüros seien in Serbiens Hauptstadt „einfach überall“ – auch in unmittelbarer Nähe von Schulen, berichtet mir die Psychologin Jelena Manojlovic, die Koordinatorin eines privaten Hilfszentrum für Spielsüchtige in meinem Stadtteil Vracar: „Je ärmer ein Land und je zerrütteter eine Gesellschaft desto stärker ist der Drang zum Glückspiel.“ Offizielle Statistiken über die Zahl der Glücksspielsüchtigen würden in Serbien nicht geführt, so Manojlovic, die deren Anteil „auf über zwei Prozent der Bevölkerung“ beziffert: Neben Bosnien und Herzegowina gilt Serbien in Europa als Land mit der höchsten Zahl von Glückspielstätten pro Kopf.

„Das Leben ist ein Spiel!“: Es sind Serbiens bekannteste Schauspieler, Pop- und Sportstars, die in TV-Spots launig für das schnelle Geld per Glückspiel werben. Allzu strenge Auflagen hat die einflussreiche Zockerbranche beim EU-Anwärter nicht zu fürchten. Im Gegenteil. Im Februar unterzeichnete Marktführer „Mozzart“ gar ein Abkommen mit dem Gesundheitsministerium zur Finanzierung der Ausrüstung von Kinderkliniken. Als „gutes Beispiel von gesellschaftlicher Verantwortung“, an dem sich andere ein Beispiel nehmen sollten, pries die Gesundheitsministerin Danic Grujicic den Glücksspielkonzern.

Das Durchschnittsalter der von ihr betreuten Spielsüchtigen sei in den letzten 15 Jahren von 35 auf 23 Jahre gesunken, gleichzeitig habe sich deren Zahl verdreifacht, berichtet Psychologin Manojlovic. Die laxe Haltung des Staats gegenüber der Glückspielbranche sei auch mit den stattlichen Steuereinnahmen zu erklären. In Ländern, in denen der Sektor kaum Beschränkungen unterliege, sei die Chance für Jugendliche, in die Kriminalität abzugleiten, um 70 Prozent größer als in Staaten, in denen es strenge Auflagen gebe: „Doch bei uns wird oft nur an den kurzfristigen Nutzen und nie an die Folgen gedacht.“

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