Ist ein Freispruch endgültig?
Was passiert, wenn in einem Mordfall Jahre später neue Beweise auftauchen? Darüber verhandelt das Bundesverfassungsgericht.
Wer einmal freigesprochen wurde, bleibt auch freigesprochen. Dieser Rechtssatz war für Hans von Möhlmann unerträglich. Seine 17-jährige Tochter wurde 1981 vergewaltigt und ermordet. Der Angeklagte wurde rechtskräftig freigesprochen, weil die Beweise für eine Verurteilung nicht genügten. Dann gab es aber die neue DNA-Analyse. Und die belegte rund 30 Jahre später, dass der rechtskräftig freigesprochene Angeklagte wohl doch der Täter war. Jedenfalls stammte das Sekret am Opfer wahrscheinlich von ihm.
Damit gab es im Jahr 2012 eine neue Beweislage, aber keine Möglichkeit für einen zweiten Mordprozess. Denn der frühere Angeklagte war rechtskräftig freigesprochen worden, siehe oben. Hans von Möhlmann wollte sich damit nicht abfinden. Er startete eine Petition, 180 000 Unterschriften und eine breite Öffentlichkeit unterstützten ihn. Das Gesetz, genauer gesagt die Strafprozessordnung, wurde im Dezember 2021 tatsächlich ergänzt. Wenn aufgrund neuer Beweise „dringende Gründe dafür bestehen“, dass ein Freigesprochener nun wegen Mordes verurteilt wird, kann das Strafverfahren wieder aufgenommen werden.
Sofort nachdem das Gesetz in Kraft trat, wurde das Verfahren wieder aufgenommen. Denn Mord verjährt nicht. Der rechtskräftig Freigesprochene wurde 40 Jahre später wieder zum Angeklagten. Er legte Verfassungsbeschwerde ein. Und genau über die verhandelte am gestrigen Mittwoch das Bundesverfassungsgericht in einem vollbesetzten Gerichtssaal, der Beschwerdeführer war jedoch nicht erschienen. Das Urteil wird erst in einigen Monaten gesprochen. Hans von Möhlmann wird es nicht mehr erleben. Er starb 2022.
Wieso kann es von Verfassungswegen verboten sein, einen einst freigesprochenen Menschen erneut vor Gericht zu stellen, wenn es neue Beweise gibt? Weil es im Grundgesetz den Artikel 103 gibt, in dem es heißt: „Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.“ Aber der Angeklagte wurde ja bisher nicht bestraft, gilt trotzdem ein Wiederaufnahmeverbot? Das war der erste Diskussionspunkt in der Karlsruher Verhandlung.
Die Vertreter:innen von SPD und Union, die die Gesetzesnovelle mehrheitlich durch den Bundestag gebracht hatten, betonten, dass das Grundgesetz nur eine Mehrfachbestrafung in derselben Sache verbiete, nicht aber ein zweites Verfahren nach einem Freispruch. Zudem gelte das neue Gesetz nur bei schwersten Straftaten, die nicht verjähren. Also bei Mord oder Kriegsverbrechen.
Doch auch die Verteidigung des Angeklagten führte gewichtige Argumente an. Das Grundrecht, das vor Mehrfachbestrafung schützt, war nämlich nach den Erfahrungen der NS-Zeit aufgenommen worden. Vor den Volksgerichtshof wurden Verurteilte gezerrt, deren Strafen dem NS-Staat als zu milde erschienen. Der bekannte Strafverteidiger Johann Schwenn sprach von einem „Dammbruch“. Jetzt gehe es um neue Prozesse gegen einst freigesprochene Mörder. Aber werden und könnten Opfer von Sexualdelikten oder schwerster Körperverletzung nicht ebenso Wiederaufnahmeverfahren verlangen, wenn es gegen den ehemals Freigesprochenen neue Beweise gibt?
Sein Anwaltskollege Yves Georg warnte, dass die Rechtskraft eines Urteils nicht mehr viel bedeute, wenn ein Freigesprochener praktisch bis zu seinem Tod damit rechnen müsse, erneut vor Gericht gestellt zu werden. Die Zahl der Betroffenen sei nicht gering, in Mordprozessen würden 6,77 Prozent der Angeklagten freigesprochen.