Immer ganz nah am Geschehen

Werner Holzer, langjähriger Chefredakteur der FR, journalistischer Entdecker Afrikas und preisgekrönter Reporter, feiert heute seinen 90. Geburtstag.
Von Roderich Reifenrath
Die Welt, so wie sie aktuell in den von Krieg und Vertreibung, Elend und Hoffnungslosigkeit geschüttelten Regionen ist: Das wäre in jungen Jahren für Werner Holzer eine journalistische Herausforderung gewesen. Millionen Menschen im Nahen Osten von Zerstörungswut bedroht, Signale des Zerfalls auf dem „Schwarzen Kontinent“: Das muss den einstigen Chefredakteur der Frankfurter Rundschau, der am heutigen Freitag seinen 90. Geburtstag feiert, gedanklich noch einmal in jene Länder treiben, die er als Reporter – nahezu im Alleingang – „entdeckt“ und kenntnisreich beschrieben hat.
In den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts war es gewiss nicht der Normalfall einer journalistischen Karriere, den Schreibtisch bei einer Zeitung zu verlassen, um Tage und Wochen unterwegs zu sein: Augen- und Ohrenzeuge, mühsam oft recherchierend und kompetent vermittelnd, welche Konsequenzen es hat, wenn etwa Kolonialismus und Korruption ganze Völker drangsalieren. Publizistisch hat Werner Holzer im deutschsprachigen Raum große Informationslücken geschlossen, die durch den Mangel an ortsgebundenen Berichterstattern zwangsläufig waren. Ein Zuckerschlecken war dieses Leben „en route“ sicher nicht. Aber es garantierte einen unverstellten Blick auf alle Facetten komplexer politischer Zustände und Kulturen.
Werner Holzer ist viel und weit gereist. Als Sonderkorrespondent hat er Lesern der FR, der „Süddeutschen Zeitung“ und des Züricher „Tagesanzeigers“ in großen Beiträgen vor allem Afrika nahe gebracht. Sucht man Kollegen mit vergleichbarem beruflichem Hintergrund, dann hat man aus dieser Zeit nur Peter Scholl-Latour vor Augen. Die gesammelten Eindrücke schlugen sich 1961 in einem Buch mit dem Titel „Das nackte Antlitz Afrikas“ nieder. Es wurde damals von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ als „Schatz an Wissen“ gepriesen und 1961 mit dem europäischen Literaturpreis „Cortina Ulisse“ gewürdigt. Auf rund 500 Seiten skizziert der Autor in kurzen Porträts mehr als ein Dutzend Länder – prominent begleitet von Julius Kambarage Nyerere, dem Ministerpräsidenten des 1964 mit Sansibar zu Tansania verschmolzenen Tanganjika.
Vorsichtig aber hoffnungsvoll entwirft einer der herausragenden Staatsmänner dieses Kontinents in einem Geleitwort die positiven Wirkungen der afrikanischen „Revolution“. Werner Holzer bemerkte dazu in einer auch von Skepsis getragenen „Notwendigen Vorbemerkung“: ... „Wer Afrikaner verstehen will, muss bedenken, dass die Kolonialzeit tiefgehende Spuren hinterlassen hat. Und er muss bedenken, dass die jungen afrikanischen Staaten den Schritt aus dem Mittelalter in die Neuzeit in weniger als einem Menschenalter tun mussten. Europa hat für die gleiche Entwicklung Jahrhunderte gebraucht und wahrlich genügend Fehler gemacht.“ Wie wahr, immer noch! Was darf man da, was muss man heute sagen angesichts einer schier kollabierend wirkenden Weltgegend?
Liberaler Geist der Nr. 1 in der Redaktion
Das zweite große Projekt Werner Holzers war Vietnam. Im Herbst 1967 sah er dort die Folgen des erbarmungslosen Gemetzels zwischen dem Vietkong und den USA. „Vietnam oder die Freiheit zu sterben“ heißt das daraus entstandene Buch. Schilderungen von Bombenfliegern, Psychokriegern oder Revolutionsarbeitern bettete er ein in klare Urteile über das letzten Endes als selbstzerstörend empfundene Engagement Washingtons. Ein für Journalisten nicht gerade typischer Ratschlag als Quintessenz seines publizistischen Auftritts lautete daher: „Dieser Bericht ist ein Versuch, die amerikanische Politik von ihren Illusionen zu befreien“ – von der Illusion, in Vietnam sei die Freiheit verteidigt worden.
Die Position Holzers ist auch deshalb erwähnenswert, weil er nicht zu jenen gehörte, denen Vietnam zur Chiffre für eine häufig gar mit Hass getränkte Rundum-Verachtung der Yankees geworden ist. Er, der als 19-Jähriger schwer verwundet aus dem Zweiten Weltkrieg nach Hause kam, wusste nicht nur genau, was Kriege anrichten, sondern auch, wo Staaten landen, wenn sie die Ideale einer freiheitlichen Demokratie schleifen. Trotz mancher diplomatisch-militärischer Irrwege der USA übersah er nicht den dort verankerten demokratischen Kern und musste nicht belehrt werden, wo im Vergleich mit anderen Systemen die Vor- und Nachteile lagen. Das Land hat ihn stets gereizt, war und ist ihm immer eine Reise wert – beruflich wie privat. So begleitete er vor der Präsidentenwahl 1964 die Kandidaten Lyndon B. Johnson und Barry Goldwater und wurde ein Jahr später für seine Berichte mit dem Theodor-Wolff- Preis geehrt.
Dem Kosmopoliten fiel es zu aktiven Zeiten leicht, sich journalistisch trittsicher auf dem Globus zu bewegen. „Ich war überall, wo Geschichte passierte“, hat er mal in einem Interview gesagt. Ihn zog es in den Nahen Osten, nach Südostasien, Frankreich, Italien und eben in die USA, um nur einige herausragende Stationen zu nennen. Darunter befand sich sogar Nordvietnam – damals eine Rarität, für westliche Medien schiere Utopie. Aber die Erben Ho Tschi Minhs hatten ihm 1970 für das „Land hinter dem Horizont“ doch ein Einreisevisum gegeben. In Hanoi und mehreren Provinzen sah er erneut wie zuvor bereits in Saigon oder Hué die Zerstörungswut irregeleiteter Ideologien und sinnentleerter militärischer Interventionen. Ausgezeichnet hat man ihn 1968 dafür mit dem Deutschen Journalistenpreis. Übrigens: Die damaligen Arbeitsmethoden des PEN-Club-Mitglieds ähneln (bei aller Vorsicht mit direkten Vergleichen) im Prinzip denen, die heute von der Karl-Gerold-Stiftung erwartet werden, wenn sie Nachwuchskräften Reise-Stipendien für Reportagen mit dem „besonderen lebensnahen Blick“ gewährt.
Als Werner Holzer 1973 berufen wurde, die Nachfolge Gerolds als Chefredakteur der Frankfurter Rundschau anzutreten, da hatten sich Erlebnisse und Bilder aus dem „Dritten Reich“, der Dritten Welt oder aus dem „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ zu Haltungen verdichtet, mit denen man gut gewappnet einer Redaktion vorstehen konnte, die ja nicht gerade als pflegeleicht galt. Mit Holzer kam gelebte Weltläufigkeit ins Haus, und als Leitartikler hat er immer wieder sein breit angelegtes Kapital an Erfahrung in aktuellen Debatten eingebracht. 18 Jahre an der Spitze einer Zeitung: Da gab und gibt es hierzulande (wie bei seiner Reporterzeit) nicht viele, die ähnliches zu bieten haben. Der Umgang zwischen dem Chef und der Redaktion war geprägt vom liberalen Geist der Nr. 1. Wurde es mal heftig, vielleicht gar bajuwarisch deftig, dann dominierten aber bald danach wieder versöhnliche Töne.
Kommunikativ, lebhaft, temperamentvoll
Werner Holzer, in Zweibrücken geboren, aufgewachsen auch in Bayern, kam 1953 über den „Mannheimer Morgen“ und der Mitarbeit bei Münchner Blättern („SZ“ und „Abendzeitung“) nach Frankfurt. Bei der FR übernahm er die Rolle des Chefs vom Dienst, bevor er dann von 1964 an als Korrespondent in die Welt zog. Dass er nach seiner Rückkehr ins Mutterhaus die meisten Kolleginnen und Kollegen bereits kannte und niemand ihm die Struktur der manchmal etwas anderen Zeitung zu erklären hatte, machte die Übernahme eines von selbstbewussten Individualisten geprägten Teams leichter.
Zur Erinnerung: Nach der korrumpierenden Hitlerdiktatur ging es darum, wieder an die große Zeit des demokratischen Journalismus der Weimarer Republik anzuknüpfen. Zerstörtes Vertrauen in die Medien musste zurückgewonnen, ein wertorientiertes Berufsverständnis neu belebt werden. Weil Werner Holzer bereits zwei Jahre nach dem Kollaps des Dritten Reichs seine Karriere begonnen hatte, gehört er zu dieser bundesdeutschen Gründergeneration. Peu à peu hat sie aufgebaut, was heute häufig als goldene Ära im deutschen Nachkriegs-Journalismus gepriesen wird. In der Tat ging es eine lange Strecke stets bergauf. Auch in der FR, die in all diesen Jahren redaktionell aufstocken, an Umfang zulegen, Ansehen und internationales Renommee weiter steigern konnte. Die Redaktionsräume in der Großen Eschenheimer Straße wurden vor allem durch Werner Holzer zur nie geschlossenen Begegnungsstätte mit Repräsentanten aus Politik und Gesellschaft. Und bei der Umsetzung der politischen Grundhaltung „sozial-liberal“ folgte er dem, was Karl Gerold vorgegeben hatte und bis heute Bestandteil der Anstellungsverträge ist. Am 10. Todestag des 1973 gestorbenen Gerold hat sein Nachfolger unter anderem mit diesen Worten daran erinnert: „Wir haben versprochen, die Frankfurter Rundschau als Forum freiheitlichen Denkens und gerechten Handelns zu bewahren.“
Werner Holzer – ein Journalist mit Leib und Seele, ein Weltbürger, kommunikativ, lebhaft, temperamentvoll, von ausgleichendem Charakter, frei von Panik, wenn es hektisch wurde: So hat die Redaktion ihn erlebt. Nicht selten schimmerte bei dem vielfach Ausgezeichneten, dem in etlichen Ehrenämtern und Institutionen Tätigen immer wieder das Naturell des neugierigen, ruhelosen Reporters durch, der sich dort besonders hingezogen fühlte, wo „Geschichte passiert“.
Roderich Reifenrath folgte Werner Holzer als Chefredakteur der FR