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Hurra, sie leben noch!

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Das Voeltzkow-Chamäleon wurde 2020 auf Madagaskar wiederentdeckt – nach 110 Jahren. imago images
Das Voeltzkow-Chamäleon wurde 2020 auf Madagaskar wiederentdeckt – nach 110 Jahren. © Imago

Wenn Arten wiederentdeckt werden, die als ausgestorben galten, spricht man vom Lazarus-Effekt. Aber auch der hat seine Kehrseite.

Ende 2022 machten Forschende eine erstaunliche Entdeckung. Auf Fergusson-Island, einer unzugänglichen Insel vor der Ostküste Papua-Neuguineas, tappte ihnen eine Schwarznacken-Fasantaube (Otidiphaps nobilis insularis) in die Fotofalle. Das Erstaunliche daran: Seit ihrer Erstbeschreibung im Jahre 1882 hatte kein Ornithologe die Tiere je wieder zu Gesicht bekommen, sie galten als ausgestorben.

Doch dann mehrten sich in den letzten Jahren die Berichte von Einheimischen, die behaupteten, die Tiere gehört und sogar gesehen zu haben. Daraufhin wurden von verschiedenen Naturschutzorganisationen Expeditionen losgeschickt, um die Vögel aufzuspüren – was dem Team um Jordan Boersma von der amerikanischen Cornell University dann im September 2022 auch gelang. Laut Boersma standen die Chancen, den Vogel zu finden, bei weniger als einem Prozent. Der Co-Expeditionsleiter John C. Mittermeier verglich die Entdeckung gar mit der eines Einhorns.

In der Biologie gibt es einen Begriff dafür, wenn ausgestorben geglaubte Arten wiederentdeckt werden: Lazarus-Effekt. Die Bezeichnung nimmt Bezug auf den Lazarus des Johannesevangeliums, den Jesus von den Toten auferweckte. Ein internationales Forschungsteam um Brett Scheffers von der National University of Singapore hat ermittelt, wie viele Tierarten bis 2011 wiederentdeckt wurden, die schon als ausgestorben galten. Demnach waren es immerhin 351 Arten, von Amphibien über Vögel bis hin zu Säugetieren. Im Durchschnitt lagen 61 Jahre zwischen Verschwinden und Wiederentdeckung, haben die Forschenden herausgefunden. Das bekannteste Beispiel für den Lazarus-Effekt in der Tierwelt ist wohl der Quastenflosser (Latimeria chalumnae) , ein Urzeitfisch, von dem man annahm, er sei vor 66 Millionen Jahren mit den Dinosauriern ausgestorben, bis er dann 1938 vor der Küste Südafrikas wiederentdeckt wurde. Inzwischen wurde mit Latimeria menadoensis sogar eine zweite Art gefunden. Der Urzeitfisch kommt in Wassertiefen von mehr als 150 Metern vor, was auch erklärt, warum die Tiere so lange unentdeckt bleiben konnten.

Quastenflosser sind bereits mit Dinosauriern geschwommen. imago images
Quastenflosser sind bereits mit Dinosauriern geschwommen. © Imago

Beim Quastenflosser zeigt sich allerdings, dass der Lazarus-Effekt auch Nachteile haben kann. Als die Funde bekannt wurden, setzten weltweit Fangaktionen ein, so dass die ohnehin nur geringen Bestände noch weiter dezimiert wurden. Eigentlich sollten wiederentdeckte Arten, die nur noch in geringen Populationen vorhanden sind, unter einen besseren Schutz gestellt werden, so wie es bei der Schwarznacken-Fasantaube geplant ist.

Die Vogelschutzorganisation American Bird Conservancy in The Plains, USA, geht davon aus, dass mehr als 150 Vogelarten derzeit weltweit als verschollen einzustufen sind. Einige der Arten seien nur von alten Zeichnungen her bekannt, andere zehn Jahre und länger nicht mehr gesichtet worden. Expeditionen, die zur Wiederauffindung verschollener Arten in alle Welt ausgesandt wurden, konnten schon Erfolge aufweisen. Neben der Schwarznacken-Fasantaube wurde 2016 der 60 Jahre verschollene Táchira-Ameisenpitta (Grallaria chthonia) im Regenwald Venezuelas und 2015 das über 75 Jahre vermisste hübsche Blauaugentäubchen (Columbina cyanopis) in Brasilien entdeckt.

Aber auch andere Naturschützer:innen machen sich auf die Suche nach totgesagten Arten. Die Organisation Re:wild, zu deren Mitbegründern der Schauspieler Leonardo DiCaprio gehört, hat 2017 eine Liste erstellen lassen mit 25 Arten, die damals verschollen waren und gesucht werden sollten, um sie besser schützen zu können. Inzwischen sind acht davon wieder aufgetaucht, darunter der 42 Jahre lang totgeglaubte Klettersalamander Bolitoglossa jacksoni , die 113 Jahre lang verschollene Riesenschildkröte Chelonoidis phantasticus und die größte Biene der Welt: die 38 Jahre nicht gesichtete Wallace-Riesenbiene (Chalicodoma pluto) .

2020 fand ein Team um Frank Glaw von der Zoologischen Staatssammlung München das Voeltzkow-Chamäleon (Furcifer voeltzkowi) wieder, das vor 110 Jahren zum letzten Mal gesehen worden war. „Im Unterschied zu vielen anderen verschollenen Arten war in diesem Fall relativ genau bekannt, wo die ersten Exemplare gesammelt worden waren“, sagt Glaw. „Ich nahm an, dass der Lebenszyklus beim Voeltzkow-Chamäleon ähnlich verläuft wie bei der verwandten Art Furcifer labordi und dass es entscheidend sein würde, im richtigen Zeitraum, also in der Regenzeit, zu suchen. Das ist allerdings nicht die beste Reisezeit, denn viele Straßen in Madagaskar sind dann kaum befahrbar.“

Die Wiederentdeckung im bekannten Lebensraum sei schon am ersten Abend gelungen, berichtet Glaw, gibt aber auch zu bedenken: „Entscheidend für den Erfolg der Wiederentdeckung war neben der sorgfältigen Vorbereitung und der Auswahl des richtigen Zeitraums sicher auch eine gute Portion Glück. Denn bei einer zweiten verschollenen Art hatten wir trotz gleicher Strategie noch keinen Erfolg und so wartet diese Art bis heute auf ihre Wiederentdeckung“. Glaw schätzt die Zukunftschancen der Chamäleons der Art Furcifer monoceras als gut ein, denn ihr Verbreitungsgebiet sei noch relativ groß.

Wurde 38 Jahre nicht gesehen: die Wallace-Riesenbiene. imago images
Wurde 38 Jahre nicht gesehen: die Wallace-Riesenbiene. © Imago

Wie schnell eine Art allerdings aussterben kann, wenn es nicht gelingt, sie frühzeitig zu schützen, zeigt das Beispiel der Goldkröte (Incilius periglenes) . 1987 bezifferten Fachleute die Population der hübschen Froschlurche im Regenwald Costa Ricas noch auf 1500 Tiere. Ein Jahr später waren es nicht einmal mehr ein Dutzend, ein weiteres Jahr später wurde nur noch ein einziges Männchen gefunden. Die IUCN geht davon aus, dass die Tiere heute ausgestorben sind.

Den Lazarus-Effekt gibt es übrigens nicht nur bei Tieren. Am 25. Mai 2022 fanden Botaniker im Big Bend Nationalpark im Süden von Texas die seit zehn Jahren vermisste Eiche Quercus tardifolia wieder. Allerdings entdeckten die Forschenden nur ein einziges Exemplar, das zudem unter Pilzbefall und Waldbrandschäden litt. Die Fachleute versuchen nun, den Baum zu retten, was nicht einfach ist, denn bisher wurden noch keine vermehrungsfähigen Eicheln gefunden.

Hier zeigt sich, dass das Wiederentdecken allein noch kein Garant für das Überleben der Art ist. Dennoch ist es wichtig, gezielt nach den totgeglaubten Arten zu suchen, um ihren Schutz verbessern zu können. Werden Arten verfrüht aufgegeben und totgesagt, kann dies dazu führen, dass die Naturschutzbemühungen eingestellt werden und die Spezies schließlich doch noch aussterben, obwohl sie vielleicht zu retten gewesen wären. Dieses Phänomen ist in der Biologie also sogenannter Romeo-Irrtum bekannt. Namensgebend war hier Shakespeares Tragödie „Romeo und Julia“, in der sich der Protagonist Romeo das Leben nimmt, weil er glaubt, seine Geliebte Julia sei gestorben, was zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht der Fall war. Sie begeht erst dann Suizid, als ihr Geliebter Romeo tot ist.

So erging es etwa dem Vierfarben-Mistelfresser auf der philippinischen Insel Cebu, der als erster Romeo-Irrtum traurige Berühmtheit erlangte. 90 Jahre lang galten die Vögel als ausgestorben, bis sie 1992 wiederentdeckt wurden. Zu dieser Zeit waren die Schutzbemühungen aber längst aufgegeben worden und ihr ursprünglicher Lebensraum nahezu vollständig abgeholzt.

Nur mit großen Anstrengungen gelang es, die verbliebenen etwa 100 Tiere besser zu schützen. 1996 wurde im Central-Cebu-Nationalpark ein Refugium für die letzten Tiere geschaffen. Die Internationale Union zur Bewahrung der Natur (IUCN) stuft die Art auf der Roten Liste als vom Aussterben bedroht ein. Man kann nur hoffen, dass die Bemühungen zu ihrem Erhalt nicht so tragisch enden wie Romeo und Julia.

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