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Hilfe für Syrien nach dem Erdbeben: „Die Menschen wissen, dass es keine Zukunft für sie gibt“

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Von: Andreas Sieler

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Eine Aufnahme aus Sarmada in der Nähe von Idlib – die mit am heftigsten vom Erdbeben getroffene Region.
Eine Aufnahme aus Sarmada in der Nähe von Idlib – die mit am heftigsten vom Erdbeben getroffene Region. © Imago

Der Münchner Verein „Zeltschule“ betreibt Schulen in den Flüchtlingscamps in Syrien. Die Vorsitzende Jaqueline Flory erklärt im Interview, was die Menschen im Erdbebengebiet jetzt brauchen und wie das Assad-Regime von der Katastrophe profitiert.

Frau Flory, der UNHCR gibt die Zahl der Geflüchteten innerhalb Syriens mit knapp sieben Millionen an. Wie setzt sich diese Gruppe zusammen?

Das sind viele Menschen, die vor Bombardierungen immer weiter nach Norden geflohen sind, ebenso Minderheiten. Da sind auch Hunderttausende aus Aleppo, die in Bussen vom Assad-Regime nach Idlib „evakuiert“ worden sind, um dort Monate später gezielt bombardiert zu werden. Es sind unglaublich viele Kinder. In der Region Idlib leben etwa drei Millionen Menschen, davon die Hälfte Kinder. Deshalb finde ich es dramatisch, wenn ich in deutschen Nachrichten lese, dass das ein Rebellen- oder Terroristengebiet sei. Das ist definitiv nicht der Fall. Natürlich sind dort Gruppen, die aktiv gegen das Regime sind. Aber der Begriff Rebellen hat nach meiner Meinung Konnotationen, die überhaupt nicht passen.

Nun hat das Erdbeben die Region erschüttert. Wie beschreiben Ihre Kontakte vor Ort die Lage?

Das sind zwei unterschiedliche Welten bei uns in den Camps und in den umliegenden Orten: Unsere neun Camps bei Idlib wurden schwer beschädigt. Schul- und Wohnzelte wurden zerstört, viele Wassertanks auch, was dramatisch ist, weil Trinkwasser seit Monaten knapp ist und die Cholera grassiert. Es gibt aber Gott sei Dank weder Schwerverletzte noch Tote, weil nur Zeltdächer eingestürzt sind. Aber die Menschen, die ohnehin wenig besitzen, haben vieles verloren. Wir sind dabei, die Zelte wieder aufzubauen und wollen auch sobald wie möglich die Schulen wieder aufbauen. In den Städten der näheren Umgebung ist die Situation viel dramatischer. Ich habe von vielen Nachrichten erhalten, dass ein Familienmitglied vermisst wird oder sogar Textnachrichten von unter den Trümmern schickt. Aber es gibt keine Hilfe, um die tonnenschweren Teile zu heben. Die Familien sind live beim Sterben dieser Personen dabei und in Kontakt zu ihnen.

Nur Geldspenden an etablierte Organisationen helfen in Syrien nach dem Erdbeben

Viele Menschen hier stellen sich die Frage: Wie kann man konkret helfen?

Nur mit Geldspenden. Sachspenden sind nett gemeint, helfen aber nicht. Es dauert zu lange, bis die ankommen, sofern man sie überhaupt liefern kann. Es ist ganz wichtig, an Organisationen zu spenden, die schon vor dem Erdbeben in der Region tätig waren und dort bereits eine Struktur und ein Kontaktumfeld aufgebaut haben.

Ein Helfer der Kirche klagte diese Woche, dass eigentlich gar keine Mitarbeitenden von Hilfsorganisationen vor Ort sind. Können Sie das bestätigen?

Ja, das sagen mir die Menschen vor Ort. Es sind keine internationalen Organisationen bislang angekommen. Was verständlich ist: Internationale Hilfe kommt mit Flugzeugen in der Türkei an und müsste von dort über die Grenze nach Idlib, aber in der Türkei ist die Situation mit Sicherheit so verheerend, dass die Menschen erstmal dort helfen. Und das syrische Regime hat kein Interesse in der Region zu helfen.

„Der größte Profiteur dieses Erdbebens ist Assad“: Regime erschwert Hilfe nach dem Erdbeben in Syrien

Zwei weitere Grenzübergänge wurden nun geöffnet – hilft das?

Ich denke, dass so kurzfristig mehr Hilfsgüter ins Land gebracht werden können. Ich halte es aber für die falsche Entscheidung, dass Hilfe mit dem Assad-Regime koordiniert wird. Es hätte die Möglichkeit gegeben, Hilfsgüter aus Flugzeugen über dem Gebiet abzuwerfen. Der große Profiteur dieses Erdbebens, so makaber das ist, ist Assad. Es wurde genau die Region am härtesten getroffen, in der er sowieso Staatsfeinde wähnt. Das Erbeben gibt ihm die Möglichkeit, sich durch die Koordination internationaler Hilfe wieder salonfähig zu machen. Er wird wieder Kontakte mit Ländern haben, die Syrien seit Jahren sanktionieren. Das wird ihm helfen, seinen Stand zu sichern. Ich hätte es wichtig gefunden, dass sich der Westen davon distanziert und klar macht, dass die Syrer unterstützt werden und in keiner Weise das Regime. Eine Luftbrücke wäre viel sinnvoller gewesen.

Es ist die Rede von rund 6000 Toten in Syrien. Wie weit ist man davon entfernt, die Folgen des Bebens ganz zu erfassen?

Sehr weit. Ich habe mit Weißhelmen in der Region Idlib telefoniert. Sie haben unter vielen Gebäuden Menschen gehört. Diese waren aber mit solch schweren Trümmern verschüttet, dass sie die Menschen nicht ausgraben konnten. Man braucht Kräne und Bagger. Sie schätzten, dass allein in der Region, in der sie tätig sind, 15 000 bis 20 000 Menschen gestorben sind. Ich glaube, von endgültigen Zahlen sind wir weit entfernt.

Hilfsorganisation kümmert sich nach Erdbeben in Syrien um Trinkwasser und Gesundheitsversorgung

Sie sagen, Cholera grassiert. Wie steht es um die medizinische Versorgung?

Die medizinische Versorgung der Menschen in Idlib ist seit Monaten katastrophal und so gut wie nicht vorhanden. Es gibt auch viel zu wenig Lebensmittel und sauberes Trinkwasser für die Vielzahl an Menschen. Es ist wichtig, dass jetzt sauberes Trinkwasser und Cholera-Impfungen in das Gebiet gebracht werden.

Was konkret unternimmt „Zeltschule“ jetzt?

Wir haben in der Region Zeltplanen, Öfen und Wassertanks gekauft und ein Drittel der zerstörten Wohnzelte wieder aufgebaut. Nun sind wir auf der Suche nach Trinkwasser. Wir versuchen dafür in der Region direkt unsere Kontakte und Strukturen zu nutzen.

Zur Person

Der gemeinnützige Verein „Zeltschule“ wurde 2016 von Jaqueline Flory (47) und zehn weiteren Mitgliedern gegründet, heute ist Flory Vorsitzende des Vorstands und reist etwa zehnmal im Jahr in die nordsyrische Region Idlib.

Hauptaufgabe des Vereins ist es, Bildung in den Lagern syrischer Geflüchteter zu ermöglichen. „Zeltschule“ betreibt nach eigenen Angaben 45 Schulen in Syrien und im Libanon für 11 000 Kinder. Sie versuchen, die Familien mit allem Lebensnotwendigen zu versorgen, damit die Kinder nicht arbeiten müssen, um die Familie zu versorgen, und ein Schulbesuch möglich ist.

Die Zeltschulen leisten Hilfe zur Selbsthilfe, wie Flory erklärt. „Weitestgehend wird es von mir organisiert und den Menschen vor Ort ausgeführt – vom Schulbau durch Handwerker bis zum Unterricht von syrischen Lehrkräften, die geflohen sind und in den Camps leben.“ Die Schulen in Syrien wurden beim Erdbeben größtenteils zerstört. ansi

Wie kommen Sie an Wasser, wo es doch vorher schon knapp war?

Es gibt in Damaskus und im Libanon Trinkwasser zu kaufen. Es hat aber horrende Preise, weil wir in beiden Ländern eine Hyperinflation haben. Das Problem ist, bezahlbares Trinkwasser zu bekommen. Selbst in Beirut habe ich in ärmeren Vierteln mit Menschen gesprochen, die sagen, sie kaufen Meerwasser. Ich weiß, wie verschmutzt das Meer um Beirut ist. Sie nutzen das Salzwasser zum Duschen und Kochen, weil sie sich Trinkwasser nicht leisten können. Wenn das schon bei Libanesen in Beirut so ist, kann man sich vorstellen, wie es für die syrischen Flüchtlinge in Idlib ist. Aber im Moment ist die Lage lebensbedrohlich, daher müssen wir auch das Wasser kaufen, das eigentlich auch für uns zu teuer ist.

Nach dem Erdbeben in Syrien: Leichtere Visa-Vergabe in Deutschland „bringt den Menschen nichts“

Deutschland hat eine leichtere Visa-Vergabe angekündigt für Erdbebenopfer mit Angehörigen in Deutschland. Nun hat Deutschland keine diplomatische Vertretung in Syrien, die Menschen müssten also etwa nach Beirut, um ein Visum zu beantragen. Ein sinnloses Angebot für Betroffene in Syrien?

Das bringt den Menschen nichts, deswegen sind sie ja seit Jahren Kriegsnomaden im eigenen Land. Sie können Syrien nicht verlassen. Selbst wenn sie es über die libanesische Grenze schaffen, müssten sie quer durch den Libanon nach Beirut zur deutschen Botschaft. Da gibt es zahlreiche Checkpoints, die selbst uns immer Probleme machen, wenn wir von Beirut in die Camps reisen. Das funktioniert niemals. Man braucht eine Aufenthaltsgenehmigung im Libanon, die kostet 30 Dollar pro Person. Eine Summe, die Flüchtlinge nie auftreiben können, die könnten ebenso 30 000 Dollar verlangen. Die Menschen würden bald aufgegriffen und ausgewiesen werden.

Sie betreiben auch Schulen im Libanon – wie ist dort die Lage?

Unsere Aufgaben gehen auch dort über den Schulbau hinaus, weil es in beiden Ländern so ist, dass die Kinder zur Sicherung des Überlebens der Familie beitragen müssen. Im Libanon haben die erwachsenen syrischen Flüchtlinge ein Arbeitsverbot. Es dürfen nur die Kinder arbeiten. Auch in Syrien müssen die Kinder oft arbeiten, damit die Familie überleben kann. Deswegen nützt der reine Schulbau gar nichts, sondern es ist auch unsere Aufgabe, in den Camps für alles Lebensnotwendige zu sorgen: Lebensmittel, Trinkwasser, Medikamente, Feuerholz. Nur wenn die Familien das haben, können die Kinder zur Schule gehen. Wir sind also für ein Komplettpaket zuständig.

Jaqueline Flory von Verein „Zeltschule“.
Jaqueline Flory von Verein „Zeltschule“. © Claudia Göpperl

Die Erwachsenen dürfen im Libanon nicht arbeiten, die Kinder schon. Das klingt unsinnig.

Das ist auch unsinnig. Flüchtlinge im Libanon leben in einem sehr fruchtbaren Land, das ist die Getreidekammer des Nahen Ostens. Syrische Kinder sind natürlich die günstigsten Erntehelfer, die man sich vorstellen kann, sie sind am leichtesten zu schikanieren und einzuschüchtern. In den Camps fahren morgens Laster vor, laden alle Kinder ab sieben oder acht Jahren ein, bringen sie zum einem Feld, dort werden sie zwölf Stunden getriezt und danach zurück ins Camp gefahren. Dafür bekommen sie zwei bis drei Dollar.

Und es bleibt keine Zeit für Bildung.

Genau. Wenn wir nur Schulen bauen würden, wären die Schulen leer und alle Kinder auf den Feldern. Auch in Syrien müssen wir dafür sorgen, dass die Familien versorgt sind, damit die Kinder zur Schule gehen können. Auch dort müssen die Kinder mithelfen, indem sie auf der Straße betteln oder Autoscheiben an Ampeln putzen.

„Menschen haben kaum Perspektiven“: Lage nach Erdbeben in Syrien hoffnungslos

Wie geht es Ihnen persönlich mit der Situation?

Was mich belastet, ist, dass ich oft höre: „Sei doch froh, jetzt hat man wenigstens wieder kurz die Situation in Idlib im medialen Fokus“. Das bestürzt mich. Dass erst eine solche Katastrophe passieren muss, dass man überhaupt wieder daran denkt, dass dort seit Jahren Millionen von Menschen unter verheerenden Umständen leben. Ich mache mir keine Illusionen, dass diese Aufmerksamkeit länger anhält, als die Kameras vor Ort sind. Aber die Not bleibt.

Wie sehen Sie die langfristige Perspektive in der Region?

Die Menschen haben kaum Perspektiven. Sie wissen, dass es unter dem Assad-Regime keine Zukunft für sie gibt und wir sehen, wie das Regime auch durch das Erdbeben wieder stärker wird. Die Menschen sind resigniert. Sie leben in einer abgeschnittenen Enklave, abgeschnitten von Syrien und dem Rest des Mittelmeerraums. Sie wissen, dass ihr Leben so weitergehen wird und ihre Kinder so aufwachsen werden. (Interview: Andreas Sieler)

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