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Ausstiegsberater zur Amoktat bei den Zeugen Jehovas: „So etwas darf nie wieder passieren“

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Psychologe Dieter Rohmann berät seit circa 40 Jahren Aussteigerinnen und Aussteiger aus der Glaubensgemeinder der Zeugen Jehovas.
Psychologe Dieter Rohmann berät seit circa 40 Jahren Aussteigerinnen und Aussteiger aus der Glaubensgemeinder der Zeugen Jehovas. © privat

In Hamburg werden mehrere Mitglieder der Zeugen Jehovas bei einem Amoklauf erschossen. Ein Psychologe, der Aussteiger:innen aus der Gemeinde betreut, wünscht sich ein Umdenken.

Bei einem Amoklauf in Hamburg tötet ein ehemaliger Zeuge Jehovas mehrere Mitglieder seiner früheren Gemeinde. In einem inzwischen aufgetauchten von ihm geschriebenen Buch gibt er außerdem Einblick in eine Psyche, die tief vom Glauben und einem religiösen Schwarz-Weiß-Denken geprägt ist. 

Der Psychologe Dieter Rohmann berät seit rund 40 Jahren Aussteiger:innen aus Glaubensgemeinschaften, Sekten und Kulten und wünscht sich als Reaktion auf die schreckliche Tat, dass auch bei der Religionsgemeinschaft ein Umdenken stattfindet. Auch höchst traumatische Erfahrungen derer, die sich vom Glauben abwenden, ließen sich so verhindern.

Am Mittwochabend (09.03.) sind bei einem Amoklauf durch einen ehemaligen Zeugen Jehovas mehrere Menschen ums Leben gekommen: Wie schätzen Sie diese Tat ein?

Schlimm und sehr traurig, dass so etwas passiert ist. Mit Worten kaum zu fassen und zu beschreiben. Der Mann, den die Polizei als Täter identifiziert und der sich im Anschluss an den Amoklauf das Leben genommen hat, macht – aufgrund seiner Website – auf mich den Eindruck eines intelligenten und tiefgläubigen Menschen. Wie sehr muss er sich in die Enge getrieben und in aussichtsloser Situation empfunden haben, um eine solche Tat zu begehen?

Was in keinem Fall eine Entschuldigung sein darf.

Natürlich nicht, und so etwas darf auch nie wieder passieren! Ich bin sehr traurig und empfinde tiefes Beileid mit allen betroffenen Zeugen Jehovas und Angehörigen.

Sie betreuen als Psychologe schon seit den 80er Jahren Menschen, die aus Religionsgemeinschaften, Sekten und Kulten aussteigen wollen. Mit welchen Problemen wenden sich diese Menschen an sie?

Ich habe in dieser Zeit etwa 300 Aussteiger aus der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas begleitet. Ihre Probleme sind vielseitig und individuell – wie bei Aussteigern aus anderen Glaubensgemeinschaften eben auch. Allerdings sorgt der Verlust der eigenen Familie und einstiger Freunde bei Aussteigern der Zeugen Jehovas für eine besondere Dynamik. Da geht es bei vielen um die Erkenntnis, nie um „seiner selbst willen“ geliebt worden zu sein.

Sondern?

Viele bekommen nach so einem Gemeinschaftsentzug das Gefühl, dass „Jehova“ immer an erster Stelle stand und die Abkehr vom Glauben dafür sorgt, dass einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Für die Betroffenen fühlt sich das an, wie eine Art „freier Fall“. Folge ist soziale Isolation bis hin zu sozialer Ächtung. Und für viele bedeutet das sogar den Verlust der eigenen Eltern und eines Großteils der Familienmitglieder.

In Deutschland haben die Zeugen Jehovas den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts und gelten damit als Religionsgemeinschaft ähnlich freier Landeskirchen. Ist dieser Status kritisch zu sehen?

Zumindest wird die Entscheidung von Fachleuten immer wieder kritisiert. Dabei verweise ich zum Beispiel auf eine Position des „Instituts für Weltanschauungsrecht“, das 2021 die These aufgestellt hat, dass die Voraussetzungen zur Verleihung des Körperschaftsstatus „nicht vorliegen und nie vorgelegen haben“, etwa weil die Zeugen Jehovas im Anerkennungsverfahren „falsche oder beschönigende“ Angaben gemacht hätten. Auch das hängt etwa mit der Praxis des Gemeinschaftsentzugs zusammen, der von Kritikern als „Missachtung fundamentaler Menschenrechte“ gewertet wird.

Was kann getan werden, um Ähnliches in Zukunft zu verhindern?

Der Ausstieg aus der Gemeinschaft ist bei eigentlich allen Betroffenen mit einer sehr schmerzhaften Erfahrung verbunden. Ein Verlassen der Zeugen Jehovas ist nicht nur das Wechseln von einem Raum zum nächsten. Es ist ein kompletter Wechsel von „Welten“, also von „Wertewelten“. Das überfordert viele, die sich plötzlich in dieser Situation befinden und kann sie in Ausnahmesituationen führen. Das Ergebnis ist nicht immer eine Tragödie wie aktuell in Hamburg, aber eine Form von Verzweiflung zeigt sich bei den meisten Betroffenen. Meine Hoffnung wäre daher, dass die Religionsgemeinschaft diese doch sehr rigide Vorgehensweise ändert: Zum Wohle derer, die gehen, derer, die gegangen sind und derer, die bleiben möchten.

(red)

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