Grönland: Nuuk spielt seine Trümpfe aus

Das Leben in Grönlands kleiner Hauptstadt hängt bislang von dänischen Subventionen und der Fischerei ab. Nun soll nachhaltiger Tourismus ein wichtiges Standbein werden.
Nuuk ziert sich. Die Stadt verbirgt sich unter einem undurchdringlichen Schleier: Beim Anflug zieht der Pilot die Räder plötzlich wieder ein und die Turboprop-Maschine nach oben. „Es gibt leider zu viel Nebel“, meldet er sich über Lautsprecher. „Wir müssen zurück nach Kangerlussuaq.“ Also zum grönländischen Drehkreuz eineinhalb Flugstunden nördlich, von wo der einzige Airbus von Air Greenland nach Kopenhagen pendelt.
Die kleine Maschine nach Nuuk ist mit drei Dutzend Personen voll besetzt. Auf die Worte des Piloten gibt es nicht das kleinste Murren oder Fluchen in der Kabine. Ringsherum nur stoische Gesichter: In Grönland wird der Mensch offenbar demütig angesichts der Größe der Natur. Wind und Wetter bestimmen den arktischen Alltag. Ob man zum Jagen geht oder nicht, ob man sich zum Fischen auf einer Jolle hinaus traut oder mit dem Hundeschlitten aufs Meereis – das bestimmen die Naturgewalten. Dementsprechend erleben viele Einheimische ein Durchstarten der Maschine nicht zum ersten Mal. Die Tourist:innen unter den Fluggästen nehmen die Erfahrung als Teil ihres Abenteuers Grönland. Zurück in Kangerlussuaq essen die Reisenden Moschusochsen-Burger in der Cafeteria und verziehen sich aufs Zimmer im Flughafenhotel. Morgen ist auch ein Tag.
Tatsächlich ist Nuuk nach dieser Nacht empfänglich für Besuch. Flug und Landung glücken problemlos. Am kleinen Flughafen wartet schon Magnus Biilmann Trolle, 27, in seinem Elektroauto. Zum Abschluss seines Studiums an der Copenhagen Business School kam er zurück in seine Heimatstadt, um eine Masterarbeit über nachhaltige Stadtentwicklung zu schreiben. Die Stadtverwaltung bat ihn zu bleiben. Jetzt dient er in Nuuk als Sustainability Consultant. Er hat Großes zu berichten: „Wir sind die erste nachhaltige Hauptstadt der Welt!“
Das amerikanische „Time Magazine“ nennt Nuuk unter den „World’s Greatest Places 2021“
Nuuk ist die erste Hauptstadt, die im vergangenen Jahr von der Organisation Earth Check als nachhaltiges Reiseziel nach Kriterien des Global Sustainable Tourism Council (GSTC) zertifiziert wurde. Nuuk erfüllte die strengen Umweltstandards in wichtigen Leistungsbereichen. Die Auszeichnung stärkt Grönlands Bestreben, eine führende Rolle unter den nachhaltigen Reisezielen weltweit einzunehmen. Das amerikanische „Time Magazine“ kürte die grönländische Hauptstadt auch deshalb in seiner viel beachteten Liste von 100 außergewöhnlichen Reisezielen zu den „World’s Greatest Places 2021“.
Der Katalog der nachhaltigen Errungenschaften sei lang, sagt Magnus Biilmann Trolle. „Der Strom kommt voll aus Wasserkraft. Elektroautos sind stark steuerlich begünstigt, sie laufen hier klimaneutral. 64 Prozent des Stadtgebiets sind grüne Areale.“ Parks freilich darf man sich darunter nicht vorstellen, sondern eher Flecken mit Gras und Kräutern zwischen Graniten und Gneisen. Außer ein paar verkrüppelten Nadelbäumen, die versuchsweise angepflanzt wurden und in Jahrzehnten nicht höher wuchsen als Weihnachtsbäume fürs Wohnzimmer, gibt es in Nuuks Umgebung keinen einzigen Baum. Die Häuser und Wohnblocks sind auf einer Halbinsel auf Felsen aus dem Erdaltertum gebaut.
„Wir verbrauchen auch sehr wenig Wasser und produzieren wenig Abfall“, zählt Magnus Biilmann Trolle auf. Was sicher auch daran liegt, dass es weder Landwirtschaft noch Industrie gibt, außer den Fischfabriken: Rund die Hälfte des grönländischen Staatshaushalts sind Subventionen aus Dänemark – das Geld, das Grönland mit Exporten selbst verdient, kommt fast ausschließlich aus der Fischerei, vor allem von Shrimps.
„Kopenhagen ist für uns ein Vorbild“, sagt Magnus Biilmann Trolle
„Aber wir haben den Preis nicht nur für ökologische Anstrengungen bekommen, sondern auch für die sozialen und wirtschaftlichen Pfeiler der Nachhaltigkeit“, betont Magnus Biilmann Trolle. „In den Planungen der Stadt ist der Ausgangspunkt immer die Nachhaltigkeit: Was ist wirklich verträglich mit Natur und Gesellschaft?“ Dies gelte vor allem für die Entwicklung eines umwelt- und sozialverträglichen Tourismus, den Grönland als künftiges zweites Standbein neben der Fischerei sieht.
„Kopenhagen ist für uns ein Vorbild“, sagt Magnus Biilmann Trolle. Die dänische Hauptstadt sei keine Stadt, die sich touristisch verkaufen, sondern vor allem Lebensqualität schaffen wolle: „Eine Stadt für Touristen ist eine Stadt, in der sich zunächst die Einheimischen wohl fühlen.“
In Nuuk leben zwar nur rund 19 000 Menschen, aber weil sie das Zentrum des Landes ist, bietet die Stadt mehr als die meisten vergleichbarer Größe in Europa. Es gibt eine Universität, und das Kulturhaus Katuaq, dessen wellenförmige Fassade vom flatternden Nordlicht inspiriert ist, fungiert als künstlerischer Mittelpunkt des Landes. Es bietet Ausstellungen, Theater und Konzerte, beherbergt die grönländische Kunstschule, das Stadtorchester und den größten Kinosaal des Landes. Die Buchhandlung im Stadtzentrum – allerdings die einzige – ist gut sortiert mit Fachliteratur zu Grönland und internationalen Bestsellern. Tagsüber toben die Kinder im Schwimmbad Malik, am Abend üben dort die Sportler des Clubs Qajaq ihre Kenterrollen in traditionell mit Robbenhaut bespannten Kajaks. Den Umtrunk danach nehmen sie gerne in der Skyline Bar in der obersten Etage des Hotels Hans Egede. Der Pianist spielt Jazz, der Bartender serviert Cocktails und lokal gebraute Biere der Mikrobrauerei Godthåb Bryghus, und als Besucher fühlt man sich wie in einer Großstadt.
Hinter Glas liegen vier rund 500 Jahre alte mumifizierte Leichen
Am Wochenende kann man bis drei Uhr in der Frühe bleiben und ist versucht, dann am Folgetag den Besuch im Nationalmuseum ausfallen zu lassen, obwohl man dort viel lernt. Etwa über die Kolonialgeschichte Grönlands, die 1721 begann, als der Missionar Hans Egede bei Nuuk landete und die 300 Jahre lange Verbindung zwischen dem dänischen Königreich und den Inuit begründete.
Der größte Schatz des Museums findet sich im hintersten und dunkelsten Winkel. Hinter Glas liegen vier rund 500 Jahre alte mumifizierte Leichen, die zwei Jäger vor fünfzig Jahren im Flecken Qilakitsoq unter einem Felsvorsprung entdeckten. Besonders berührend ist der Fund, den die Entdecker zunächst für eine Puppe hielten. Tatsächlich handelte es sich um einen sechs Monate alten Jungen in Fellkleidung neben seiner Mutter. Es ist möglich, dass das Baby nach dem Tod der Mutter erstickt und mit ins Grab gelegt wurde, um ihm das qualvolle Verhungern zu ersparen.
Die Gesichter der weiblichen Mumien sind tätowiert. Die Tattoos wurden lange kaum beachtet, doch seit einigen Jahren wird sich die junge Generation dieser Tradition bewusst. In den Straßen Nuuks sieht man jetzt Frauen mit strichförmigen Tätowierungen am Kinn: So drücken sie ihren Stolz und ihre Identität als moderne Grönländerinnen aus.
„Aber unser größter Trumpf ist die Natur“, sagt Magnus Biilmann Trolle. An den kurzen Wintertagen benutzen die Kinder den örtlichen Skilift gratis – eine gute Methode, um sie wegzukriegen von Fernseher und Smartphone. Wer eher Langlauf mag, steigt noch im Stadtgebiet in die Loipe ein. Gerade baut die Stadt eine neue Küstenpromenade, gesicherte Holzstege, die spektakuläre Ausblicke bieten. Es gibt auch Ruhepunkte mit Bänken und Tischen, wo Familien picknicken und Verliebte in den Sonnenuntergang blicken. Ein knapper Kilometer des Küstenstegs ist schon fertig.
Beim Fjord-Ausflug weicht der Skipper sporadischen Eisbergen aus
Vor allem aber bietet Nuuk Zugang zu einem riesigen Fjordsystem im Hinterland, rund 4000 Quadratkilometer groß. Mit einem Boot kann man 100 Kilometer weit durch die überfluteten ehemaligen Gletschertäler bis an den Rand des Inlandeises vorstoßen. Je weiter man in die Fjorde fährt, desto gewaltiger die Landschaft. Die Einheimischen nutzen die Fjorde für Ausflüge und für ungestörte Tage in ihren Wochenendhütten, die hier und da auf den Klippen thronen.
Unten am Koloniehafen, dem ältesten Stadtteil, kann man bei Nuuk Water Taxi einen Ausflug ins Fjord-Restaurant Qooqqut buchen. Der Skipper weicht sporadischen Eisbergen aus, bis er nach rund 50 Kilometern Fahrt und schon in Sichtweite des Restaurants den Motor abstellt. Die Ausflügler lassen an Angelschnüren künstliche Fische aus Eisen als Köder mehr als hundert Meter in die Tiefe sausen. „Ich garantiere euch einen Fang!“, sagt der Skipper. Tatsächlich, wenn man die Leine fünf Minuten später wieder einholt, hängen graue und orange leuchtende Leiber an den Haken: Dorsche und Rotbarsche. An Land wird der Fisch sofort filetiert und landet in der thailändisch-grönländischen Fusionsküche. Jab, die Frau von Wirt Mads Bek, stammt aus Bangkok.
Gäste können in einfachsten Hütten übernachten, und Ängstlichen leiht Bek auch ein Gewehr. „Vor zehn Jahren habe ich bei einem Gang vor das Haus ein paar Meter entfernt plötzlich drei schwarze Punkte gesehen“ – die Augen und die Nasenspitze eines Eisbären. „Ich rannte panisch ins Haus, verfolgt vom Bären.“ Doch in Nuuk, noch südlich des Polarkreises, seien Eisbären sehr selten: „Seit zehn Jahren hat sich keiner mehr blicken lassen.“
Gemeinhin stellt man sich den Garten Eden eher nicht in der Tundra vor. Aber Mads Beck sagt: „Das hier ist unser Paradies.“ Wenn es die Gäste nach Forelle gelüstet, geht er ein Stück das Tal hinauf zum Bach, der dort zum Fjord hinunterspringt. Die Wirtsfamilie weiß, unter welchen Steinen sich die Fische verstecken. „Wir fangen sie einfach mit den Händen“, sagt Beck.
Nuuk scheint eine rasante Entwicklung zu gelingen
Zurück in Nuuk, unweit der Bootsanlegestelle am Koloniehafen, arbeitet eine Frau in der Abendsonne. Johanne Tobiassen sitzt vor dem Vereinsheim des Kajakclubs und schabt mit einem Ulu, einem traditionellen Frauenmesser, von einem Robbenfell den Speck ab. Ihr Sohn hat das Tier tags zuvor von einer Jolle aus geschossen. Aus der Haut will Johanne einen Spritzschutz nähen. Ihr Mann Pavia bittet ins Vereinsheim. Er spricht nur grönländisch, aber ein Wort versteht man in seinen Sätzen: „Anorak“. Er präsentiert eine Jacke zum Überziehen aus Robbenleder, die er bei den Grönlandmeisterschaften trägt, so wie die anderen Sportler:innen auch. Die Wettkämpfer:innen üben sich in neun Disziplinen, darunter Kajak-Sprint, Harpunenwerfen und Kenterrollen.
„Unsere Söhne, 15 und 17 Jahre alt, sind Grönlandmeister“, erzählt Johanne Tobiassen stolz und lächelt. Es scheint, dass Nuuk eine rasante Entwicklung gelingt – gerade, weil sich die Menschen ihrer Geschichte bewusst sind. „Unsere Großeltern waren Fänger, haben vom Kajak aus gejagt“, sagt Johanne Tobiassen, die als Chefbuchhalterin an der Universität arbeitet. „Mit dem Club bewahren wir unsere Kultur.“

