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„Das ist gerade eine Art paralleler Pandemie“

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Von: Pamela Dörhöfer

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„In unvorhergesehenen Situationen, die die Lebensrealität vollständig verändern, nutzen Menschen oft Schuldzuweisungen“: eine „Hygiene-Demo“, Ende Mai in Frankfurt.
„In unvorhergesehenen Situationen, die die Lebensrealität vollständig verändern, nutzen Menschen oft Schuldzuweisungen“: eine „Hygiene-Demo“, Ende Mai in Frankfurt. © Rolf Oeser

Für den Mediziner und Ethiker Eckhard Nagel ist es nicht akzeptabel, wenn Ärzte auf sogenannten Hygiene-Demos auftreten oder Videokanäle betreiben. Ein Gespräch über den ärztlichen Auftrag, Vertrauen in die Medizin – und den Umgang mit der Unsicherheit in der Wissenschaft

Seit Beginn der Corona-Pandemie zweifeln „Skeptiker“ die Erkenntnisse führender Virologen an, kritisieren die Entscheidungen der Politik und die Berichterstattung der von ihnen so genannten „Mainstream“-Medien – zunächst nur in Internetvideos, seit einigen Wochen auch auf den Hygienedemonstrationen. Auch Ärzte verbreiten auf diese Weise ihre ganz eigenen Theorien.

Herr Nagel, in der „ÄrzteZeitung“ fordern Sie, dass die Kammern Position gegen Ärzte beziehen sollten, die auf sogenannten Hygienedemos auftreten. Welches Verhalten stört Sie dabei?

Ich halte es für unlauter, wenn Mediziner unter dem Deckmantel des Arztberufs auf diesen Veranstaltungen oder in Internetvideos schlicht persönliche Meinungen verbreiten. Diese Art von Instrumentalisierung des eigenen Berufsstandes zielt auf den Vertrauensvorschuss, den viele Menschen Ärzten geben und missbraucht diesen. Gleichzeitig werden Grundsätze des ärztlichen Behandlungsauftrags infrage gestellt. Denn dieser sieht vor, alle Menschen gleich und mit Würde zu behandeln. Unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem sozialen Status, ihren Ansichten. Das funktioniert aber nicht mehr, wenn ich Menschen diffamiere und das auch noch mit ärztlicher Attitüde vortrage. Deshalb ist ein solches Verhalten generell nicht akzeptabel und für die verfasste Ärzteschaft eine Provokation – und deshalb sind die Kammern gefordert.

Darf nicht auch ein Arzt als Bürger seine Meinung vertreten?

In jedem Fall! Aber hier geht es nicht um die Einschränkung der Meinungsfreiheit. Jeder kann in unserem Land äußern, was er denkt. Allerdings ist man früher davon ausgegangen, dass Ärzte sich grundsätzlich mit öffentlicher Meinungsäußerung zurückhalten sollten. Noch in den 1980er Jahren wäre es undenkbar gewesen, dass Mediziner in weißen Kitteln auf die Straße gehen und demonstrieren, etwa zu Arbeitsbedingungen und auch der Situation der Patienten. Das ist heute nicht mehr so. Aber es bekommt eine ganz andere Dimension, wenn die persönliche Auffassung zu einer generellen Verunsicherung führen kann, die die Gesundheit von einzelnen Personen betrifft. Da kann ich mich nicht ans Mikrofon stellen und meinen Ansichten – schon gar nicht, wenn diese diffamierende Inhalte haben – besonderen Nachdruck verleihen, indem ich sage, ich möchte das als Arzt mitteilen und zwar ohne die bereits erkrankten Patienten im Auge zu haben. Das habe ich jetzt wiederholt erlebt – und finde es höchst problematisch.

Ein Mediziner, der zurzeit viel Aufmerksamkeit findet, ist der Hals-Nasen-Ohren-Arzt Bodo Schiffmann. Sein youtube-Kanal „Schwindelambulanz“ hat mehr als hunderttausend Abonnenten, er ist Mitgründer der selbst ernannten Partei „Widerstand 2020“ und soll laut der Recherche-Plattform „Correctiv“ die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933 verglichen haben, das Hitler die Machtübernahme ermöglichte. Denken Sie bei Ihren Forderungen an ihn?

Unter anderem. Doch es gibt noch andere Fälle. Insbesondere im Internet sind mehrere Personen aktiv, die ihre Kritik an der übergeordneten Meinung zur Corona-Pandemie einleiten mit Sätzen wie „Ich war Leiter eines Gesundheitsamtes …“

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Eckhard Nagel © andre zelck

Sie spielen auf den Lungenarzt Wolfgang Wodarg an, der als einer der ersten Corona-Skeptiker die Ansicht vertrat, das Virus sei weitaus harmloser, als uns glauben gemacht werde. Seine Videos fanden großen Zuspruch.

Zum Beispiel. Solche Sätze sollen suggerieren: „Ich kenne mich aus, ich leite meine Ausführungen aus meiner professionellen Kenntnis ab, ich spreche mit der Autorität des Arztes zu Ihnen.“ Mit dieser Attitüde tragen zurzeit einige Kollegen etwas vor, von denen ich gar nicht gewusst habe, dass sie Kollegen sind, die vielleicht einmal Medizin studiert, aber nie oder schon lange nicht mehr als Mediziner gearbeitet haben. Das ist gerade eine Art paralleler Pandemie. Wir sollten mit ärztlicher Professionalität darum ringen, dass Wissenschaft und Medizin unterstützend wirken bei der Bewältigung der Krise. Ich habe nichts gegen unterschiedliche Ansichten – das ist in der Medizin häufig. Aber bei einem so sensiblen und in der Öffentlichkeit im Detail betrachteten Thema wie dem Umgang mit der Pandemie müssen Argumente mit großer Sorgfalt, mit der gleichen Qualität und der notwendigen Sensibilität vorgetragen werden. Andernfalls verlieren wir als Ärzteschaft erheblich an Vertrauen.

Seit Beginn der Coronakrise sind im Internet etliche Videos von „Skeptikern“ im Umlauf, darunter auch Wissenschaftler, die als renommiert gelten, wie Sucharit Bhakdi, der ehemalige Leiter des Instituts für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene der Universität Mainz. Wo verläuft Ihrer Ansicht nach die Grenze zwischen seriöser Kritik und problematischer Meinungsmache?

Typisch für die genannten Beispiele ist, dass hier Personen auftreten, die vermitteln, sie wüssten genau, wie es geht oder wie es nicht geht. Das unterscheidet sie von der Haltung auf der anderen Seite. Dort haben die Wissenschaftler immer deutlich gemacht, dass die Erkenntnisse, die sie weitergeben – und die dann zu bestimmten Konsequenzen geführt haben – vorläufige Erkenntnisse sind. Das ist nicht immer leicht zu verstehen. Ich erinnere mich an den Beitrag eines politisch Verantwortlichen, der beklagte, dass die Virologen und Epidemiologen jeden Tag etwas anderes sagen und empfehlen würden.

Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet in der Talkshow „Anne Will“ …

Sich der Wahrheit Stück für Stück anzunähern, ist Realität in der ernsthaften, empirischen Wissenschaft. Dazu gehört auch, dass diese bisweilen unsicher und schwierig in der Kommunikation sein kann. In den letzten Wochen haben wir zum Coronavirus wie im Zeitraffer unglaublich viele Erkenntnisse gesammelt. Üblicherweise nimmt dieser Prozess Jahre in Anspruch, denkt man zum Beispiel an HIV. Seriöse Wissenschaftler sollten immer darauf bedacht sein, unabhängig zu bleiben und auch keine konkreten Forderungen – schon gar keine politischen – aus ihren Erkenntnissen abzuleiten, sondern allenfalls Vorschläge zu machen. Das unterscheidet sie von jenen, die behaupten, stets zu wissen, was richtig ist.

Zur Person

Eckhard Nagel ist Professor für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften an der Universität Bayreuth. Daneben ist er Chefarzt im Bereich „Rehabilitation für Kinder und Jugendliche nach Organtransplantation an der „Sonder-Krankenanstalt Ederhof“ in Iselberg-Stronach in Österreich und Co-Präsident des chinesisch-deutschen Krankenhauses der Huazhong-Universität in Wuhan. Von 2001 bis 2016 war Eckhard Nagel, der neben Medizin auch Philosophie studiert hat, Mitglied des Nationalen und des Deutschen Ethikrates. 2005 war er Präsident des Evangelischen Kirchentages in Hannover und 2010 des 2. Ökumenischen Kirchentages in München. 

Für Menschen, die mit dem wissenschaftlichen Betrieb nicht vertraut sind, könnte der Unterschied schwer zu erkennen sein, wenn sie sich so ein Video anschauen.

Das ist keine Frage. Ich selbst habe auch solche Videos zugeschickt bekommen, zum Beispiel von Menschen, die sich in ihrer wirtschaftlichen Lage bedroht sahen. Was diese vermeintlichen Experten sagten, schien ihrer Situation entgegenzukommen. Deshalb war es so wichtig, dass die Medien von Anfang an sehr breit berichtet haben, in einer Sprache, die auch Menschen verstehen, die sich nicht professionell mit dem Thema auseinandersetzen.

Welchen Beitrag zur Aufklärung können Hausärzte und andere Ärzte leisten, mit denen die Menschen in ihrem Alltag zu tun haben?

Das ist eine wichtige Frage. Zur Zeit stehen mit Virologen und Epidemiologen Diagnostiker nicht nur aus der Medizin, sondern auch aus den Naturwissenschaften im Mittelpunkt. Doch ihre Ergebnisse müssen im Hinblick auf Patienten interpretiert werden und in Handlungsempfehlungen münden. Diese müssen nicht zwangsläufig einheitlich sein. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse für Patienten zu übersetzen, ist die Aufgabe der behandelnden Ärzte im Krankenhaus oder in der Praxis. Es ist oft die Rede von der nie dagewesenen Krise. Das bezieht sich meist auf die große gesellschaftliche Ebene. Doch es ist auch auf individueller Ebene eine nie dagewesene Krise, eine für den einzelnen Menschen. In diesem Punkt muss noch erheblich nachgearbeitet werden. Und dabei stehen dann Hausärzte und andere niedergelassene Ärzte im Mittelpunkt.

Was verstehen Sie in diesem Fall unter „Nacharbeiten“?

Ich glaube, wir überblicken noch gar nicht, wie viele notwendige Behandlungen ausgeblieben sind. In der Zahnmedizin haben 80 Prozent der vereinbarten Termine nicht stattgefunden, in der Onkologie 50 Prozent. Auch wurden in den letzten Monaten deutlich weniger Schlaganfälle und Herzinfarkte registriert als für diesen Zeitraum zu erwarten gewesen wären. Wir kennen die genauen Gründe dafür noch nicht. Auch in der Psychiatrie und in der Kinder- und Jugendmedizin gab es erhebliche Rückgänge bei den statistisch zu erwartenden Behandlungen.

Steht unser Gesundheitssystem damit vor einer weiteren gewaltigen Aufgabe?

Auf jeden Fall. Ich gehe zudem davon aus, dass in den letzten Monaten viele zusätzliche Traumata gesetzt wurden, von den abgesagten Operationen und nicht durchgeführten Kontrolluntersuchungen einmal ganz abgesehen. Diese Zeit ist auch an uns als Gesamtgesellschaft nicht spurlos vorbeigegangen und hat Patienten generell stark verunsichert.

Sind Sie der Ansicht, dass etwas falsch gemacht wurde? Oder war es nicht zu vermeiden?

Es war der besonderen Situation geschuldet. Wenn zentrale Entscheidungen getroffen werden, sind diese Folgen nicht zu vermeiden. Dabei lief es in Deutschland noch relativ gut, weil durch den Föderalismus differenzierter agiert werden konnte als in anderen Ländern. Aber jetzt geht es darum, Bedürfnisse und Notwendigkeiten schnell wieder aufzunehmen und nachzuarbeiten – und nicht mehr aus Sorge vor einer Infektion Untersuchungen und Behandlungen, die erforderlich sind, zu unterlassen.

Was lässt sich für die Zukunft daraus lernen?

Sollte es eine zweite Welle geben, wird es durch den Erkenntnisgewinn möglich sein, strategisch gezielter zu reagieren. Das könnte zum Beispiel bedeuten: Wenn in einer Gruppe eine Infektion auftritt, muss man nicht gleich die gesamte Gruppe isolieren, wie es am Anfang passiert ist. Auch durch genaues Hinschauen und regelmäßiges Testen lässt sich Sicherheit gewinnen. Mit dem Wissen, das wir jetzt haben, sollten wir strukturiert umgehen und auch in positivem Sinne aus Erfahrungen lernen. Im Nachhinein sieht man, dass manche Einschränkungen nicht nötig waren, das ist typisch für akutes Handeln in Unsicherheit. Aber insgesamt können wir in Deutschland sehr zufrieden sein, wir haben die Pandemie gut in den Griff bekommen. Es ist nur wichtig, nicht im Status quo zu verharren.

Das „akute Handeln in Unsicherheit“, von dem Sie sprechen, ist das Gegenteil zu Verschwörungstheorien, die hinter allen Maßnahmen System und ein übergeordnetes Interesse vermuten. Was denken Sie, warum glauben Menschen an so etwas?

In unvorhergesehenen Situationen, die die Lebensrealität vollständig verändern, nutzen Menschen oft Schuldzuweisungen. Man sieht das auch bei einschneidenden Diagnosen wie Krebs oder Herzinfarkt. Die zentrale Frage lautet dann stets: Warum? Warum ich? Es werden dann viele Bezüge hergestellt, die manchmal auch krude sein können. Es fällt uns Menschen oft sehr schwer zu akzeptieren, dass wir uns in Unsicherheit bewegen und generell nicht alles erklären können.

Interview: Pamela Dörhöfer

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