Im gefährlichsten Land der Welt

In El Salvador wird so viel gemordet wie sonst nirgendwo auf dem Planeten. Die Gewalt hat hier eine lange Tradition und ist auch das Ergebnis von Repression und politischem Versagen.
Von Toni Keppeler
Es führt nur eine Straße nach Buenos Aires, vorbei an der Polizeistation gleich am Eingang des Stadtviertels: Ein Häuschen, in den Nationalfarben Blau und Weiß gestrichen, verschanzt hinter einer Mauer aus Sandsäcken. Drei hohe Schwellen quer über die Straße und mit Beton gefüllte Fässer zwingen zum Zick-Zack-Fahren im Schritttempo. Von den Polizisten ist nichts zu sehen. Spätestens hier müssen die Scheiben des Autos heruntergekurbelt sein, das sagt ein ungeschriebenes Gesetz. Die Mitglieder der Mara Salvatrucha wollen sehen, wer in ihr Territorium kommt. Man kann sie als Ortsfremder nicht erkennen; jeder junge Mann, jeder Bub auf der Straße könnte ein Mitglied dieser Bande sein. Wer in Buenos Aires wohnt, weiß genau, wer dazu gehört. Das ist überlebenswichtig. Man darf so einem nicht krumm kommen.
Buenos Aires ist das letzte Stadtviertel, bevor der Großraum von San Salvador ins Ländliche ausfranst. Hütten aus Holz, Wellblech oder Lehmziegeln sind locker über die Hügel verstreut, dahinter beginnen die Maisfelder an steilen Hängen. Gut 2000 Menschen wohnen hier, etwa 50 davon gehören zu Mara Salvatrucha, die man hier nur kurz MS nennt. Der Ort gilt als besonders problematisches Viertel in Mejicanos, Mejicanos als besonders gewalttätiger Vorort der Hauptstadt San Salvador. Das ganze Land ist derzeit das weltweit gefährlichste außerhalb von Kriegsgebieten. 6656 Morde gab es im vergangenen Jahr, bei einer Bevölkerung von nur knapp über sechs Millionen. Das macht 103,1 Morde pro 100000 Menschen im Jahr. In Deutschland liegt die entsprechende Kennzahl bei 0,4 (in 2014), und selbst das vom Drogenkrieg geschüttelte Mexiko war im vergangenen Jahr mit einer Quote von 15,2 ein vergleichsweise sicheres Land.
Die Regierung macht für die große Mehrheit der Morde die Banden der Maras verantwortlich, aufgeschlüsselte Täterstatistiken gibt es nicht. Nur soviel ist klar: Die Zahl der Tötungsdelikte hat in den ersten drei Monaten von 2016 noch einmal dramatisch zugenommen. Wenn es so weitergeht, werden am Ende des Jahres rund 10000 Menschen eines gewaltsamen Todes gestorben sein.
Elmer Melara wohnt in Buenos Aires und ist das, was man in El Salvador einen „hacelo todo“ nennt: Einer, der alles mögliche macht, um sich durchs Leben zu schlagen. Er hat schon in einer Textilfabrik gearbeitet, ein Stück Land für den Anbau von Mais und Bohnen gepachtet, in seinem Garten ein Becken gebaut, um darin Barsche zu züchten. Seit einem Monat ist er Bäcker, spezialisiert auf Semita, ein süßes Brot mit einer Füllung aus Zuckerrohr-Melasse. Seine Frau Evelyn verkauft es auf der Straße. Melara ist 30, klein und kompakt. Das Paar wohnt zusammen mit der achtjährigen Tochter Eileen und dem vierjährigen Sohn Jesús Isaías in einem typischen Landhaus am Hang. Zwei Zimmer, eine Latrine im Garten, der Backofen steht auf der Terrasse.
Mit seiner Adresse findet er keinen Job
Elmer Melara gehört nicht zur MS, und solche jungen Männer haben es in Buenos Aires besonders schwer. Er lebt zwischen den Fronten: Er ist der Bande suspekt und erst recht der Polizei. Die glaubt, dass junge Männer in Buenos Aires Mitglied der Mara sein müssen. Bei einer Firma braucht er sich erst gar nicht zu bewerben; seine Adresse ist ein sicherer Ablehnungsgrund.
Vor 15 Jahren ist er aus Zacamil – einem anderen Quartier von Mejicanos – hierher gezogen. „Ich hatte Glück“, sagt er. „Auch Zacamil ist ein Gebiet der MS.“ Rund 40000 Mitglieder hat der Banden-Verband in ganz El Salvador. Ihre Gegner vom Barrio 18 – meist nur „18“ oder „die Nummer“ genannt – sind etwa halb so zahlreich. Beide sind keine straff organisierten Verbrechersyndikate, sondern eher lockere Netzwerke aus örtlichen Gruppen, die sich harmlos „clica“ – Clique – nennen.
Wäre Melara aus einem Gebiet der 18 nach Buenos Aires gezogen, hätte er kaum mehr lang zu leben gehabt. So aber wurde er gleich angequatscht. „Sie haben mir schicke Klamotten versprochen, Geld, jedes Mädchen, das ich haben wolle. Aber ich wollte nicht.“ Nach dem ersten erfolglosen Anwerbeversuch sei er nur ein bisschen herumgeschubst, nach dem zweiten dann böse verprügelt worden. „Ich habe mich drei Monate lang nicht aus dem Haus getraut und war nicht einmal in der Schule.“ Man musste ihn erst kennenlernen, sagt er, als wären Prügel eine normale Art, jemanden kennenzulernen. „Ich habe die Jungs von der MS nie abgelehnt, ich habe nur Distanz gehalten.“
Probleme gibt es auch mit der Polizei. Die ist nicht dauerhaft präsent in Buenos Aires. Aber wenn sie kommt, dann fällt sie mit einer Hundertschaft ein, verstärkt von tief fliegenden Helikoptern mit Bordschützen in den offenen Türen. Bei einer der letzten Razzien hatte Melara noch sein Maisfeld, war gerade auf dem Heimweg, die Machete in der Hand. Da kam ihm ein Trupp Polizisten entgegen, mit schusssicherer Weste, Stahlhelm, Gesichtsmaske und Sturmgewehr. „Einer hat mich mit dem Gewehrkolben niedergeschlagen. Ich lag auf dem Boden und sie wollten wissen, warum ich mit der Machete unterwegs war. Ich sagte, ich komme von der Arbeit auf dem Feld, aber sie glaubten mir nicht. Sie haben mich schließlich nach Hause geführt und dort alles durchsucht. Dann sind sie wieder gegangen.“
Erst am Abend hat Melara erfahren, dass bei dieser Razzia „El Diablito“ (das Teufelchen) erschossen worden ist. El Diablito war der „Palabrero“ der örtlichen Clique. Das Wort aus dem Mara-Slang lässt sich mit „der das Wort führt“ übersetzen und genau das hatte El Diablito getan: Er war der uneingeschränkte Befehlshaber seiner Clique und entschied über Leben und Tod im Quartier. Als die Polizei in Buenos Aires einfiel, war er zu Hause bei seiner Frau und seiner wenige Monate alten Tochter. Er versuchte noch, über den Hinterhof zu fliehen und wurde erschossen, als er dort über die Mauer stieg. So jedenfalls stellt es seine Frau dar. Die Polizei spricht nach solchen Toten von „Schusswechseln“.
Ursprünge in den USA
Melara kann sich an viele Palabreros in Buenos Aires erinnern. Da war „El Morro“ (der Hügel): „Den hat die 18 zerstückelt und verbrannt.“ Danach habe El Morros Bruder übernommen, „aber auch der ist längst tot“. El Diablito war der sechste tote Palabrero in den 15 Jahren, die Melara im Quartier wohnt. Heute herrscht „The Little One“.
Englische Spitznamen sind bei Maras beliebt. Sie erinnern an die Wurzeln dieser Banden in den USA. Barrio 18 ist in den 80er Jahren in den Latinovierteln von Los Angeles entstanden und beherrschte die Gegend um die 18th Street. Auch die Mara Salvatrucha kommt aus dem Los Angeles jener Jahre. Damals wütete in El Salvador ein Bürgerkrieg, Hunderttausende flohen in den Norden. Allein in Los Angeles leben rund 400000 Salvadorianer, die meisten in den Armenvierteln. Die waren damals unter der Kontrolle von schwarzen Streetgangs. Barrio 18 und die Mara Salvatrucha waren zunächst so etwas wie Selbstverteidigungsgruppen der Latinos, stiegen dann aber schnell selbst ins Drogengeschäft ein.
Nach dem Ende des Bürgerkriegs 1992 wurden sie zu Tausenden in die alte Heimat deportiert. Ganz egal, was sie sich in den USA zu Schulden hatten kommen lassen – ob Drogenhandel, Raub oder Mord – auf dem internationalen Flughafen von El Salvador waren sie freie Menschen. Und sie waren allein, ohne Familie. Aber sie fanden schnell neue Freunde. In den zu Slums gewordenen ehemaligen Flüchtlingslagern des Bürgerkriegs hatten sich Jugendliche, die kaum mehr als zwei chaotische Jahre Schule hinter sich gebracht und keine Chance auf dem Arbeitsmarkt hatten, zu kleinkriminellen Gangs zusammengeschlossen. Auch sie nannten sich „Maras“ – das Wort hatte früher die Bedeutung von „Freundeskreis“. Sie waren viel harmloser als die Deportierten, aber sie lernten schnell.
Es dauerte eine Weile, bis sich die beiden Mara-Verbände aus den USA als Quasi-Monopolisten durchsetzten. Nach Buenos Aires kam die MS in der zweiten Hälfte der 90er Jahre. Dort gab es vorher eine kleine lokale Mara und dazu eine Bande von Drogenhändlern, die den Markt von Mejicanos kontrollierte. Die lokale Mara wurde von der MS langsam aufgerieben, mit den Drogenhändlern gab es einen offenen Showdown. Bei der Stunden dauernden Schießerei starben alle Drogenhändler und auch ein paar Mitglieder der MS. Seither haben die Salvatruchas das Quartier nicht mehr aus der Hand gegeben.
Der Anthropologe Juan José Martínez, der ein Jahr lang mit einer MS-Clica zusammengelebt hat, sieht die Banden „als Täter und Opfer zugleich“. Die rechten Regierungen hatten auf Maras immer nur mit Repression reagiert und machten die jungen Männer zu Teufeln, als das Problem noch mit Sozialpolitik zu lösen gewesen wäre. Die Banden wurden in den Untergrund gedrängt und dort immer krimineller. In ihren Quartieren werden sie deshalb gefürchtet – und gleichzeitig vor der Polizei geschützt. Es sind eben auch Söhne, Enkel oder Neffen. Die seit 2009 regierende Linke versuchte es zunächst mit geheimen Verhandlungen und erreichte mit Hafterleichterungen für gefangene Palabreros eine Waffenruhe. Doch als die Vereinbarung öffentlich wurde, ruderte die Regierung zurück; die Waffenruhe hielt nur ein gutes Jahr. Immerhin ist in diesen Monaten die Mordrate drastisch gesunken.
Seither steigt sie um so dramatischer – und die Gewalttaten werden brutaler. Der Auftakt einer endlosen Serie von Massakern war der Überfall einer Clique der 18 auf einen Stadtbus. Am Abend des 20. Juni 2010 wurde der Fahrer an einer Haltestelle in Mejicanos erschossen, die Bandenmitglieder vergossen Benzin im Bus und zündeten es an. Passagiere, die durch eingeschlagene Fenster flüchteten, wurden auf der Straße erschossen. 14 Menschen starben. Die Buslinie kreuzt Territorien von Barrio 18 und von der Mara Salvatrucha. Die Besitzer aber bezahlten nur Schutzgeld an die MS.
Der Wechsel vom Territorium eines Bandenverbandes in das ihrer Feinde ist nicht nur für Busfahrer gefährlich. „Bei uns hat es schon Jahre kein Familienfest mehr gegeben“, sagt Elmer Melara. Sein Vater wohnt im Gebiet der 18 und traut sich nicht ins MS-beherrschte Buenos Aires, der Sohn wiederum wagt es nicht, den Vater zu besuchen. Genauso geht es Onkeln, Tanten und Geschwistern – die Maras haben mit ihrer Herrschaft die traditionelle Sozialstruktur der Großfamilie zerstört.
Präsident Salvador Sánchez Cerén, im Bürgerkrieg einer der ranghöchsten Guerilleros, hat die Sicherheitskräfte vor einem guten Jahr aufgefordert, in Zweifelsfall schneller zu schießen. Niemand werde dafür zur Verantwortung gezogen. José Miguel Fortín nennt dies einen „Freibrief“ für außergerichtliche Exekutionen. Der gelernte Psychiater war bis Ende 2015 Chef der Gerichtsmedizin. Seit er zurückgekehrt ist in seine Praxis, redet er frei über seine Erfahrungen.
Das erste nachweislich von der Polizei begangene Massaker fand am 26. März 2015 auf dem Landgut San Blas ein paar Kilometer südlich von San Salvador statt. Laut Polizeibericht wurden die Beamten bei einer Streife beschossen und hätten zurückgeschossen. Am Ende waren acht junge Männer tot. Fortín fasst das Ergebnis der gerichtsmedizinischen Untersuchung der Leichen so zusammen: „Alle wurden aus kurzer Distanz von hinten erschossen, mit einem Einschusskanal von oben nach unten im Kopf. Das weist darauf hin, dass die Opfer knieten. So etwas nenne ich eine Exekution.“ Keinem der Toten konnte eine Verbindung zu Maras nachgewiesen werden. Inzwischen untersucht das Büro des staatlichen Menschenrechtsbeauftragten zwölf von Sicherheitskräften begangene Massaker.
Fortín ist davon überzeugt, dass die Eskalation der Gewalt mit einem anderen „Freibrief“ begann: Am 15. März 1993 veröffentliche eine von der UNO bestellte Wahrheitskommission ihren Bericht über die Verbrechen des Bürgerkriegs. Mehr als 90 Prozent der darin aufgeführten Grausamkeiten wurden von staatlichen Sicherheitskräften begangen. Am Tag nach der Veröffentlichung erließ das Parlament eine Generalamnestie für alle diese Kriegsverbrechen. „Wenn der Staat ganz offiziell auf die Verfolgung schlimmster Straftaten verzichtet“, sagt Fortín, „dann ist das ein Signal an die Bevölkerung: Wenn du Gerechtigkeit willst, nimm sie selbst in die Hand.“ Und weil über 90 Prozent der Morde nie aufgeklärt werden, greife man schnell zur Pistole. Waffen gibt es genug im Land: Jahr für Jahr werden mit dem Import von Pistolen und Gewehren zwei Milliarden US-Dollar umgesetzt.
Howard Cotto ist oberster Polizist von El Salvador. In seinen jungen Jahren war er bei der Guerilla. Als nach dem Krieg die paramilitärische Nationalpolizei aufgelöst und eine „Zivile Nationalpolizei“ geschaffen wurde, war er ein neuer Polizist der ersten Stunde. Inzwischen residiert er im Hauptquartier am Rand des Zentrums von San Salvador. Das Gebäude heißt im Volksmund „El Castillo“ und wirkt tatsächlich wie eine Trutzburg, gesichert von Männern und Frauen in schwarzer Uniform, ausgestattet mit schusssicherer Weste und Sturmgewehr. Im Bürgerkrieg war El Castillo ein berüchtigtes Folterzentrum.
„Ich bin nicht Polizist geworden, damit noch einmal das geschieht, gegen das ich in der Guerilla gekämpft habe“, sagt Cotto. Aber man müsse verstehen: „Ich muss meine Institution verteidigen und bis heute ist kein Polizist wegen einer außergerichtlichen Exekution verurteilt worden.“ Natürlich, es gebe interne Untersuchungen. Aber für Straftaten sei die Staatsanwaltschaft zuständig. Der Polizeichef redet sanft und wirbt um Verständnis. „Man hat das Problem der Sicherheit immer bei der Polizei abgeladen“, sagt er. Die Regierung hätten immer nur Repression verlangt und da sei die Polizei sehr effektiv. „Wir haben die Gefängnisse überfüllt und trotzdem hat die Gewalt nur zugenommen.“ Was man brauche, sei Prävention, aber die sei nicht Aufgabe seiner Beamten. „Wir brauchen dazu die Bürgermeister, die Kirchen, die Vereine. Überall, wo es ein funktionierendes Gemeinwesen gibt, gibt es kaum Probleme mit den Maras.“ Ein schlüssiges Konzept aber hat die Regierung nicht. Im Gegenteil. Erst Ende März hat Vizepräsident Oscar Ortiz „noch härtere Monate“ angekündigt. Dass ganze Hundertschaften in Problemquartiere wie Buenos Aires einfallen, „das wird es weiterhin geben“, sagt Cotto. „Und dabei wird es auch Tote geben.“
Für Elmer Melara heißt das: Es wird sich nichts ändern. Er wird sich weiterhin an die ungeschriebenen Gesetze der Mara halten. Er wird seine Kinder in keine Schule schicken, die im Gebiet der 18 liegen. Nach neun Uhr am Abend wird niemand sein Haus verlassen, wegen der von der MS verhängten Ausgangssperre. Und wenn ein Kind zu später Stunde einen Arzt brauchen sollte, wird Melara keinen zu sich rufen. Er wird mit dem Palabrero telefonieren; der schickt dann seine Jungs und die bringen das Kind aus dem Quartier. Melara wird auch Schutzgeld bezahlen. Sie haben ihn schon besucht und gefragt, wie die Bäckerei so laufe. Sie sagten, sie werden wiederkommen und ihm mitteilen, was er monatlich zu bezahlen habe.