Jugend in Gaza: Zukunft zu Hause

Viele junge Menschen in Gaza haben das Gebiet noch nie verlassen. Umso wichtiger ist es, dass sie vor Ort eine Perspektive bekommen.
Gaza - Männer in schmutzigen Hosen, mit Slippers an den Füßen und Mütze auf dem Kopf, eilen auf den Grenzposten zu. Es ist ein Nachmittag Anfang März, der Klee blüht gelb an den Ackerrändern. Mitten im ländlichen Frühlingsidyll im Süden Israels erhebt sich der Grenzposten Erez: Ein rundum kameraüberwachter, massiver Stahlbetonbau, der Israel vom Gazastreifen trennt.
Die Männer kehren von der Arbeit in Israel zurück nach Hause. Sie tragen Plastiksäcke mit Kaffeepackungen, Chips, Konserven und Hausrat, um sie ihren Familien nach Gaza zu bringen. In Gaza gäbe es das alles auch zu kaufen. Es wird aber aus Israel importiert, die in Gaza regierende Hamas schlägt noch mal Steuern drauf. Obwohl mehr als die Hälfte der Menschen in Gaza laut UN-Angaben in akuter Armut lebt, müssen sie für manche Güter des täglichen Bedarfs hier mehr zahlen als Mittelständler:innen in Baden-Württemberg. Autos zählen zu den Luxusgütern, Gebrauchtwagen sind sogar so teuer wie nirgends sonst auf der Welt. Fahrräder und Mofas dienen für den Weg zur Arbeit als Ersatz, für mittelschwere Transporte und in der Landwirtschaft müssen nicht selten Esel herhalten.
Die vielen Kriege, die seit 15 Jahren anhaltende Blockade des Gazastreifens lassen es nicht zu, dass sich die Wirtschaft in Gaza erholen kann. „Gaza lebt unter chronischem Stress“, so formuliert es Loai Alhaddad, ein Entwicklungshilfe-Koordinator in Gaza.
In einem Flüchtlingslager in Strandnähe schleppt ein alter Mann einen schweren Sack Weizenmehl auf seinen Schultern nachhause. Auf dem Sack ist ein UN-Logo zu sehen, der Mann hat sich den Familienanteil an den Hilfslieferungen des UN-Hilfswerks UNRWA gesichert. Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung in Gaza sind laut UN-Angaben von humanitären Leistungen abhängig. Ein Jahr nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine dürfte diese Zahl noch höher liegen. Allein die Preise für Weizen und Zucker sind in den vergangenen Monaten um 23 Prozent gestiegen.
Theoretisch könnte Gaza vieles selbst produzieren und damit unabhängiger von Importen werden. Es gibt ausreichend junge, motivierte Arbeitskräfte und es gibt Grundstücke, um Betriebe zu gründen. Es fehlt aber an Kapital. Die letzte militärische Eskalation im Mai 2021 raubte vor allem vielen Einzelunternehmer:innen die Existenz, zahlreiche Bürohäuser samt Einrichtung wurden zerbombt. Die Arbeitslosigkeit liegt bei den Unter-Dreißig-Jährigen über 60 Prozent.
„Gaza lebt unter chronischem Stress.“
Hilfe für Landwirte in Gaza: Resistente Pflanzen sollen die Ernte sichern
Unter der jungen Generation gebe es viele, die etwas aufbauen wollen, sagt Alhaddad. Obwohl der Anteil der Kriegstraumatisierten in dieser Altergruppe hoch ist, suchen sie sich Wege, um selbst ein Unternehmen zu gründen und auch für andere neue Jobs zu schaffen. In der Not sind sie gezwungen, erfinderisch zu sein.
Einer von ihnen ist Walid Sultan. Der Agrarwissenschafter aus Gaza, der in Japan studiert hat, bringt jungen Kleinbauern und -bäuerinnen im Norden des Gazastreifens bei, wie man Ackerpflanzen robuster macht. In einem an ein Gewächshaus angeschlossenes Klassenzimmer sitzen rund 30 junge Menschen gebückt über kleinen Setzlingen. Von Sultan und anderen Lehrern erfahren sie, wie man Wassermelonenpflanzen veredelt. „Wir haben herausgefunden, dass Wassermelonen viel widerstandsfähiger sind, wenn man sie mit Kürbissen kreuzt“, berichtet Sultan. Die Techniken, die er den Landwirt:innen beibringt, könnten einigen von ihnen das ökonomische Überleben sichern: „Bei der veredelten Sorte sind die Ernteausfälle geringer, sie braucht auch keine Pestizide und weniger Dünger“, sagt Sultan. In Gaza, wo Einfuhren von Düngemitteln und Pestiziden aus Israel streng kontingentiert sind, ist das entscheidend. Die neue Sorte sei auch besser gerüstet für Wetterturbulenzen, die infolge der Klimakrise in Zukunft noch häufiger auftreten werden.
Nach dem letzten großen Sturm im Jahr 2018, der viele Pflanzen entwurzelt hat, erwies sich die Melonen-Kürbis-Variante als windresistenter als herkömmliche Wassermelonenpflanzen, wie eine Mitarbeiterin des Gewächshauses sagt. Das kann die Landwirt:innen im Ernstfall von einem Totalausfall der Ernte bewahren.
Es sind simple Projekte, die vor allem auf kleine und mittelständische Betriebe im Gazastreifen abzielen, die im Rahmen der Tarabot-Schiene des UN-Entwicklungsprogramms UNDP gefördert werden. In der patriarchalen Gesellschaft in Gaza gehören Frauen dabei zu einer wichtigen Zielgruppe. Im „Gaza Kultur- und Entwicklungszentrum“ in Beit Lahia nahe der israelischen Grenze hat eine Gruppe junger Palästinenser:innen eine Ausbildungsstätte aufgebaut: Junge Menschen, vor allem Schulabbrecher:innen, sollen hier trainiert werden, alte Elektrogeräte wieder funktionsfähig zu machen. Ein Schwerpunkt des Projekts ist es, gezielt Frauen in der Reparatur von Handys, Tablets, Druckern und Solaranlagen auszubilden. Das sichert nicht nur den Betroffenen ein eigenes Einkommen, sondern den Handynutzer:innen auch eine Alternative zum Neukauf, wenn ein altes Gerät defekt ist.
Für weibliche Handynutzerinnen in Gaza mache es einen Unterschied, ob es Frauen gebe, die das Gerät reparieren könnten oder nicht, erklärt eine der Ehrenamtlichen des Zentrums in Beit Lahia. „Wenn mein Handy kaputt ist, bringt mein Mann es zum Mechaniker und schaut ihm stundenlang auf die Finger, bis er fertig ist“, sagt die 30-Jährige. Das Misstrauen, dass private Fotos in falsche Hände gelangen könnten, sei bei reparierenden Frauen geringer. Außerdem könnten die Frauen diese Jobs auch von zu Hause aus erledigen, falls die Familie ihnen verbietet, außer Haus zu arbeiten. Da kommen dann die Nachbarinnen mit ihren kaputten Smartphones vorbei. „Es ist nun mal eine sehr konservative Gesellschaft“, sagt Najla Shawa, eine der Mitbegründerinnen des Trainingszentrums.

Das Ziel ist, die Absolvent:innen der Lehrgänge so bald wie möglich in den Markt zu integrieren. Shawa macht sich keine Illusionen, dass das schwierig werden könnte. „Der Markt in Gaza ist in einem sehr schlechten Zustand“, sagt sie. „Viel ausländische Hilfe fließt in humanitäre Unterstützung. Das ist wichtig, sie hilft uns in der Gegenwart“, sagt Shawa. „Wir müssen aber auch etwas tun, damit wir in Zukunft nicht noch schlechter dastehen als jetzt.“
Die Tarabot-Schiene der UNDP wird auch von mehreren europäischen Staaten finanziell unterstützt, unter anderem von Österreich. „Wenn mehr als 80 Prozent der Menschen in Gaza von internationaler Hilfe abhängig sind, reicht es nicht, sie für zukünftige Schocks resilienter zu machen“, sagt Astrid Wein, Leiterin des österreichischen Vertretungsbüros in Ramallah. Man müsse den Menschen auch die Ressourcen geben, um wirtschaftlich wachsen zu können, glaubt Wein. „Nur so können sie langfristig weniger abhängig von fremder Unterstützung werden“.
15 Jahre sind vergangen, seit Israel eine Blockade über den Gazastreifen verhängt hat. Seither sind die Menschen hier de facto eingesperrt – abgesehen von jenen Privilegierten, die eine Ausreisebewilligung nach Israel erhalten oder genügend Geld aufbringen können, um über den Grenzübergang Rafah nach Ägypten ausreisen zu können. Die allermeisten Kinder und Jugendlichen haben nie etwas anderes gesehen als Gaza – dabei erstreckt sich das Gebiet nur über eine Fläche, die ungefähr halb so groß ist wie Hamburg.
Blockade im Gazastreifen: Einfuhrkontrollen erschweren oft den Start von Projekten
Die Blockade bewirkt auch, dass alle Einfuhren nach Gaza streng kontrolliert werden. Jeder Kleinbetrieb, der Werkstoffe oder Anlagen aus dem Ausland braucht, ist diesem Kontrollregime ausgeliefert. Manchmal muss man wochenlang auf eine Einfuhrerlaubnis warten, dann wiederum wird sie abgelehnt.
„Es hat sechs Monate harte Verhandlungsarbeit gebraucht, bis wir grünes Licht für die Hühner bekommen haben“, sagt Saoud Shawa, veterinärbiologischer Berater eines Hühnerzuchtprojekts nahe Khan Younis im Süden des Gazastreifens. Es ist die erste Farm in Gaza, auf der befruchtete Hühnereier für kleine Zuchtbetriebe produziert werden. Hühnerfleisch ist das am häufigsten gegessene Fleisch im Gazastreifen, 36 Millionen Hühner werden hier pro Jahr konsumiert. Der Großteil davon stammt aus Israel. „Damit sind wir allen Preis- und Angebotsschwankungen einfach ausgeliefert“, sagt Shawa. Nun will man unabhängiger von Importen werden. Um die Zucht zu starten, musste aber erst eine Ladung Hühner aus Israel ins Land geholt werden. Die Erlaubnis dafür zu erhalten, erforderte ein halbes Jahr harter Arbeit.
Die Blockade bremst auch den Wiederaufbau. Viele Kleinbetriebe, die nach dem Gazakrieg im Jahr 2014 wieder langsam Boden unter den Füßen gewannen, mussten im Frühjahr 2021 erleben, wie ihre Betriebe samt Ausstattung erneut zerbombt wurden.
Immerhin bringen diejenigen, die das Glück haben, in Israel arbeiten zu dürfen, mehr Geld nach Hause, als sie im Gazastreifen verdienen könnten. Im Januar waren es knapp 19.000 Arbeiter aus Gaza, die in Israel ihren Lohn verdienten, vorwiegend auf Baustellen und als Erntehelfer. Es ist paradox: Während die neue ultrarechte Regierung in Israel gegen die palästinensische Bevölkerung im Westjordanland und in Ostjerusalem mit harter Hand vorgeht, verhält sie sich vergleichsweise offen, was den von der radikalen Hamas regierten Gazastreifen betrifft. Derzeit werden so viele Einreisegenehmigungen erteilt wie seit 20 Jahren nicht mehr. 53.000 waren es im Januar, im Jahr davor lag der Monatsschnitt bei nur 35.000 Bewilligungen.
In Gaza geht nun aber die Angst um, dass sich das bald wieder ändern könnte. Seit einigen Monaten heizt sich die Lage in Israel und den Palästinensergebieten wieder auf. Die Bilder der toten Palästinenser, die nach jedem Antiterroreinsatz der israelischen Armee in Nablus oder Dschenin verbreitet werden, dienen den Terrorgruppen Hamas und Islamischer Dschihad als Anlass, um Macht zu demonstrieren – in Form von Raketenbeschuss auf Israel.
Wenn in knapp zwei Wochen der Fastenmonat Ramadan beginnt, werden wieder viele Gläubige nach Jerusalem zur Al-Aksa-Moschee pilgern. Sie treffen dort auch auf radikale jüdische Siedler und auf fanatische junge Palästinenser, die glauben, mit Steinen die israelische Besatzung bekämpfen zu können. Wenn die israelische Polizei, die nun von einem rechtsextremen Minister gelenkt wird, wieder mit überschießender Gewalt auf die Massen losgeht, könnte die Hamas in Gaza das zum Anlass für den Start einer neuen militärischen Eskalation nehmen. Sie dauert dann vielleicht nur ein paar Tage. Die Menschen in Gaza werden aber noch jahrelang darunter leiden. (Maria Sterkl)