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Burgund statt Paris: Alles so schön grün hier – und so günstig

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Von: Stefan Brändle

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Das Departement Nièvre bietet Umzugswilligen eine Woche Aufenthalt, damit sie ein Haus und einen Job suchen können. Thierry Zoccolan/AFP
Das Departement Nièvre bietet Umzugswilligen eine Woche Aufenthalt, damit sie ein Haus und einen Job suchen können. © Thierry Zoccolan/AFP

Paris verliert für viele Menschen ihren Reiz – zu groß, zu laut, zu teuer. Sie bauen sich jenseits der Metropole eine neue Existenz auf.

Paris – Nichts stört die Ruhe in Montapas, einmal abgesehen vom Vogelgezwitscher. Buchfinken, glaubt Edvige Lagain. Die ehemalige Lehrerin aus der Großstadt kennt sich allmählich aus mit der Fauna und Flora hier im westlichen Burgund in Frankreich. Sie, die Städterin, die in einem gesichtslosen Schlafort des Pariser Ballungsraumes unterrichtete, begeistert sich noch ein Jahr nach ihrem Umzug an der Lebensqualität ihres neuen Wohnortes. Von ihrem Fenster aus geht der Blick über eine idyllische, sattgrüne Heckenlandschaft. Nur die Kühe stören Edvige. Ach ja? „Natürlich nicht die Kühe an sich“, lacht die 47-jährige Veganerin. „Aber der Gedanke, dass sie alle mal geschlachtet werden, ist mir unerträglich.“

Wer ein Haus in Montapas bezieht, muss renovieren.
Wer ein Haus in Montapas bezieht, muss renovieren. © Stefan Brändle

Montapas liegt in der Nièvre, einem der ärmsten französischen Departements. Sie liegt zu hoch für den Ackerbau oder auch für den Weinbau, der dem übrigen Burgund zum Wohlstand verhilft. Bleibt die Rinderzucht.

Frankreich: Viele Gegenden leiden unter Abwanderung

Auch die Menschen sind bisher weggezogen: Die Nièvre leidet seit Jahrzehnten unter der Abwanderung. Von 350 000 zum Ende des 19. Jahrhunderts ist die Einwohnerzahl auf mittlerweile 200 000 gesunken. Überall in dem gewellten Land stößt man auf verlassene Höfe mit eingefallenen Dächern.

Auch im Dorfzentrum von Montapas stehen viele Häuser leer, ihre Fassade blättert ab. Die Post, der einzige Laden im Ort, und das Café sind geschlossen. Von einst 1000 Einwohnern, viele in – heute geschlossenen – Kleinfabriken der Umgebung beschäftigt, sind 300 geblieben. Tristesse eines verarmten Ortes, den die moderne Zeit vergessen hat? Edvige winkt ab: „Ich habe hier mehr Freunde und ein sozialeres Leben als früher in der anonymen Pariser Banlieue“, sagt die Ex-Lehrerin. „Hier helfen einem die Nachbarn; man fährt zusammen in die nächste Stadt, man trifft sich abends im Vereinslokal.“

„Endlich Ruhe“: Edvige und Christophe Lagain. stefan brändle (5)
„Endlich Ruhe“: Edvige und Christophe Lagain. stefan brändle (5) © Stefan Brändle

Ihr Ehemann Christophe, Typ Brummbär, sagt, er brauche keine sozialen Kontakte und fühle sich in Montapas ebenfalls wohl. „Hier habe ich meine Ruhe. Der Pariser Stress, die Pandemie, die Gelbwestenkrisen und jetzt sogar der Ukraine-Krieg – das ist hier weit weg“, bemerkt der 49-jährige Verkäufer. Im April 2019 hatte er im Stadtzentrum von Paris gerade eine neue Stelle als Souvenirhändler angetreten, als die Kathedrale Notre-Dame in Flammen aufging. Sein Job war damit auch zu Ende. „Das gab mir den Rest“, sagt Christophe. „Ich wollte nur noch weg von Paris.“

In Frankreich werben die ländlichen Gebiete um die Menschen

Da stieß Edvige auf eine Internetmeldung: Das Departement Nièvre offerierte umzugswilligen Städtern eine Woche Aufenthalt, damit sie vor Ort ein Haus und einen Job suchen konnten. Edvige und Christophe schrieben sich ein, ihre Kandidatur wurde aus vielen akzeptiert. Bei drei Fahrten entdeckten sie eine pittoreske Gegend und kleine Dörfer mit Natursteinhäusern und romanischen Kirchen. „Wir wussten sofort: Hier wollen wir leben!“, erinnert sich Edvige.

Stadtflucht

Auch in Deutschland boomt das Landleben. Laut einer aktuellen Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft gemeinsam mit dem Meinungsforschungsinstitut Allensbach zieht es vor allem die 30- 50-Jährigen raus aus den Städten. Dort leben zwar die meisten während Studium oder Ausbildung noch, doch sobald sie berufstätig werden und Familien gründen, ziehen viele aufs Land. Besonders die Großstädte verzeichnen einen negativen „Wanderungssaldo“: Minus 6,5 Einwohner:innen je 1000 Einwohner:innen beträgt dieser im Schnitt. In den Landkreisen ist der Saldo mit einem Plus von 10 je 1000 Einwohner:innen positiv. Dieser Trend, erhoben in der Zeit von 2017 bis 2019, deutet sich laut Allensbach auch für die Pandemie-Jahre an – sogar mit Beschleunigung.

Die Gründe sind vielfältig: Meist ist es der Wunsch nach mehr Platz, Naturnähe und Ruhe sowie nach bezahlbarem Wohnraum. Aber auch das Thema „schnelles Internet“ spiele eine große Rolle, damit Menschen bereit zum Wegzug sind. Eine Emnid-Umfrage hat ermittelt, dass mehr als die Hälfte der deutschen Stadtbevölkerung, nämlich 53 Prozent, sich vorstellen kann, in den nächsten ein oder zwei Jahren aufs Land zu ziehen. osk

Mit Unterstützung der Behörden kaufte das Pariser Paar ein kleines Anwesen. Die Renovierung erweist sich allerdings als aufwendiger als vorgesehen. Für die Bauzeit logiert die Gemeinde das Paar in der alten Post. Edvige arbeitet als freiwillige Helferin in einem Kulturverein, Christophe noch in Teilzeit in Paris. Dort regelt er momentan auch die Zukunft seiner erwachsenen Kinder, die nicht aufs Land ziehen wollen.

Frankreich: Corona lässt die Menschen umdenken

Eine Generationenfrage? „Nein, die Corona-Krise veranlasst auch junge Familien zum Umdenken ihres Lebens“, sagt Martine Gaudin, Organisatorin der Operation „eine Woche bezahlter Aufenthalt“ in der Nièvre. „Für viele Städter war die Veränderung nur ein Traum, jetzt setzen sie ihn um.“ Laut der Agentur „France Stratégie“ zeigen sich bereits Auswirkungen auf die Immobilienpreise: In Paris und seinem Ballungsgebiet sinken sie tendenziell, in Provinzstädtchen im Umkreis von zwei bis drei Stunden Fahrzeit um die Großstädte steigen sie hingegen stark an.

In Montapas hält an diesem Frühlingstag ein Citroën auf dem leeren Dorfplatz. Eine junge Frau steigt aus und wirft Annoncen in die Briefkästen: offeriert werden nahegelegene Wohnhäuser und leerstehende Bauerngüter für teilweise weniger als 100 000 Euro. „So günstig kommen Sie nirgends zu einer Bleibe, auch wenn sie renovationsbedürftig ist“, sagt Immobilienhändlerin Aline Rousseau gut gelaunt, obschon kurz angebunden: „Das Geschäft läuft, wir müssen die ganze Gegend abgrasen. Au revoir!“

Frankreich: „Die Pandemie wirkte auf viele Leute befreiend“

Den Soziologen Jean Viard wundert diese Entwicklung nicht. Die Pandemie und ihre Überwindung wirkten auf viele Leute befreiend: „Wenn man Ihnen mitteilt, dass Sie von einem Krebs geheilt sind, sagen Sie sich, dass nun ein neues, zweites Leben beginnen muss, eines, das Sie wirklich glücklich macht.“

Familie Puche wohnt jetzt in Thianges - und ist glücklich.
Familie Puche wohnt jetzt in Thianges - und ist glücklich. © Stefan Brändle

Glücklich wirkt auch die junge Familie Puche, die aus dem regnerischen Nordfrankreich in die Nièvre gezogen ist. Mutter Audrey hatte genug von ihrem Dasein als Buchhalterin und schrieb sich für die Ferienaktion „Eine Woche in der Nièvre“ ein. Das Ehepaar, beide in den Dreißigern, wohnt heute mit seinen drei Kindern im Flecken Thianges, südlich von Montapas. Alan arbeitet in einem Metallbetrieb 25 Kilometer entfernt; Audrey will zwei Nebengebäude in Gästezimmer verwandeln und vermieten. Die Kinder fahren mit dem Bus zum Schulunterricht im nächsten Dorf.

Audrey Puche bleibt realistisch, auch wenn sie begeistert ist von ihrem neuen Leben: „Ohne Arbeit und Ersparnisse sollte man sich einen solchen Schritt zweimal überlegen. Auch arbeitet man viel mit der Hand, was ein gewisses Geschick voraussetzt. Internet ist zudem unerlässlich. Und leider auch ein Auto.“ Dafür kann Audrey die Fahrzeit genau berechnen, wenn sie 30 Kilometer zum Arzt fahren muss: „Staus sind hier unbekannt.“

Nicht ohne seine Ziegen: Dominique Mocquard.
Nicht ohne seine Ziegen: Dominique Mocquard. © Stefan Brändle

Auch in Lavault-de-Frétoy kehrt sich der Abwärtstrend der Nièvre langsam um. In dem gottvergessenen Ort von 60 Seelen hat der Pariser Ingenieur Dominique Mocquard eigenhändig zwei Ställe in großzügige „gîtes“ (Unterkünfte) umgebaut. „Ich bringe 20 Leute hierher“, sagt er stolz, wobei er freimütig bekennt, sein Erfolg bewirke bei den Einheimischen neidische Kommentare hinter vorgehaltener Hand. Egal, sagt er: „Meine Gäste aus der Hauptstadt und zunehmend aus dem Ausland entdecken eine wenig bekannte, authentische Gegend voller Wandermöglichkeiten.“

Mocquard, ein ehemaliger Verkäufer von Ladestationen für Elektrofahrzeuge, der selbst jahrelang mit der Pariser Metro zur Arbeit gefahren war, vermittelt die Reisenden an die umliegenden Restaurants, allesamt Geheimtipps burgundischer Küche. „Zwei Besucher waren von der Nièvre so angetan, dass sie in der Nähe selber ein Gehöft erstanden haben, um sich dort niederzulassen“, erzählt der Rentner, der noch nie in seinem Leben so aktiv gewesen sei wie heute. „Der Exodus verläuft nicht mehr vom Land in die Stadt, sondern umgekehrt. Hier in der Umgebung findet man schon keine Häuser mehr – die Pariser haben schon alles aufgekauft.“ (Stefan Brändle)

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