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„Es gefällt mir zusehends, eine etwas ältere Frau zu sein“

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Von: Dagmar Leischow

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„Das Leben ist keine Generalprobe“ – also versucht Annett Louisan im Hier und Jetzt zu leben.
„Das Leben ist keine Generalprobe“ – also versucht Annett Louisan im Hier und Jetzt zu leben. imago images © Imago

Sängerin Annett Louisan über Träume in der Lebensmitte, Religion als Fluch und Segen und den langen Weg zu sich selbst / Ein Interview von Dagmar Leischow

Eine Erkältung hat Annett Louisan gepackt. Ihre Tochter war vor ein paar Tagen krank, nun schnieft die Sängerin. Das Interview im Hotel nahe der Hamburger Außenalster hat sie trotzdem nicht abgesagt. In der Bibliothek sitzt sie in einem massiven Ledersessel. Sie trägt einen schwarzen Pullover mit der Aufschrift „Rock’n‚Roll“, dabei geht die 45-Jährige mit ihrem neuen Album „Babyblue“ in eine völlig andere Richtung. Sie hat sich musikalisch dem französischen Chanson angenähert, natürlich mit deutschen Texten. Inhaltlich kreist die Wahlhamburgerin, die als Annett Päge in Havelberg in Sachsen-Anhalt geboren wurde, um Liebe und Glauben, Leben und Tod – und das Älterwerden.

Frau Louisan, wie sehr haben französische Chansons Sie für Ihr aktuelles Album inspiriert?

Wenn ich Musik höre, lande ich immer wieder in der alten Zeit – vor allem in den Sechziger- und Siebzigerjahren. Deshalb ist meine Platte eine Hommage an diese Zeit. Ich habe das Gefühl, dass sich im deutschsprachigen Raum nach Hildegard Knef im Genre Chanson eine Lücke aufgetan hat. Diese Tradition wurde nicht mehr weitergeführt. Mir gefällt aber dieses Songwriting, die handgemachte Musik. Darum hatte ich das Bedürfnis, daran anzuknüpfen.

Was schätzen Sie besonders an französischen Künstler:innen?

Ich kann nicht alle Texte verstehen, manchmal übersetze ich einiges. Doch ich mag das Timbre, die Art des Vortrags, die Gesten – das kommt bei den Hörer:innen an, ohne dass sie die Sprache verstehen müssen. Das Französische macht auch etwas mit der Melodie, sie wird weicher. Das versuche ich auf die deutsche Sprache zu übertragen, ich möchte sie möglichst weich und zärtlich klingen lassen. Auf dem neuen Album findet sich hier und da fast schon eine Art Pathos.

Zudem schlagen Sie mit Ihrem Lied „Hallo Julia“ einen Bogen zu Leonard Cohens „Hallelujah“.

Dieses Wortspiel bot sich einfach an, das Verrückte ist aber: Die Musik knüpft im Refrain eigentlich an Rod Stewarts „Sailing“ an. Inhaltlich hat es mich gereizt, das Thema Religion einmal aufzugreifen. Ich finde, sie bringt immer noch viel Unheil über unsere Welt. Ich halte sie für hochgradig gefährlich. Dabei bin ich durchaus ein spiritueller Mensch. Ich glaube an eine höhere Instanz. Obwohl ich nicht getauft bin, habe ich angefangen, in der Bibel und im Koran zu lesen. Das ist sehr spannend.

Glauben Sie mehr an sich oder an Gott?

Ich versuche, an mich zu glauben. Genauso glaube ich allerdings, dass manches vorherbestimmt ist. Jeder von uns hat einen anderen Auftrag, wir haben alle unterschiedliche Bedürfnisse. Deswegen sollte niemand denken, nur er kenne die allgemeingültige Wahrheit. Ich tue mich mit Menschen schwer, die mir ihre Lebensart als die einzig richtige verkaufen wollen. Natürlich bemühe ich mich, andere so sein zu lassen, wie sie sind. Im Gegenzug möchte ich aber auch, dass sie mir meine Freiräume geben. Das funktioniert leider nicht immer...

Einige Religionen verheißen, nach dem Tod erwarte die Menschen das Paradies. Wie stehen Sie dazu?

Ich halte es da mit Sokrates Ausspruch: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Keiner kann mit absoluter Gewissheit sagen, was nach dem Tod wirklich passiert oder was das Leben und die Liebe bedeuten. Ich weiß nicht, ob wir wiedergeboren werden. Doch ich fühle, dass der Tod nicht das Ende sein kann. Wenn meine Tochter fragt: „Mama, was kommt nach dem Universum?“, kann ich das nicht wissenschaftlich erklären. Wo die Wissenschaft an ihre Grenzen stößt, kommt für mich Gott ins Spiel.

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Annett Louisan gelang 2004 mit ihrem Debütalbum „Bohéme“ der Durchbruch, seitdem hat die 1977 geborene Sängerin spätestens alle zwei, drei Jahre ein neues Album veröffentlicht.

Mit ihrem Album „Baby Blue“ geht sie im Herbst 2023 auf Tournee. Auftakt ist am 29. Oktober in Nürnberg, am 31. Oktober spielt sie in Frankfurt, am 28. April 2024 ist Finale in München. FR

Ihr Album endet mit dem Titel „Wenn ich einmal sterbe“. Warum beschäftigen Sie sich am Schluss mit dem Tod?

Dieses Thema hält zusehends Einzug in mein Leben. Ich merke allmählich, dass mein Körper endlich ist und ich ihn irgendwann verlassen muss. Je älter ich werde, desto mehr macht er sich bemerkbar. Er zeigt mir meine Grenzen auf. Meiner Ansicht nach ist das Älterwerden nichts für Feiglinge. Man braucht sehr viel Humor, um damit umzugehen. Das bedeutet nicht, dass ich unbedingt noch mal jung sein möchte. Ich will ehrlicher mit mir sein können, mich besser verstehen und richtig sehen. Vor allem strebe ich danach, mich so anzunehmen, wie ich bin. Das ist ein Kampf, in diesem Prozess stecke ich gerade.

Sehnen Sie sich nie danach zurück, wieder so unbeschwert und frei wie mit 20 zu sein?

Doch. Manchmal denke ich darüber nach, wie es wohl wäre, noch mal irgendwo neu anzufangen und ins Ausland zu gehen. Nur ist das nicht mehr ohne weiteres möglich. Ich kann meinem Kind so ein Nomadenleben nicht einfach zumuten, es braucht Regelmäßigkeit. Damit muss ich mich abfinden – auch wenn das nicht leicht ist und ich mich manchmal frage: Warum hab ich das nicht früher gemacht?

Vielleicht können Sie später einen Neustart wagen. Sie singen doch in dem Song „Die mittleren Jahre“ in Anlehnung an Udo Jürgens: „Mit 66 Jahren fängt das Leben an“.

Ich arbeite zumindest daraufhin, mit 66 noch rüstig zu sein und Träume zu haben. Auch in dem Alter möchte ich weiterhin meine ersten Male erleben – sofern ich körperlich und geistig fit genug sein werde. Mir wird immer bewusster, dass ich nicht weiß, wie viel Zeit mir eigentlich noch bleibt. Früher hing ich ständig in der Zukunft oder in der Vergangenheit. Nun nehme ich mir jeden Tag vor, das Jetzt zu genießen. Denn ich habe erkannt: Das Leben ist keine Generalprobe.

Haben Sie mit dieser Philosophie die Midlife-Krise umschifft?

Nein. Was mir allerdings geholfen hat: Ich habe viel über die mittleren Jahre gelesen. Zum Beispiel ein Interview mit David Bowie. Er meinte, seine mittleren Jahre seien furchtbar gewesen. Ein ständiger Kampf. Doch irgendwann fing er an, sich in seiner Haut wohlzufühlen. Danach ging es ihm besser denn je, er ist ein Grandseigneur geworden. Auch ich stelle allmählich fest, dass es mir zusehends gefällt, eine etwas ältere Frau zu sein. So etwas muss ja von innen heraus kommen, das kann man nicht erzwingen.

Was ist Ihnen heute wichtig?

Es gibt Menschen, die ihr Leben lang nichts reflektieren. Weder über ihre Kindheit noch über sich selbst oder ihr Umfeld denken sie nach. Sie verdrängen alles, sie lächeln es weg. Das konnte ich früher auch noch ein bisschen besser, jetzt funktioniert es für mich nicht mehr. Ich bewege mich auf einem schmalen Grat. Einerseits möchte ich tief gehen, andererseits darf ich mich nicht komplett in die Tiefe reißen lassen. Das ist für mich der richtige Weg.

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