„Eine Sterbeamme ist da, wenn wir diese Welt verlassen“ - Porträt eines außergewöhnlichen Berufs

Der Tod ist ein schwierig zu bewältigendes Thema – vor allem wenn er plötzlich kommt. Als Sterbeamme hilft Nicole Füngerlings, Angehörigen ihren Verlust zu verkraften. Von Andreas Boueke.
Du gehst mit der Polizei und überbringst die Nachricht eines Mordes, eines tödlichen Unfalls.“ Nicole Füngerlings schüttelt sich, als würde sie frösteln. „Daran gewöhnst du dich nie. Das rüttelt immer wieder neu auf.“ Sie ist eine von rund 600 zertifizierten Sterbeammen und Sterbegefährten in Deutschland. Meist lassen sich Frauen für diesen Beruf ausbilden. Nicole Füngerlings wird vor allem dann angefragt, wenn der Tod plötzlich und unerwartet gekommen ist. Jahrelang stand sie immer wieder in Begleitung des Polizisten Johannes Meurs vor Wohnungstüren, um eine Todesnachricht zu überbringen. Der Polizeibeamte im Ruhestand erinnert sich: „In meiner Abteilung hatten wir jedes Jahr rund hundert solcher Fälle. Immer wenn der Notarzt ankreuzt: ‚Ungeklärte Todesursache‘, ob das ein Kindstod ist, ein alter Mensch in seiner Wohnung, bei Hausunfällen, bei allen plötzlichen und unerwarteten Todesfällen kommt es zu einem polizeilichen Ermittlungsverfahren.“
Johannes Meurs war im Bereich des polizeilichen Opferschutzes tätig. Seiner Meinung nach ist es besonders dann sinnvoll, frühzeitig eine Sterbeamme in die Situation zu bringen, wenn Kinder betroffen sind. „Wir als Polizei sind nicht für alles zuständig. Aber wir können vieles anleiern. Anfangs sind wir ja oft die einzigen, die von dem Tod wissen. In dieser Phase habe ich die Möglichkeit zu entscheiden, eine Person von außen in den Prozess einzubringen.“
Im ersten Moment denken viele Eltern gar nicht daran, dass auch Geschwisterkinder von der Nachricht betroffen sind, oder andere Kinder im Umfeld der Familie eine einfühlsame Begleitung brauchen. Zu manchen Eltern eines gerade verstorbenen Kindes hat Johannes Meurs gesagt: „Ich kenne eine Sterbeamme. Von der habe ich persönlich einen guten Eindruck. Ich würde Ihnen wünschen, dass Sie da mal ein Gespräch führen.“
So bekommt Nicole Füngerlings manchmal samstags abends um zehn Uhr einen Anruf: „Dann werde ich gefragt: ‚Haben Sie gerade Zeit?‘ Weil: Feste Arbeitszeiten gibt es nicht.“

Früher war sie Erzieherin und Heilpädagogin. „Jetzt bin ich Sterbeamme. Man kann mich kontaktieren vom Zeitpunkt der Diagnose an und natürlich auch in Trauer oder wenn jemand dabei ist zu sterben.“ Häufig ist es nicht nur eine einzelne Person, die Unterstützung braucht. In manchen Fällen ist der Kreis der Betroffenen groß. „Wenn zum Beispiel in einer Schulklasse ein Stuhl leer bleibt“, sagt Johannes Meurs, „dann kann eine gute Begleitung sehr hilfreich sein. Wir als Polizei erleben immer wieder, dass die Menschen auf so eine Nachricht mit einem unfassbaren Aktionismus reagieren. Das heißt: die suchen den Tatort auf. Wenn sich jemand auf Bahnschienen suizidiert hat, dann gehen manche Leute da hin, Klassenkameraden, Mütter. Die wollen wissen: Wo war er? Sie suchen nach Gegenständen und laufen auf den Schienen rum, oder auf Autobahnen. Das sind schlechte Trauerorte.“
Immer wieder erlebt Nicole Füngerlings, wie unterschiedlich Menschen auf eine Todesnachricht reagieren. „Einmal hat mich die Ganztagsbetreuung einer Grundschule angerufen. In der Nacht zuvor war ein Erzieher an einem plötzlichen Herztod gestorben. Ich bin da hin und es kamen mir schreiende, heulende, fluchende, wütende, stumme Kinder entgegen. Da war Panik hoch zehn.“
In einer solchen Situation sind nicht nur die Kinder überfordert, sondern oft auch viele Erwachsene. Neben den Eltern können auch Kindergärtner, Lehrerinnen oder Schuldirektoren Hilfe brauchen. „Ich habe dann geschaut: Wer aus dem Team ist in der Lage, etwas zu tun? Wer traut sich, mit den Kindern nach draußen zu gehen? Wo können wir geeignete Räume für sie schaffen. Welches Kind braucht was? Es gab Kinder, die wollten Ball spielen. Dann gab es Kinder, die sagten: ‚Ich möchte reden.‘ Die Gesprächsgruppe habe ich übernommen. So haben wir kleine Inseln geschaffen, damit die Mitarbeiterinnen in diesem Schock trotzdem handlungsfähig waren, um das zu tun, was die Kinder in diesem Moment brauchten.“
„Kennen Sie das, dass Kinder sich schuldig fühlen, wenn eine Angehörige stirbt?“
Nicole Füngerlings sitzt an ihrem Schreibtisch in einem lichtdurchfluteten Büro. Hinter ihr steht ein Regal voller Akten, in denen sie viele ihrer Fälle dokumentiert hat. Das Telefon klingelt. Nicole Füngerlings hört der aufgeregten Anruferin geduldig zu, ohne selbst viel zu sagen: „Ja. – Da sind Sie richtig. – Ja. – Drei Kinder? – Und plötzlich? – Okay.“ Sie macht sich Notizen und schreibt einen Termin in ihren Kalender. „Da hat jetzt eine Freundin einer Familie angerufen. Es ist häufig so, dass die Familien so gelähmt sind, dass sie selbst gar nicht anrufen können. Dann sind sie froh, wenn andere das übernehmen.“ Am Tag zuvor ist eine Mutter von drei Kindern gestorben. Sie war an Krebs erkrankt. „Morgen Nachmittag fahre ich direkt mal hin.“
Nicole Füngerlings muss noch einen weiteren Termin für den nächsten Tag vorbereiten. Aus einem Schrank voller bunter Dinge greift sie sich eine Tasche aus Wolle. „Ich bin für zwei Unterrichtsstunden eingeladen worden. Dafür muss ich noch packen.“ Diesmal geht es nicht um den Tod eines Mitschülers, sondern um die Lerneinheit „Tod, Sterben und Auferstehung“ im Religionsunterricht. „Wenn ich zu einem solchen Gespräch in einen Klassenraum komme, dann gestalte ich mit einigen Dingen eine bunte Mitte. Mal schauen: Was haben wir denn hier? Eine Kerze. Einen Totenkopf, den nehme ich mit. Ein Leichentuch.“
Die Schulglocke läutet. Lärmende Jugendliche kommen in den Klassenraum. Doch sobald Nicole Füngerlings das Wort ergreift, wird es still: „Ich hab‘ mich riesig gefreut, dass ich hier sein darf. Ich komme nämlich selbst aus der Pädagogik. Aber im Jahr 2007 hat der Tod innerhalb kürzester Zeit ziemlich oft bei unserer Familie angeklopft. Damals hatte ich keine Angst, sondern eher Neugierde. Ich wollte wissen: Gibt es etwas nach dem Tod? Warum sterben die Menschen so jung? Wie ist das mit Reihenfolge, warum hält sich der Tod da nicht dran? Dann bin ich auf ein Ausbildungsangebot gestoßen, eine Sterbeammenakademie. Sterbeamme ist quasi das Gegenstück zur Hebamme. Die Hebamme ist da, wenn wir auf die Welt kommen, und die Sterbeamme ist da, wenn Menschen sterben.“
Es folgen Schilderungen aus dem beruflichen Alltag einer Sterbeamme, von plötzlichem Kindstod und Suizid, von Angst, Schock und Hoffnung. Die Jugendlichen hören aufmerksam zu. Nicole Füngerlings freut sich über Fragen und Kommentare. Die 14-jährige Sara erzählt: „Eine Freundin unserer Familie war sehr lange krank. Die hatte zwei Kinder. Kennen Sie das, dass Kinder sich schuldig fühlen, wenn eine Angehörige stirbt?“ Ja, das kennt Nicole Füngerlings: „Einmal hatte ich einen Jungen in der Beratung, dessen Vater war totkrank. Der Sohn war sich sicher: ‚Ich weiß, warum mein Vater Krebs gekriegt hat. Weil ich ihn enttäuscht habe. Er wollte einen klugen Sohn, aber ich war nie gut in der Schule.‘ Dieser Junge hat sich schuldig gefühlt. Was glaubt Ihr denn? Wer ist verantwortlich für den Tod? Gibt es da jemanden?“ Ein Junge antwortet: „Am meisten du selbst.“ Seine Klassenkameradin widerspricht: „Niemand. Für den Tod kannst du niemanden verantwortlich machen.“

Am Ende der beiden Unterrichtsstunden gibt es einen Applaus für die Sterbeamme. Die 15-jährige Charlotte fand den Besuch sehr interessant: „Im normalen Unterricht kann man zu diesem Thema nicht so viel erfahren. Es war toll, einen Profi fragen zu können. Ich habe viel gelernt, und wenn ich eines Tages mal so eine Situation erlebe, dann komme ich vielleicht etwas besser damit klar.“
Mit dem Tod eines geliebten Menschen konfrontiert zu sein, ist immer schwierig, meint Nicole Füngerlings. Vor allem dann, wenn Eltern von dem Tod ihres Kindes erfahren. Die Bandbreite der Reaktionen ist groß: Erstarren, Fassungslosigkeit, Schreien, Wut, Wüten. Eine Sterbeamme weiß nie, was sie erwartet. „Eines aber ist sicher“, sagt Nicole Füngerlings. „Es ist immer ein Schock, wenn jemand aus dem Nichts gesagt bekommt, dass ein lieber Mensch tot aufgefunden worden ist.“
Das kann der pensionierte Polizist Johannes Meurs bestätigen. „Und dann sind natürlich Menschen wie Frau Füngerlings Gold wert, die nicht zuerst nach Geld fragen, sondern sagen: ‚Ja, ich bin erst mal da.‘“
Wer sich als Sterbeamme selbstständig machen und davon leben will, braucht ein großes Netzwerk. Dazu gehören Jugendämter, Familienzentren, Kirchengemeinden, karitative Organisationen und eine ordentliche Portion Gottvertrauen: „Ich hatte da nie Zweifel“, sagt Nicole Füngerlings. „Ich weiß, ich bekomme das bezahlt.“
Manche Behörden lassen sich darauf ein, eine Begleitung im Nachhinein zu finanzieren. Johannes Meurs hat schon einige Sachbearbeiter mit dem Argument überzeugt: „Wenn es keine schnelle Betreuung gibt, dann werden die Betroffenen noch krank oder machen allen möglichen Unsinn, mit dem die Behörden dann nachher zu tun haben.“
Auch Nicole Füngerlings sieht in der Prävention einen wichtigen Teil ihrer Arbeit: „Wenn wir frühzeitig in einer Familien drin sind, in der es zu einem plötzlichen Todesfall gekommen ist, dann können wir viel Schlimmes vermeiden. Wir verhindern den Einstieg in übermäßigen Alkoholkonsum, Drogenmissbrauch, Bulimie, eine Depression.“
Am nächsten Tag trifft sich Nicole Füngerlings mit der elfjährigen Mia. Das Mädchen kommt seit zwei Jahren in die Beratung. Mias Mutter hatte einen Hirntumor und ist nach einer Operation in ein Wachkoma gefallen. Vier Tage vor dem Beratungstermin ist sie gestorben.
„Früher war ich oft traurig. Aber seit ich zu Nicole komme, spüre ich das nicht mehr so. “
Mia kommt in Begleitung ihrer Großmutter. Sie sprechen darüber, wie das Mädchen von dem Tod ihrer Mutter erfahren hat, und wie sie sich jetzt damit fühlt. Die Sterbeamme schlägt vor, eine Kerze für die Tote zu dekorieren. Mia ist einverstanden. „Früher war ich oft traurig“, sagt sie. „Im Krankenhaus konnte ich meine Mutter nur manchmal sehen. Aber seit ich zu Nicole komme, spüre ich das nicht mehr so. Wir haben ganz viel darüber gesprochen.“ Nicole Füngerlings arbeitet besonders gerne mit Kindern, „weil die meist Lust haben, etwas Kreatives zu machen.“
Mia möchte etwas Selbstgebasteltes in den Sarg legen. Die Großmutter ist froh und dankbar für die Unterstützung der Sterbeamme: „Der Papa wollte erst nicht. Der hat gesagt: ‚Wir brauchen keinen Psychiater.‘ Ich habe trotzdem einen Termin mit Nicole gemacht. Er ist dann doch mitgekommen und war schon nach dem ersten Treffen sehr einverstanden. Nicole ist immer da, wenn es nicht gut geht. Vom ersten Tag an hat Mia gesagt, dass sie öfter kommen will. Und jetzt, da meine Tochter wirklich gestorben ist, merken wir, wie gut sie mit der Nachricht umgeht. Sie hat sogar ihren Papa getröstet. Jetzt trägt die Begleitung Früchte.“
Am Abend steht Nicole Füngerlings in ihrer Küche und schneidet Gemüse. Eine große Holztür geht auf. Janne betritt den Raum, der jüngste ihrer drei Söhne. Er macht eine Ausbildung als Maurer, der Beruf seines Großvaters. „Wenn man von der Arbeit nach Hause kommt, dann spricht man darüber, was man so gemacht hat. Auch meine Mutter erzählt von ihrer Arbeit. Wenn sie zum Beispiel einen schlimmen Sterbefall hatte und das geht ihr nah, dann muss sie auch mal mit uns darüber reden.“ Nicole nickt: „Dann wird hier ganz offen über den Tod gesprochen. Ich finde auch cool, wie die Freunde meiner Kinder damit umgehen. Häufig wollen die noch mehr wissen und stellen viele Fragen. So entstehen viele schöne Gespräche.“
Aber so richtig hat sich Janne noch nicht daran gewöhnt, am Essenstisch über Tod und Sterben zu sprechen. „Wenn die Mama erzählt, was die täglich erlebt, dann ist das oft schon krass. Meine Freunde, die irgendwie Stress zu Hause haben, sehen in ihr eine Vertrauensperson. Sogar Freunde, die nicht so oft hier sind, sprechen mit ihr über solche Sachen. Die kann das einfach.“
Nicole Füngerlings hat ein Ziel: „Ich möchte dazu beitragen, den Tod wieder in die Gesellschaft hineinzuholen. Ihm diesen Schrecken zu nehmen, dieses Unheimliche. Es ist gut, wenn wir über ihn reden, ohne Angst.“