Ein aufgewühltes Land

In Chile legen streikende Lastwagenfahrer das öffentliche Leben lahm – und schon jetzt löst die bevorstehende Abstimmung über die Verfassung gewaltsame Proteste aus. Warum sich 50 Jahre nach Salvador Allende in Chile wieder Unruhe breit macht.
Wenn Cecilia Quidel dieser Tage die Abendnachrichten schaut, dann krampft sich ihr der Magen zusammen. Denn wenn wieder mal über die Streiks der Lastwagenfahrer und Fuhrunternehmer im Süden des Landes berichtet wird, muss die chilenische Lehrerin an den Oktober 1972 denken. Damals legte ein fast einmonatiger Streik der „camioneros“ das Land lahm – unterstützt vom US-Auslandsgeheimdienst CIA. Dieser Streik war der Anfang vom Ende der „Unidad Popular“, der linken Volksfront-Regierung um Präsident Salvador Allende. Und in diesen politisch wieder unruhigen Septembertagen denken in Chile nicht nur Menschen wie Cecilia Quidel an die Wahl Allendes zurück, die sich am 4. September zum 50. Mal jährte.
„Es ist wie ein Déjá vu“, sagt Quidel, die damals acht Jahre alt war. Sie kann sich sehr genau erinnern an den Niedergang des demokratisch gewählten sozialistischen Experiments in ihrem Land, das nur drei Jahre und sieben Tage währte. Dann wurden Allende und seine Volksfrontregierung gewaltsam gestürzt. Es folgten 17 Jahre grausame Diktatur.
Die Gründe für den damaligen Streik der Lastwagenfahrer sind mit denen von heute zwar nicht zu vergleichen, das weiß auch Cecilia Quidel. Heute protestieren die Fuhrunternehmer gegen Angriffe auf ihre Fahrzeuge, für die sie die Mapuche-Ureinwohner im Süden Chiles verantwortlich machen. Vor rund einem halben Jahrhundert ging es darum, den Sturz des ersten demokratischen sozialistischen Experiments der Welt am Südzipfel Südamerikas voranzutreiben. „Aber heute wie damals war es das Ziel, das Land zu destabilisieren“, sagt Cecilia Quidel.
Damals ging es Salvador Allende im Wesentlichen darum, die Rechte der Arbeiterklasse zu stärken. Damals waren rechts und links klar abgegrenzt, was heute längst nicht mehr so ist. Das Ziel der aktuellen klassenübergreifenden Massenproteste, die im Oktober 2019 begannen, sei hingegen die Abschaffung eines „zutiefst neoliberalen Gesellschaftsmodells“, sagt Jorge Saavedra Utman, der zu sozialen Bewegungen forscht. Das wiederum sei mittelbar ein Erbe der Allende-Zeit, betont der chilenische Professor, der an der britischen Cambridge-Universität lehrt, im Gespräch mit der „Frankfurter Rundschau“.
Daher gebe es weit mehr Parallelen zwischen dem Chile des Jahres 2020 und dem Chile aus dem Jahr 1970 als den Streik der Lastwagenfahrer und Fuhrunternehmer, sagt Saavedra: „Die Menschen wollen die sozialen Errungenschaften zurück, die aus der Allende-Zeit stammen und die ihnen in der Diktatur wieder genommen wurden.“ Die Kritik richte sich vor allem gegen die aktuelle Verfassung, die aus den Jahren der Gewaltherrschaft stammt, und die „das neoliberale Modell implementiert hat und den Staat nur noch als subsidiären Akteur sieht, der alle Dienstleistungen und Vorsorgefunktionen an den Markt und an Private abgegeben hat“. Heute wie damals gibt es die Forderung in der Bevölkerung, als „politisches Subjekt“ wahrgenommen zu werden, betont Saavedra. „Vor allem derjenigen, deren Rechte immer mit Füßen getreten wurden.“ Und so offenbart sich, dass Chile, das in den vergangenen Jahren als wirtschaftlich erfolgreiches Vorzeigeland Lateinamerikas galt, heute wie damals ein sozial aufgewühltes und tief zerrissenes Land ist.
Vor diesem Hintergrund gibt es gerade dieser Tage viel Nostalgie: Chilenische Medien bereiten die Wahl des charismatischen Arztes Allende vor 50 Jahren auf, analysieren die gesellschaftlichen Umstände und die Bedingungen des Scheiterns drei Jahre später. Auf den aktuellen Demonstrationen gegen die Regierung von Präsident Sebastian Piñera sieht man aber kaum noch Referenzen an die „Unidad Popular“. Die meisten der zumeist jungen Protestierenden waren noch nicht geboren, als das sozialistische Experiment schon wieder Geschichte war. Hier und da wehen Fahnen mit dem Emblem der „Sozialistischen Partei“, der Allende angehörte, und Banner mit seinem Konterfei.
Dabei hat das, was am 4. September 1970 geschah, Chile und ganz Lateinamerika nachhaltig verändert. Salvador Allende gewann damals im vierten Anlauf die Wahl um das so lang ersehnte Präsidentenamt. Chile, ein Land mit langer demokratischer Tradition, erlebte seinerzeit seit vielen Jahren soziale Spannungen. Arbeiter und Bauern forderten tiefgreifende Verbesserungen ihrer Situation. Diese Forderungen waren das Fundament für Allendes Triumph.
Hintergrund
Salvador Allende gewann am 4. September 1970 die Wahl zum chilenischen Präsidenten. Allende und seine „Unidad Popular“ hatten das Ziel, in Chile einen Sozialismus zu installieren, der den ärmeren und den Menschen auf dem Land mehr Rechte einräumen und ihnen ein besseres Leben ermöglichen sollte. Nur drei Jahre später, am 11. September 1973, musste Allende nach einem von Augusto Pinochet angeführten Militärputsch zurücktreten. Allende beging Suizid, noch während der Umsturz im Gange war.
Die Wahl war in jeder Hinsicht historisch: Erstmals überhaupt schaffte es ein Politiker auf demokratischem Wege ins Präsidentenamt, der den friedlichen Umbau von Staat und Gesellschaft zum Sozialismus versprach. Allende und seine „Unidad Popular“ (UP), eine breite „Volksfront“ aus Parteien und Bewegungen, hatten sich auf die Fahnen geschrieben, für die Rechte der Unterschicht zu kämpfen. Besonders in den USA empfand man den Sieg der UP als Bedrohung. Gut zehn Jahre nach dem Sieg der kubanischen Revolution am 1. Januar 1959 machte sich wieder ein Land Lateinamerikas auf den Weg in den Sozialismus. Aber die US-Regierung um Präsident Richard Nixon war entschlossen, im selbst erklärten „Hinterhof“ Washingtons kein zweites Kuba zu dulden.
Am Wahlabend schien dies alles Lichtjahre entfernt. Als der Sieg Allendes feststand, strömten 200 000 Menschen ins Zentrum von Santiago de Chile, um seine Antrittsrede zu verfolgen. Ein Moment, der das ganze Land elektrisierte. „Geht mit der Freude über diesen sauberen Sieg, den wir heute errungen haben, in Ruhe nach Hause“, rief Allende den Menschen zu. Dass „schwere Zeiten“ bevorstünden, war dem designierten Präsidenten schon da klar: „Aber wir werden unser Land jeden Tag ein Stück gerechter machen.“

„Es war zumindest am Anfang eine Zeit großer Freude und Aufbruchsstimmung“, erinnert sich Cecilia Quidel, deren Vater kommunistischer Gewerkschaftsführer war. „Es waren Zeiten ökonomischen Wohlstands, vor allem für arme Familien wie uns.“ Zudem hätten die Menschen ihr Interesse für Politik entdeckt und sich an Entscheidungsprozessen beteiligt, unterstreicht Quidel im Gespräch. „Aber sehr schnell schon geriet alles in Gefahr“.
Niemals zuvor sei „das Volk selbst so sehr Protagonist seines eigenen Schicksals gewesen wie unter Allende“, schreibt etwa der Historiker Mario Garcés. „Aber zugleich wurde das Volk auch nie zuvor als eine größere Bedrohung für die traditionellen sozialen Gruppen wahrgenommen“, analysiert der Professor an der „Universidad de Chile“.
Allende und die UP machten sich zügig ans Werk, den kapitalistischen Staat abzubauen. Im Zentrum standen die Vertiefung der bereits von den Vorgängerregierungen eingeleiteten Agrarreform sowie die Verstaatlichung von Fabriken und ganzer Industrien. Vor allem der Kupfersektor – damals wie heute Chiles Lebensader – galt als entscheidend. Weniger als ein Jahr nach Allendes Wahl wurde der Sektor im Juni 1971 enteignet, was vor allem zu Lasten von US-Bergbauunternehmen ging. Ferner steckte Allende Geld in den öffentlichen Gesundheitssektor, er fror die Preise für Grundnahrungsmittel ein und erhöhte die Löhne der Arbeiter. Jedes Kind erhielt das Recht auf einen halben Liter Milch täglich. Die Vorschulbildung wurde geschaffen und der Zugang zur Universität verbreitert.
Schon früh musste der Staatschef gegen Widerstände an vielen Fronten kämpfen. Die USA versuchten von Anfang an, seine Regierung mithilfe des CIA zu destabilisieren. Auch die Sowjetunion blickte auf den „chilenischen Weg zum Sozialismus“ zunehmend kritisch. Als die „Unidad Popular“ wirtschaftlich immer weiter in Bedrängnis geriet, ließen die Machthaber Allende bei einem Besuch in Moskau auflaufen. Zudem drängten die radikalen Kräfte innerhalb der UP auf revolutionärere Umbrüche. So steckte Allende wirtschaftlich und politisch in vielen Zwickmühlen.

Denn die hohen Sozialausgaben rissen ein tiefes Loch in den Staatshaushalt, die Inflation stieg stark an. Eine Versorgungskrise war Folge der Enteignungen, aber vor allem Ergebnis von Sabotage und des Streiks der Trucker im Oktober 1972. Später folgten Ausstände des Einzelhandels und der Ärzte. In den Monaten vor dem Putsch hätten sich die politische Rechte des Landes und weite Teile der Wirtschaft darauf verständigt, das „Chile Allendes unregierbar“ zu machen, sagt Historiker Garcés. „Der Sturz der Regierung sollte so zum einen als unausweichlich verkauft werden und zum anderen eine möglichst breite soziale Unterstützung in der Bevölkerung bekommen.“
Während der spätere Diktator Augusto Pinochet am 11. September 1973 den Präsidentenpalast „La Moneda“ bombardieren ließ, richtete Allende kurz vor seinem Tod letzte Worte an die Chilenen: „Die sozialen Prozesse lassen sich nicht durch Verbrechen und Gewalt aufhalten.“
An diese Worte müssen die Lehrerin Quidel und Hunderttausende anderer Chilenen dieser Tage wieder denken. Denn in sechs Wochen, am 25. Oktober, ist das Volk dazu aufgerufen, sich für oder gegen die aktuelle Verfassung zu entscheiden. „Dann haben wir die Chance, dieses Grundgesetz aus Pinochet-Zeiten endlich loszuwerden“, sagt Cecilia Quidel. „Und eine neue Verfassung kann dann Errungenschaften aufnehmen, für die schon Allende und seine Unidad Popular gekämpft haben.“