Die wollen nur rollen

Auch wenn Zugvogel-Romantik zwischenzeitlich nicht so angesagt war: Interrail steht bis heute für weite Welt und Abenteuer. Vor 50 Jahren wurden die ersten Tickets verkauft.
Nein, früher war nicht alles besser. Aber manches war eben weniger kompliziert. Zum Beispiel: Europa erkunden mit dem Interrail-Ticket. Einen Monat kreuz und quer durch Deutschland, Italien, Spanien oder Frankreich, alles mit einer Fahrkarte, zu der es noch eine Art Reise-Heftchen dazu gab, in den die Etappen eingetragen werden konnten. Eine Art Impfpass für Abenteuerreisende.
Kleines Budget, große Tour
Interrail war Anfang der Siebzigerjahre für junge Menschen die Möglichkeit, auch mit wenig Geld viel zu sehen. Meist ging es Richtung Süden, weil dort auch mit kleinem Budget große Sprünge möglich waren. Wer eine etwas üppigere Reisekasse hatte, fuhr auch schon mal Richtung Norden. Um dann in Norwegen oder Schweden zerknirscht festzustellen, dass dort selbst Jugendherbergen so teuer waren, dass einem – wollte man nicht am nächsten Tag schon wieder in den Süden fahren müssen – nur die Wahl blieb zwischen draußen schlafen oder in den Nachtzug von Oslo nach Bergen zu steigen, um dort wenigstens für ein paar Stunden die Augen zuzumachen.
Günstiger als das Interrail-Ticket, das im März 1972 auf den Markt gebracht wurde, war lange Zeit eigentlich nur das Trampen. Während aber heute nur noch wenige per Anhalter durchs doch ziemlich gewachsene Europa reisen (in Italien und Spanien ist Trampen ohnehin nicht erlaubt), erlebt das EU-Pauschalticket für Zugvögel eine Art Renaissance.
Die resultiert aber nicht nur aus dem in den letzten Jahren gewachsenen Bewusstsein fürs Klima, das bei nicht wenigen dazu geführt hat, dass sie jetzt lieber mit der Bahn nach München fahren als übers Wochenende nach Florenz zu fliegen. Einen Anteil daran hat auch die Einsicht in den Planungsabteilungen mancher Bahnkonzerne, dass man Angebote wie den Nachtzug nach Paris oder eben das Interrail-Ticket nicht in die Nische schieben oder gleich ganz streichen sollte, nur weil die Nachfrage mal ein, zwei Jahre ein bisschen geringer ausfällt.
Die Angebote: Interrail hat sich verändert. Vor 50 Jahren für Reisende unter 21 Jahren entwickelt, gibt es heute Pässe für alle Altersgruppen. Es wird vor allem zwischen dem Global Pass, der in 33 EU-Ländern gültig ist, und den „One Country Passes“ unterschieden, die für jeweils ein Land gelten.
Dass Interrail überhaupt zum Inbegriff des Kreuz-und-quer-Reisens werden konnte, haben sämtliche Generationen reiselustiger junger Menschen einer Werbeaktion zum 50. Jubiläum des Internationalen Eisenbahnverbands zu verdanken. Insgesamt 87 000 Tickets wurden im März 1972 von den beteiligten Bahngesellschaften verkauft, und wer unter 21 war, konnte noch Anfang der Achtzigerjahre für rund 400 Mark einen Monat durch ganz Europa fahren, mit jedem Zug zu jeder Zeit, und – so versprachen es die Werbeplakate der Bahn über viele Jahre – immer mit der Aussicht auf nette Bekanntschaften mit anderen Reisenden und unvergesslichen Besuchen in Europas Metropolen.
„Wow“ ist alle Theorie
Die Verheißung vom Abenteuer auf Schienen hörte sich natürlich auch vor 40 Jahren in der Theorie geschmeidiger an als im Angesicht rumänischer Schaffner (siehe Text unten links) oder dem erschrockenen Blick der besten Freundin, als sie ihr Portemonnaie aus dem Rucksack holen will und klar wird, dass man den netten Typen gestern vielleicht doch nicht allein im Abteil hätte lassen sollen.
Aber, auch wenn es mal knirschte, der Zug im Nirgendwo strandete, und die mit einem Lächeln begonnene Reise unter Tränen endete – Interrail war bis Mitte der Neunzigerjahre für junge Menschen die günstigste Art, zu reisen. Um 1990 herum wurden jährlich rund 400 000 Tickets verkauft, ein Trend, der allmählich nachließ, weil immer mehr Menschen es nicht mehr einsahen, 300 Euro für ein Zugticket zu zahlen, wenn sie fürs gleiche Geld nach Asien fliegen konnten. Wo sie dann mit weniger Budget doppelt so lange bleiben konnten als etwa in Lissabon oder London.
Aber das Tief scheint überstanden, was zum einen an den inzwischen wieder deutlich attraktiveren Angeboten liegen könnte (siehe Infokasten), aber auch an der gestiegenen Nachfrage. Auch der Nachfrage jener Generation, die zu den Pionieren des Interrail-Reisens gehörte und heute, entweder schon längst im Ruhestand oder kurz davor, wieder ein bisschen Zugluft von damals atmen, ein bisschen wie früher reisen will, Aber, eben nur ein bisschen.
Statt großem Rucksack darf es heute das kleine Gepäck sein, statt Ravioli aus der Dose gern ein schöner Tisch im Restaurant mit regionalen Spezialitäten, und statt der Nacht im Schlafsack im Gepäckabteil bucht man für die Nacht lieber ein Zimmer in Bahnhofsnähe. Mit Frühstück. Und das Interrail-Ticket ist heute selbstverständlich erste Klasse. Wie gesagt: Auch wenn es früher toll war, es war nicht alles besser.