Der Umsattler

Seinen Bürojob hat er aufgegeben, um Rekorde zu knacken. Im Moment macht Jonas Deichmann einen Triathlon um die Welt. Heißt in Zahlen: 21 600 Kilometer Radfahren, 5040 Kilometer Joggen und 456 Kilometer Schwimmen
Es ist ein paar Monate her, da wäre Jonas Deichmann fast ertrunken: „Die Strömung packte mich“, erinnert er sich. Kurz vor Feierabend war das, wenn man so will. Der 33-Jährige war seit sechs Stunden in der Adria unterwegs, immer an der Küste entlang, das Floß mit seinen Habseligkeiten glitt wie gewohnt an einem Seil hinterher. Noch eine Stunde, dann wollte er am Ufer das Zelt aufschlagen.
Es war die erste Etappe seines Triathlons um die Welt, auf dem sich der Extremsportler derzeit befindet, 40 000 Kilometer, eine 120-fache Iron-Man-Distanz. Von München nach München durch Europa, Asien, Amerika. Gerade schwamm er auf dem 450 Kilometer langen Streckenabschnitt zwischen Kroatien und Montenegro. Insgesamt fast zwei Monate lang, bis zu zehn Stunden täglich. „Ich merkte plötzlich, wie ich aufs Meer hinaustreibe, da wurde mir echt anders.“ Deichmann versuchte, ruhig zu bleiben. Zug um Zug, Minute um Minute arbeitete er sich aus dem Sog heraus. Minuten wurden zu Stunden. Es war dunkel, kalt und spät, als er an Land kroch und sich auf den Sand fallen ließ.
Es war nicht die erste gefährliche Situation, der Deichmann ausgesetzt war, seit er 2017 seinen Beruf als Vertriebler aufgegeben hat, um sich die Welt anzusehen. Nach seinem Studium hatte er zunächst bei einer IT-Firma in München begonnen. Dass er dort nicht alt werden würde, war ihm immer klar. „Ich habe schon im Studium gemerkt, dass ich nicht in der Heimat leben muss, um Geld zu verdienen. Das reizte mich.“ Der langfristige Plan: Als Angestellter Erfahrungen sammeln, Geld sparen, eine Firma gründen und sie von einer Insel aus lenken.
Nun lenkt er sie vom Sattel aus, denn der gebürtige Baden-Württemberger beschloss, Extremsportler und Abenteurer zu werden. 2017 begann er, an den Feierabenden zu trainieren, dann brach er auf, um von Portugal nach Russland zu fahren. Nach 64 Tagen würde er der erste Mensch in der Geschichte werden, der die gesamte Landmasse Eurasiens mit dem Rad durchquert hat. Das Jubeln an der Ziellinie in Wladiwostok noch im Erinnerung, reichte er in München die Kündigung ein.
Seitdem ist Deichmann auf Rekorde spezialisiert, und seine Wege führen nicht mehr durch Bürogänge, sondern vorbei an Zebras, Elefanten, durch kristallklares Wasser, zu Menschen. In sozialen Medien und auf seiner Seite können Fans und Sponsoren seine Abenteuer mitverfolgen, dort postet der Bursche aus dem Nordschwarzwald regelmäßig Bilder. Zu sehen ist er meist auf seinem Rad, mal Serpentinen hinaufkeuchend, mal von oben als winziger Punkt auf der Landstraße, irgendwo in der skandinavischen Unendlichkeit. Man sieht ihn mit Eiskristallen im Bart, mit beschlagener Schutzbrille, ausgestreckt in der Mittagshitze, mit Kamelen im Hintergrund oder im Neoprenanzug.
Seit er beruflich umsattelte, hat Deichmann mehrere Weltrekorde geknackt: Nach der Durchquerung Eurasiens fuhr er in 97 Tagen von Alaska nach Argentinien und war damit Schnellster auf der längsten Landverbindung der Erde. Vom Nordkap zum Kap der Guten Hoffnung schaffte er es auf dem Rad in 72 Tagen – einen Monat schneller als der vorherige Rekordhalter. Unterwegs schläft er im Zelt, in verlassenen Hallen, Schuppen oder auf überdachten Veranden. Er hat sein Fahrrad und Minimalgepäck bei sich. „Ich glaube, die meisten Menschen wissen gar nicht, wie wenig es braucht, um glücklich zu sein“, sagt er.
zur person
Jonas Deichmann, 33, ist in Grunbach und Pforzheim im Nordschwarzwald aufgewachsen. Er hat einen Bachelor of International Business und einen Masterabschluss an der Business School Copenhagen. Seit 2018 ist er mit seiner Firma Jonas Deichmann Adventures als Extremsportler selbstständig.
Seit dem 26. September 2020 ist Deichmann auf seinem Triathlon 360° unterwegs und will dabei in 40 000 Kilometern um die Welt. Das heißt: 21 600 Kilometer Radfahren, 5040 Kilometer Laufen und 456 Kilometer Schwimmen.
Im Herbst 2020 ist Jonas Deichmanns Buch „Cape to Cape“ erschienen, das über seine Tour vom Nordkap zum Kap der Guten Hoffnung berichtet. Mehr Infos unter:
https://jonasdeichmann.com
„Hier draußen spüre ich die Elemente; nicht immer eins mit der Natur, doch immer in der Natur.“ Zugleich beschönigt der Extremsportler nichts: „Unterwegs ist es mitunter hart, sehr hart.“ Rund 240 Kilometer gilt es täglich auf dem Rad zurückzulegen. Mal bläst ihm der Wind so stark ins Gesicht, dass es ihn ausbremse und er sein Tagespensum nicht schaffe. „Manchmal erscheinen die Gebirge einfach noch steiler als auf der Karte, und mit jedem Tritt in die Pedale spüre ich dann, wie die Energie aus meinem Körper weicht. Dann wiederum will die Wüste einfach nicht aufhören, und das Wasser wird knapp.“
Aber es sind genau diese Erfahrungen, die für ihn den Reiz ausmachen, ihn von seinem Bürostuhl weg, rauf auf den Sattel gezogen haben. „Nur hier draußen verlasse ich meine Komfortzone, lerne, mit den Dingen umzugehen. In einem Nine-to-five-Job wäre ich unterfordert, unterwegs fühle ich mich lebendiger.“ Und spätestens seit er seinen zweiten Weltrekord geknackt hat, kann er von den Abenteuern leben, kooperiert mit Sponsoren, verkauft Lizenzen an Kamerateams, die ihn begleiten.
Doch meistens ist Deichmann alleine unterwegs, stellt sich den Herausforderungen „unsupported“, ohne Hilfsteam. So etwa in Äthiopien, als ihn eine Gruppe Kinder angriff, ihm hinterherrannte und ihn mit Steinen bewarf. „Bei so etwas sind Radreisende schon getötet worden, das passiert immer wieder, keiner weiß warum.“ Erst als ihm ein paar Einheimische zur Hilfe eilten, ließen die Kinder von ihm ab.
Ebenfalls in Äthopien radelte der Deutsche mitten in die Straßenkämpfe einer Kleinstadt hinein: Autos brannten, ein Mann ging unter den Hieben einer Horde Stockschwinger zu Boden. Vermutlich habe es der Angegriffene nicht überlebt, sagt Deichmann. Er selbst verschanzte sich in einem Hotel und überlebte. An jenem Tag kamen damals rund 100 Menschen um. Ein anderes Mal wurde Deichmann Zeuge, wie nachts ein Löwe den Wachhund fraß. „Ein Mordsgebrüll! Das war in Botswana an einer Polizeistation.“ Eigentlich habe er draußen schlafen wollen. „Gut, dass ich mich abends für einen Schuppen entschieden hatte.“
Auf solche Ereignisse kann sich Deichmann nicht vorbereiten, auf andere schon. Vor dem Start seines weltumspannenden Triathlons strampelte er in der Klimakammer der Deutschen Bahn bei minus 25 Grad auf einem aufgebockten Rad. Sonst werden dort Züge unter Extrembedingungen geprüft, er wollte seine Ausrüstung testen, denn aufgrund der Corona-Beschränkungen musste er eine Route über Sibirien wählen.
Zu allen Herausforderungen kommen derzeit die Auswirkungen der Pandemie hinzu: Eigentlich wollte er mit einem Segelboot nach Amerika übersetzen, denn das Motto der Challenge lautet: „Einmal ohne Flugzeug um die ganze Welt“. Da Schiffe aber derzeit keine Passagiere mitnehmen, musste Deichmann fliegen. „Die Alternative wäre gewesen, nach Deutschland zurückzukehren und das Projekt abzubrechen.“
Jetzt joggt er durch Mexiko. Und den Flug wird er durch eine Spende kompensieren. Das hat er versprochen.


